Die soziale Frage und die Theosophie

Quelle: BGA 088, S. 011-025, 1. Ausgabe 1985, 26.10.1905

Die soziale Frage, die uns heute beschäftigen soll, ist, wie ohne weiteres für jeden klar sein wird, nicht aus einer bloßen Idee oder aus dem zweifellosen Bedürfnis einzelner weniger Menschen heraus entstanden, sondern sie ist eine Frage, die uns heute so stark und klar wie nur irgend möglich die Tatsachen stellen. Wer sich nur ein wenig umsieht in der Welt, der wird wissen, welch deutliche Sprache diese Tatsachen sprechen. Es könnte wohl sein, daß derjenige, der diese Sprache der Tatsachen nicht hören will, in nicht zu ferner Zeit herausbekommen könnte, daß er zu lange gegenüber dem, was notwendigerweise vorliegt, sein Ohr verschlossen hat. In dem Kampfe, der sich zuweilen noch unter der Oberfläche unserer gesellschaftlichen Ordnung abspielt, steht der Mensch der Gegenwart in bezug auf die soziale Frage darinnen. Wer nun einigermaßen genau sagen will, wie der soziale Kampf an Ausdehnung und Gewalt zugenommen hat, der braucht nicht weiter auf das Äußere einzugehen, der braucht nur aufmerksam zu machen auf die gewaltige Arbeiterbewegung anläßlich der Crimmitschauer Arbeitseinstellungen, auf den Bergarbeiterstreik anläßlich der Elektrizitäts-Arbeiter-Aussperrungen und als Zusammenfassung dessen auf das, was sich im Osten Europas zuträgt. In all dem werden wir ein Ausleben der sozialen Frage zu sehen haben.

Oft hat man der Theosophie zum Vorwurf gemacht, daß sie eine Anzahl von Träumern unter ihren Anhängern hat, daß sie nur dort versucht zu wirken, wo man sich zurückzieht von den großen gemeinsamen Fragen der Gegenwart, wo man in müßiger Betrachtung der menschlichen Seele verharren will, so daß man sagt: Theosophen sind einige Leute, die nichts Besonderes zu tun haben, die sich in egoistischer Weise in ihr Selbst zurückziehen und es pflegen wollen im Sinne der Theosophie. Man macht ihr leicht den Vorwurf, daß sie abseits stehen will von den großen Kämpfen der Gegenwart, von dem, was die Menschheit in der unmittelbaren Jetztzeit berührt. Dies sollte der Theosoph immer und immer wieder berichtigen. Er sollte immer wieder darauf aufmerksam machen, daß überall da, wo es etwas zu erforschen und zu denken gibt, in bezug auf berechtigte Angelegenheiten der Menschen in der Gegenwart, der Theosoph da sein muß, daß er ein klares Herz und ein klares Denken haben muß, daß er sich nicht verlieren darf in ein Wolkenkuckuksheim, sondern in dem unmittelbaren Alltag helfend und sorgend darinnen stehen muß.

Und der andere Vorwurf könnte auch leicht gemacht werden, daß für alle Übel und Schäden der Gegenwart von uns die Theosophie wie ein Allheilmittel angepriesen wird. Auch das verhält sich anders. Es wird zwar behauptet, daß die Theosophie, die theosophische Bewegung, etwas zu tun hat mit alledem, was in der Gegenwart sich vorbereiten muß für eine gedeihliche Zukunft, aber nicht wie eine Meisterung, nicht wie ein Allheilmittel preisen wir die Theosophie an, sondern wir wollen nur zeigen, daß mit ihr etwas so Umfassendes gegeben ist, daß man ohne sie heute in den allerwesentlichsten Dingen, die uns beschäftigen müssen, nicht vorwärts kommen kann, und daß alles Spekulieren und Reformieren nur eine Halbheit bleiben muß, wenn der Mensch nicht mit der theosophischen Anschauung an die Sache herantritt. Nicht darum beschäftigen uns in den inneren Kreisen unserer theosophischen Bewegung die Lehren der Denker über die großen umfassenden Weltenzusammenhänge, über das universelle Gesetz vom Weltenschicksal und vom Weltgeschehen, damit wir in müßiger Weise aufschauen können zu Sternenweiten, sondern weil wir wissen, daß diese Gesetze, die wir studieren, und die im großen Weltall tätig sind, auch tätig sind im Menschenherzen, in der Seele und dieser Seele sogar die Fähigkeit geben, wirklich in das unmittelbare Leben hineinzuschauen. Wir sind so wie ein Ingenieur, der sich jahrelang zurückzieht in sein technisches Studium, aber nicht um Betrachtungen anzustellen über die Geheimnisse der Infinitesimalrechnung und um diese zu bewundern, sondern wir suchen die Gesetze, die wir dann auf das Menschenleben anwenden, wie der Ingenieur Brücken baut und seine Gesetze in der Wirklichkeit anwendet.

