Einrichtungen werden durch Menschen und ihre Gedanken gemacht

Quelle: GA 056, S. 240-244, 2. Ausgabe 1985, 12.03.1908, Berlin

Nicht kann es das Amt der Geisteswissenschaft sein, etwa die Reaktion zu predigen, um die alten Verhältnisse wieder herzustellen oder Dinge zu verhindern, welche sich im Menschheitsfortschritt entwickelt haben, und die notwendigerweise kommen mußten. Nicht haben wir zu kritisieren, was notwendig geschehen mußte. Wir haben uns aber klarzumachen, daß es in dem Menschen liegt und von dem Menschen abhängt, aus ihrer geistigen Arbeit heraus für das Heil des Menschen und für den Menschheitsfortschritt aussichtsvoll zu arbeiten.

Nun werden viele sagen: Aber wir sehen doch in unserer Umgebung genügend Menschen, die gut vorbereitet sind, um nachzudenken über die soziale Frage, nachzudenken darüber, was geschehen soll. - Nun, es gibt einen gewissen Unterschied, der sehr gewaltig ist, zwischen dem, was die Geisteswissenschaft zu sagen hat, und dem, was die allgemeine Zeitstimmung ist. Diese allgemeine Zeitstimmung könnte man in allgemeinen Ausdrücken vor die Seele rücken. Die, welche studiert haben, sagen: Ihr Theosophen predigt, daß die Menschen besser werden sollen, daß sie Liebe entwickeln sollen und so weiter. Nun, mit solchen Kindereien von Menschenseelenentwickelung, von Menschen-Reifmachen für ein besseres Leben und zum Heil des Menschen, mit solchem befassen wir uns nicht, sondern wir wissen, daß nicht die Menschen, sondern daß es die Verhältnisse sind, auf die es ankommt. - So sagen viele, nicht bloß Professoren, sondern auch Leute an den grünen Tischen des Sozialismus. Was dort verkündigt wird, ist ebenso hochmütig wie das, was von den anderen grünen Tischen verbreitet wird. Überall wird gepredigt: Bessert die Verhältnisse, und dann kommt es schon, daß die Menschen sich bessern. - Man kann sie das deklamieren hören, die ganz gescheiten Leute, die immer wieder auftreten.

Ich könnte Ihnen viele Beispiele aus dem unmittelbaren Leben aufzählen. Nur drei Schritte von hier aus brauchte ich zu machen, und ich würde hindeuten können auf einen Punkt, wo einmal einer stand, der [von der Theosophie] sagte: Das sind törichte Ideen! Es kommt darauf an, daß die Verhältnisse gebessert werden. Wenn man ihnen bessere Lebensbedingungen gibt, dann werden die Menschen ganz von selber besser. - Dieses Lied hören wir in bezug auf die heutigen Berufs- und Erwerbsverhältnisse in allen Variationen immer wieder singen. Wenn etwas nicht stimmt, denkt man nicht, daß es an den Menschen liegt, sondern dann heißt es, man müsse ein neues Gesetz machen, damit die Verhältnisse anders werden. Und wenn etwas auf einem Gebiete nicht richtig ist, so reden sie, man müsse die unreife Menge, die, welche kein richtiges Urteil haben, schützen gegen die, welche sie auf diesem oder jenem Gebiete ausbeuten wollen. Wenn das zum Beispiel gegenüber irgendwelchen Heilsmethoden gesagt wird, dann möchte man doch fragen: Liegt es nicht näher und wäre es nicht selbstverständlicher zu sagen, daß es Pflicht ist derjenigen, welche in die Dinge hineinsehen, die Menschen aufzuklären, so daß sie sich aus eigenem Urteil an die wenden, an die sie sich wenden sollen? Nicht um die Verhältnisse kann es sich handeln, sondern einzig um die Entwicklung der Menschenseele.

