Die sozialen Verhältnisse machen wir!

Quelle: BGA 088, S. 019-020, 1. Ausgabe 1985, 26.10.1905

Unsere Nationalökonomen und unsere Sozialtheoretiker sagen so oft heute: Der Mensch ist nur das Produkt der äußeren Verhältnisse. Der Mensch ist so geworden, weil er in diesen oder jenen äußeren Verhältnissen lebt. So spricht zum Beispiel die Sozialdemokratie im Ernst davon, daß der Mensch so wird, wie seine Umgebung ihn macht, daß er, weil er durch die ganze industrielle Entwicklung zum proletarischen Arbeiter geworden ist, auch der Seele nach so ist, wie er eben durch diese Verhältnisse geworden ist. Der Mensch ist ein Produkt der Verhältnisse. Das können wir oftmals hören. Studieren wir die Verhältnisse selbst, betrachten wir, was um uns herum ist, wovon wir am meisten abhängig sind. Sind wir abhängig von der bloßen Natur? Nein! Wir merken erst, wovon wir abhängig sind, wenn wir als Hungernde vor dem Bäckerladen stehen und nichts in der Tasche haben, um uns etwas zu kaufen.

Alle diese Verhältnisse sind wieder von Menschen gemacht und bewirkt. Der durch die Geschichte sich entwickelnde Geist hat diese Verhältnisse herbeigeführt. Was heute ist, haben die Menschen manchmal vor kurzer Zeit erst aus Sorge um ihr Heil erdacht; das haben sie erst hineingelegt. So bewegt sich derjenige, der meint, daß die Menschen von den Verhältnissen abhängig sind, in einem Kreisschluß, denn die Verhältnisse sind von den Menschen herbeigeführt. Wenn wir uns das vergegenwärtigen, so müssen wir uns sagen: Es kommt nicht auf die Verhältnisse an, sondern wir müssen darauf sehen, wie die Verhältnisse geworden sind. Es ist müßig zu konstatieren und zu sagen, der Mensch ist von seinen Verhältnissen abhängig. Der Mensch wird auch in fünfzig Jahren abhängig sein von den Verhältnissen, die ihn umgeben. Sie können es jedem Sozialdemokraten zugeben, daß der Mensch abhängig ist von den Verhältnissen, aber von denen, die wir heute machen, die aus unserem Gemüt, aus unserer Seele hervorgehen. Die sozialen Verhältnisse machen wir! Und das, was dann leben wird, das sind die kristallisierten Empfindungen und Gefühle, die wir heute in die Welt hinaussetzen.

Das zeigt uns, um was es sich handelt: daß man die Gesetze kennenlernen muß, unter denen sich die Welt entwickelt. Nicht Wissenschaft kann es sein, um was es sich da handelt, sondern es kann nur sein Intuition, die Erkenntnis dessen, was wir hineinlegen müssen als Gesetz. Dies kommt gerade aus einer Betrachtung, die aber den meisten ganz phantastisch erscheint, die aber viel klarer und objektiver ist, als vieles von der phantastischen Phantasie unserer Wissenschaftler. Wer sagen kann, was in der Seele lebt und was heraustritt aus der Seele und dann draußen sich kristallisiert, der kann auch, aus der Weisheit des Göttlichen in der Seele, dasjenige sagen, was einer in der Welt ausstreuen kann, und was der Menschheit frommt.

Wollen Sie in der Zukunft solche Verhältnisse um sich herum haben, wollen Sie das als Einrichtung, als Institution haben, was die Menschen befriedigt, von dem die Menschen werden sagen können, das ist es, unter solchen Verhältnissen wollen wir leben, dann müssen Sie zuerst Menschlichkeit hineingießen in diese Verhältnisse, damit Menschlichkeit aus ihnen wieder herausströmt. Die tiefste Menschlichkeit, das tiefste Seelen-Innere muß erst von unserem eigenen Herzen hinausströmen in die Welt. Dann wird die Welt ein Abbild der Seele sein, und in dieser Seele wird ein Abbild der Welt sein. Die wird die Menschen wieder befriedigen können. Deshalb kann sich der Mensch nichts versprechen von all den Kurpfuschereien auf dem sozialen Gebiet, die gemacht werden aus der Betrachtung der äußeren Verhältnisse. Diese äußeren Verhältnisse werden von Menschen gemacht; sie sind nichts anderes als die herausgeströmten menschlichen Seelen. Was zunächst zu bearbeiten ist, was wir zunächst als soziale Frage anzufassen haben, das sind die Seelen von heute, die die Umgebung von morgen schaffen. Sie können es sehen, wie von der Seele bessere Verhältnisse in die Umgebung strömen, wenn Sie es nur studieren wollen. Ich habe es immer wieder hören müssen von Sozial-Politikern: Macht die Verhältnisse besser, und die Menschen werden besser werden. Möchten diese doch nur studieren, was einzelne Sekten, die abgeschieden von der Weltentwicklung sich entfalten, als Seelenkultur treiben, möchten sie studieren, was die zur Gestaltung der äußeren Verhältnisse beitragen. Wenn der Mensch einsehen wird, daß die Verbesserung der Verhältnisse von ihm abhängt, wenn er theosophische Erkenntnisse erlangt haben wird, und wenn er erkannt haben wird den ersten Grundsatz: den Kern einer allgemeinen Bruderschaft zu bilden und ihn in uns sebst herauszubilden als soziale Empfindung für die Umwelt, dann ist das Soziale möglich und man ist vorbereitet für das, was in der nächsten Zeit geschehen soll.