Es gibt etwas Allgemeines, was übergreifend ist und was uns einen weiteren Horizont eröffnet. Wer würde es wagen, das Denken als solches als ein universelles Heilmittel auszugeben, obwohl dieses Denken notwendig ist für das, was im Weltall geschehen kann? Die Theosophie ist keine tote Sache, keine tote Theorie. Nein, sie ist etwas Leben-Weckendes. Nicht um die Begriffe, nicht um die Ideen, die wir uns aneignen, handelt es sich. Was hier erzählt wird, hat nicht die Absicht, durch die Ideen als solche zu wirken, nicht die Absicht, interessante Dinge über verborgene Tatsachen zu entwickeln, sondern was hier der menschlichen Seele vorgeführt wird, hat eine ganz besondere Eigenschaft. Wer noch nicht Theosoph ist, der mag dies glauben oder nicht glauben. Wer sich aber damit beschäftigt hat, der weiß, daß das, was ich sagen werde, praktisch richtig ist. Wer sich beschäftigt damit, in welcher Weise in der Theosophie die Welt und das Leben betrachtet wird, der wird bemerken, daß sein Sinnes- und sein Seelenleben anders werden, als sie vorher waren; der lernt in einer anderen Weise denken und wird in unbefangenerer Weise als vorher die menschlichen Verhältnisse beobachten.

Eine entferntere Zukunft haben wir im Auge, wenn wir davon sprechen, daß wir durch die innere Entwicklung höhere Kräfte erwecken. Aber für die nähere Zukunft haben wir auch noch im Auge das Leben, das wir durch die theosophische Entwicklung herbeiführen können: Das ist die Möglichkeit, zu einer umfassenden, klaren und unbefangenen Beurteilung der uns unmittelbar umgebenden Menschheitsverhältnisse zu kommen. Unsere Kultur mit all ihrer Wissenschaftlichkeit, wie sie sich bisher entwickelt hat, hat Theorien gezeitigt, die dem Leben gegenüber ohnmächtig sind. Die theosophische Weltanschauung wird nicht solche ohnmächtigen Theorien zeitigen. Sie wird die Menschheit ein Denken lehren, denkende Kräfte in der Menschheit erwecken, welche nicht ohnmächtig der Wirklichkeit gegenüber sind, sondern uns befähigen werden, in die Menschheitsentwicklung selbst einzugreifen, einzugreifen in die unmittelbare Lebenspraxis.