Tief liegt in unserem Zeitdenken dieser Materialismus, der aus der atomistischen Denkweise herausgeholt und übertragen worden ist auf die sozialen Verhältnisse. Viele diskutieren über solche Sachen, doch führt das Diskutieren nur zu endlosen Debatten. Wer das Geheimnis der Diskutierkunst kennt, der weiß, daß sich über die Bedeutung des Menschen mit endlosem Für und Wider reden läßt. Es handelt sich aber nicht nur darum, daß man endlose Gründe für das Für und Wider anführen kann, sondern auch darum, daß man das Gewicht der Gründe empfindet. Ein Mensch, der berufen war, auf diesem Gebiete ein Urteil zu fällen, weil er ein genialer Mensch war, das ist der Engländer Robert Owen. Er war genial dadurch, daß er die Menschen glücklich machen wollte, aber auch dadurch, daß er ein warmes Herz hatte für das soziale Elend. Ihm ist es gelungen, geradezu eine Musterkolonie anzulegen. Da hat er Schönes erreicht. Er hat die Sache so klug gemacht, daß er zwischen die arbeitsamen Menschen, die durch ihr Beispiel wirken konnten, hingestellt hat diejenigen, welche trunksüchtig und so weiter waren. Es hat dadurch manches gute Resultat gegeben. Das hat ihn dann ermuntert, eine andere Kolonie zu gründen. Wiederum hat er es so gemacht, daß er gewisse Ideale verwirklichen wollte, die ihn erfüllten. Aber nach einiger Zeit war die Entwickelung in der Kolonie so, daß er sehen mußte, daß diejenigen, die nicht in ihrer Anlage Fleiß und Arbeitsamkeit hatten, zu Parasiten der Kolonie wurden. Da sagte er sich: Nein, - und es war wie ein Bekenntnis: Mit den allgemeinen Einrichtungen muß man warten, bis die Menschen, wie er selbst, in theoretischer Beziehung auf eine gewisse Höhe gebracht sind. Nur durch die Umgestaltung der Menschenseele kann Heil und Fortschritt kommen, niemals durch bloße Einrichtungen. - Das hat ein Mann gesagt, der es sagen durfte, weil er von der vom warmen Herzen eingegebenen Auffassung ausgegangen und von der Erfahrung belehrt worden ist. Von solchen Tatsachen sollte man lernen, nicht von abstrakten Theorien. Aber was gibt ein inneres und lebensfähiges Denken auf diesem Gebiete? Ein genaues und lebensfähiges Denken auf diesem Gebiete zeigt uns, daß alle Einrichtungen, die drücken und schrecklich werden können für die Menschen, gemacht sind von Menschen. Es entstehen menschliche Einrichtungen, die die Ursache werden von Not und Elend, nur dadurch, daß sie zuerst von Menschen gemacht werden. Derjenige, der die Dinge wirklich durchschauen will, versuche einmal, den geschichtlichen Verlauf zu studieren, zu studieren, wie heute die Menschen zusammenleben, wie der eine so, der andere so gestellt ist im Leben. Wer hat sie dahin gestellt? Nicht unbestimmte soziale Mächte, sondern menschliche Gedanken, menschliche Empfindungen und menschliche Willensimpulse. Wir müssen den Satz schon einmal hinstellen: Der Mensch kann leiden nur durch den Menschen. Alles andere Leiden kommt sozial eigentlich nicht in Betracht.

Nicht zu verlangen ist es, daß der Geisteswissenschafter sich als Kritiker über die historischen Notwendigkeiten aufstellen soll. Es ist nötig, sich klarzuwerden, daß die Verhältnisse durch Menschen geschaffen werden und daß, wenn sie geschaffen sind, Elend einzig und allein durch falsche Gedanken in diese Verhältnisse hineingebracht wird. Es ist nicht schwer einzusehen, daß ein kurzes Denken, ein Denken, das keine Ahnung hat von den großen, gewaltigen Weltenzusammenhängen, keine Einrichtungen schaffen kann, die Glück und Heil in die Menschheit bringen können. Mit dem Satze, daß man selbstlos sein soll, daß man die Menschen lieben soll, ist es so, wie wenn Sie zu einem Ofen sagen: Du bist ein Ofen, sei lieb und warm; es ist deine moralische Pflicht, das Zimmer zu wärmen. - Es wird nicht warm werden! Aber wenn Sie einheizen, wird es warm! Predigen von allgemeiner Menschenliebe, das ist etwas, was man mit Selbstverständlichkeit in die Welt setzen kann. Aber das praktische Handhaben, dasjenige, was sie befähigt, in der Außenwelt so gestaltend einzugreifen, daß Heil und Segen für die Menschheit daraus erwachsen, das hängt ab von der Beziehung vom Menschen zum Menschen.

Eine materialistische Zeit wird in dem Menschen nur dasjenige sehen, was man mit den Händen greifen, mit Augen wahrnehmen kann. Der Mensch ist aber mehr als das. Er ist ein geistiges, seelisches und physisches Wesen. Und alles, was den Menschen Heil und Segen bringen kann, kann nur daraus hervorgehen, daß man die gesamte menschliche Wesenheit berücksichtigt, namentlich in den komplizierten und immer komplizierter werdenden Verhältnissen der Gegenwart und Zukunft.