Lassen Sie mich ein kleines Symptom anführen, das noch mehr verdeutlichen wird, was ich sagen will. Vor kurzem ist ein klares Beispiel auf politischem Feld von einem preußischen Regierungsrat geliefert worden, der auf Urlaub gegangen war, um in Amerika Arbeit zu suchen, um da mitzumachen und die Verhältnisse kennenzulernen. Ein Regierungsrat ist doch dazu berufen, in der Menschheitsentwicklung mitzuwirken. Es ist - in höherem Sinne aufgefaßt - seine Pflicht und Schuldigkeit, daß in seinem Herzen etwas lebt, was den Verhältnissen und nicht bloß den Theorien entspricht. Und wenn er nicht etwas hat, das stimmt mit den Verhältnissen, dann ist seine Theorie ohnmächtig. jener Mann, der jahrelang vorher berufen war, am Menschheitsbau mitzuwirken, er hat den Menschheitsbau selbst einmal kennengelernt. Selbstverständlich schließt das, was ich sage, nicht den geringsten Vorwurf gegen den einzelnen Mann ein. Im höchsten Grade ehrenwert und kühn ist diese Tat und bewunderungswürdig. Aber für das, was nottut, ist das, was er geschrieben hat, ein Symptom. Es zeigt die Unstimmigkeit seiner Gesinnung gegenüber der Welt und den Arbeitern. Hier nur ein paar Worte aus seinem Buch «Als Arbeiter in Amerika» [4. Auflage, Berlin 190 5, S - 311: «Wie oft hatte ich früher, wenn ich einen gesunden Mann betteln sah, mit moralischer Entrüstung gefragt: Warum arbeitet der Lump nicht? jetzt wußte ich's. In der Theorie sieht sich's eben anders an als in der Praxis und selbst mit den unerfreulichsten Kategorien der Nationalökonomie hantiert sich's am Studiertisch ganz erträglich.»

Es gibt kein größeres Armutszeugnis als dieses, wenn einer, der berufen war mitzuwirken, sagt, daß die Theorie, die er hatte, nicht mit den Verhältnissen übereinstimmte. Hier ist der Punkt, um die Sache anzufassen. Wie die Logik die Menschen befähigt, überhaupt zu denken, und wie niemand Mathematiker werden kann, ohne die Logik zu handhaben, so kann niemand ohne die Theosophie die Kraft des praktischen Denkens entwickeln. Sehen Sie die Nationalökonomie an, die unseren Bildungsmarkt überwuchert. Machen Sie sich einmal daran, mit gesundem und umfassendem Denken, theosophischem Denken, die Dinge zu erforschen, dann finden Sie, daß die Dinge, die berufen sind, Wegweiser zu sein, die vielleicht herrühren von Universitätsprofessoren, Parteiführern, graue Theorien sind, die geeignet sind zur bequemeren Handhabung der Dinge am Studiertisch, aber nichts vermögen, wenn man der Wirklichkeit gegenübertritt. Solche Dinge zeigen sich zum Beispiel bei den Kongressen. Man muß nur näher hinsehen. Die Kongresse tragen ganz diesen Charakter. Wenn diejenigen, die sich damit beschäftigen, hinuntersteigen wollten in das praktische Leben, so würden sie schon finden, daß sie nichts taugen. Das bloße Anschauen des Lebens macht es nicht. Weder kann einer über die Frauenfrage oder über die soziale Frage oder über andere Fragen urteilen, der vom Standpunkte der in der Gegenwart gebräuchlichen Bildung urteilt, noch kann derjenige darüber urteilen, der die Dinge nur anschauen will, denn damit ist es auch nicht getan.

Wenn Sie jetzt diesen Herrn, der diese Worte geschrieben hat, fragen würden: Was kann nun zur Besserung führen? - dann werden Sie feststellen, daß er nur gelernt hat wie es aussieht, aber wie es gemacht werden soll, daß ist noch eine ganz andere Frage. Das ist aber auch keine Frage, die in einer Stunde, auch nicht in einem Tag beantwortet werden kann. Überhaupt läßt sie sich nicht durch theoretische Erörterungen beantworten. Kein Theosoph, der dieses Namens würdig ist, wird Ihnen sagen: ich habe dieses Programm, in der sozialen Frage, in der Frauenfrage, in der Vivisektionsfrage oder in der Pflege der Tiere und so weiter, sondern er wird sagen: bringe Menschen, die Theosophen sind, in alle diese Fragen betreffenden Institutionen hinein. Setze solche Menschen auf Lehrstühle der Nationalökonomie, dann werden sie die Fähigkeit haben, das Denken zu entwickeln, welches dazu führen wird, die einzelnen Zweige ihrer Tätigkeit zu Wegweisern auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens zu machen. Solange das nicht der Fall ist, so lange werden die Menschen Kurpfuscher auf diesem Gebiete sein und werden sehen müssen, wie die Welt um sie herum zusammenbricht, und wie sich das müßige Herumreden auf Kongressen in seiner Nutzlosigkeit zeigt.

Dieses sage ich nicht aus einem Fanatismus heraus, sondern aus demjenigen, was in jedem Theosophen wirkliche theosophische Gesinnung, wirkliches theosophisches Denken ist. Theosophisches Denken entwickelt eine Klarheit über die verschiedenen Lebensgebiete, eine klare, sachliche Anschauung der in der Welt wirkenden Kräfte und Mächte. Die Sache richtig anzuschauen, dazu wird man fähig durch das theosophische Leben. Deshalb ist die Theosophie nicht im gewöhnlichen Sinne ein Allheilmittel, sondern sie ist die Grundlage des gegenwärtigen Lebens.

Nach diesen einleitenden Worten lassen Sie uns einige Hinweise geben auf das, was unserer sozialen Frage, wie wir sie jetzt durch die Tatsachen auftauchen sehen, das Gepräge gegeben hat. Derjenige, der sehen will, was werden soll, der muß die Gesetze des Werdens kennen, der darf nicht graue Theorien haben, der muß die Gesetze des Werdens der Menschheit kennen. Diese Gesetze können wir nicht durch irgendeine abstrakte Wissenschaft finden. Die Theosophie geht nicht abstrakt vor. Sie geht aus von einem klaren, anschaulichen Denken.

Und so lassen Sie uns wenigstens mit ein paar Worten hinweisen darauf, wie sich dieses Leben heute gestaltet hat, wie dieses Leben heute geworden ist. Wer genauer auf das Leben sieht, der wird erkennen, daß etwas Selbsterkenntnis auch auf diesen Gebieten dazu gehört, um klar zu sehen. Zunächst schildere ich die äußeren Tatsachen, dann sage ich einiges über dasjenige, um was es sich eigentlich handelt.

Jeder von uns weiß, was der Mensch zum Leben braucht. Jeder hat eine Vorstellung davon, was er zum Essen und an Kleidung braucht. Einige Zahlen sagen uns, wieviel die Mehrzahl der Menschen zu alledem haben. Wir brauchen ja nur die Steuersysteme in dieser Beziehung einmal zu befragen. Es ist oft und oft gesagt worden, aber man kann es sich wieder und immer wieder vor die Augen führen. In Preußen bezahlt derjenige, der ein Einkommen unter 900 Mark hat, keine Steuern. Man kann sehr leicht kontrollieren, wieviel Menschen in Preußen weniger als 800 oder 900 Mark an Einkommen haben. Es sind 21 Millionen Menschen. 95 Prozent der gesamten Bevölkerung haben weniger als 3000 Mark Einkommen. Nehmen Sie England. Es wird da nur besteuert, wer mehr als 150 Pfund an Einkommen hat. [ ... ] Sie sehen, wir haben ganz außerordentliche Zahlen, die davon sprechen, wie viele Menschen das haben, was man als unumgänglich nötig haben müßte.

Sehen Sie die Statistik an. Diese spricht eine deutliche Sprache. Was aber hat das mit unserer Selbsterkenntnis zu tun? Sehr viel. Denn es handelt sich darum, den richtigen Standpunkt unseres Selbst zu diesen Tatsachen zu gewinnen. Und in dieser Beziehung läßt es der Mensch sehr an dem Richtigen fehlen. Was machen die Menschen rings um uns her? Wodurch bekommen sie dieses niedrige Einkommen? Das ist dasjenige, was wir ihnen geben für das, was sie für uns schaffen. Wir machen jetzt gar keinen Unterschied zwischen Arbeiter und Nichtarbeiter, zwischen Proletarier und Nichtproletarier. Denn, wenn man diesen Unterschied macht, dann ist die Sache schon ganz falsch. Und das ist der Fehler aller nationalökonomischen Betrachtungen, daß man nicht von der Selbsterkenntnis, sondern von der Theorie ausgeht.

[Die nachfolgenden Sätze der Nachschrift weisen einige Unstimmigkeiten auf, so daß sich der ursprüngliche Wortlaut nicht mehr rekonstruieren läßt. Dem Sinne nach hat Rudolf Steiner wohl ausgeführt, daß jeder Mensch von den Produkten, z. B. Kleidern, die ein anderer hergestellt hat, lebt. Auch für einen Arbeitslosen, dessen Mittel zum Lebensunterhalt unzureichend sind, werden Produkte hergestellt. Auch die Näherin, die für einen Hungerlohn arbeitet, trägt die Kleider, die wiederum für einen Hungerlohn hergestellt worden sind. - Man vergleiche hierzu die Abschnitte über das Problem der Ausbeutung in Rudolf Steiners im selben Jahr geschriebenen Aufsatz «Geisteswissenschaft und soziale Frage», in «Luzifer-Gnosis. Gesammelte Aufsätze 1903-1908», GA Bibl.-Nr.34, S.204ff.]

Und wenn wir in unseren Gefühlen und Empfindungen einen gewissen Schmerz zu empfinden vermögen darüber, daß die Kleider, die wir anhaben, für einen Hungerlohn hergestellt sind, dann sehen wir der Frage tief ins Herz hinein. Wenn Sie bei alledem, was Sie im Leben an Kleidung tragen und als Nahrung zum Munde führen, sich überlegen, woher das kommt, dann erst werden Sie die soziale Frage in ihrer Tiefe erfassen. Nicht durch Spekulation, sondern durch lebendige Betrachtung kommt man dazu einzusehen, um was es sich handelt.

Es ist nicht richtig wenn gesagt wird, daß das Elend, obwohl wir es in den schlimmsten Farben schildern können, heute größer wäre als es in früheren Jahrhunderten war. Das ist nicht der Fall. Wir würden entschieden eine Verfälschung der objektiven Wirklichkeit begehen. Versuchen Sie einmal, objektiv die Verhältnisse in der Stadt Köln von heute und vor 120 Jahren zu studieren. Sie werden sehen, daß vieles doch besser geworden ist. Und dennoch haben wir die soziale Frage. Wir haben sie, weil die Menschen noch eine andere Entwicklung durchgemacht haben, und zwar deshalb, weil sie innerlich in großem Maße zum Denken, zum Selbstbewußtsein gekommen sind und weil ihre Bedürfnisse ganz andere geworden sind. Und da werden wir, wenn wir die Frage so studieren, allerdings notwendig hingewiesen auf die großen Zusammenhänge, die dann für uns in der Weltgeschichte entstehen, wenn wir nicht, wie der moderne Forscher, zu kurzsichtig sind. Um diese Dinge zu beurteilen, ist es nötig, die großen Gesetze des Lebens kennenzulernen. Was bewirkt nun, daß das Soziale überhaupt diese Gestalt angenommen hat? Das ist die Art und Weise, die der menschliche Geist angenommen hat. Blicken Sie zurück auf die Zeit der Französischen Revolution. Anderes hat man dazumal gefordert. Eine mehr nach dem juristischen hinzielende Frage war es, die das Ideal von «Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit» hervorgebracht hat. Nach Freiheit riefen die französischen Revolutionshelden im Westen Europas. Nach Brot rufen die im Osten Europas heute Kämpfenden. Es sind nur zwei verschiedene Gestalten einer und derselben Sache, zwei verschiedene Forderungen des Menschen, der gelernt hat, solche Fragen zu stellen, weil sich seine Seele gewandelt hat.

Diese Wandlung der Seele müssen wir etwas näher studieren. Wir müssen studieren und verstehen, warum die Seelen der großen Menschenmassen heute - und dieses dehnt sich über Jahrhunderte aus - zu diesen Forderungen gekommen sind. Hier tritt zuerst in praktischer Anwendung, unser Verständnis unterstützend, die theosophische Weltanschauung ein. Nur derjenige, der die Dinge versteht, vermag sie zu beurteilen. Nur der vermag in die Seele hineinzuschauen, der im großem Weltzusammenhange sieht, was in dieser Seele vorgeht. Und nur der vermag in den Seelen etwas zu bewirken und zu leiten in die Zukunft, der von den Gesetzen der Seele etwas versteht.

Eine kleine Zwischenbemerkung: Die Wissenschaften der Gegenwart, die Biologie, der Darwinismus, der Haeckelianismus, sie haben uns große Ideen gebracht. So auch die Idee, daß jegliches Lebewesen auf den ersten Stufen seines Daseins, im Keimzustande noch, die Lebensformen wiederholt, die vorher draußen in der Natur durchgemacht worden sind. Diese kurze Wiederholung der verschiedenen Lebensstadien gibt es auch in dem Wesen, das sie alle zusammenfaßt, und auf der Stufenleiter der Entwicklung höher steigt als alle anderen: im Menschen. Nehmen Sie an, ein Geist hätte ein Bewußtsein gehabt in der Zeit, als es noch keine Menschen gab, dann hätte er nicht nur wissen müssen, was schon geschehen war, sondern er hätte sich auch - im Gegensatz dazu - ein Bild machen müssen von der zukünftigen Entwicklung. Er hätte sich aus dem damaligen Tierzustande ein Bild für die Zukunft machen müssen. Nur der Mensch, der in seiner Keimanlage die vorhergehenden Gestaltungen wiederholt, kann uns zeigen, was zu tun ist. Das Tun ist es, was über alles Wissen hinausgehen muß. Kein Wissen beschäftigt sich mit etwas anderem, als mit dem, was da war. Wollen wir aber in die Zukunft hinein wirken, so müssen wir das tun, was noch nicht da war. Das zeigen uns die großen Gesetze, die in der Zukunft verwirklicht werden sollen. In einer gewissen Weise ist alles schon dagewesen, was in der Zukunft entstehen wird, nämlich durch die Intuition. Ein Geist, der damals eingegriffen hätte, hätte Intuition haben müssen, um die verborgenen Gesetze des Daseins, die für die Vergangenheit und die Zukunft gelten, herausfinden zu können. Deshalb pflegt die Theosophie die Intuition. Das ist das, was hinausreicht über die bloße physische Erfahrung der Welt. Die Theosophie sucht die Gesetze, die durch Intuition zu erkennen sind, und die uns hinleiten in die Zukunft des Menschengeschlechtes.

Eines dieser großen Weltgesetze, das uns Führer sein kann, ist das Gesetz der Reinkarnation. Zunächst macht es uns verständlich, daß auf höheren geistigen Gebieten nichts anderes gilt als das, was das Gesetz im Sinne Darwins und Haeckels angedeutet hat. Es macht uns begreiflich, warum dieses oder jenes in einem bestimmten Zeitalter als Bedürfnis empfunden wird. Wer sich da hinein vertieft, der weiß, wann das letzte Mal das nach allgemeiner Befreiung dürstende Leben vorhanden war, wann und was die Menschen in sich aufgenommen haben als Impulse, wonach sie heute rufen sollen. Die, welche heute nach Freiheit und Gleichheit rufen - ich sage das mit derselben objektiven Sicherheit, mit der der Naturwissenschaftler über das Physische gesprochen hat -, alle diejenigen Seelen, die heute nach Freiheit und Gleichheit rufen, haben das gelernt auf einer anderen Stufe ihres Daseins, in einer früheren Verkörperung. Die großen Bedürfnisse der heutigen Menschen waren in der ersten Zeit des Christentums, in der Zeit der ersten christlichen Jahrhunderte, verkörpert. Die Menschen haben alle den Drang nach Gleichheit, vor dem heute der Mensch im geistigen Leben steht, aufgenommen. Das Christentum hat die Botschaft der Gleichheit vor Gott gebracht. In früheren Jahrhunderten gab es eine solche Gleichheit nicht.

Was ich jetzt sage, das sage ich nicht in abträglicher Art, das sage ich mit derselben nüchternen Objektivität, mit der ich über irgendein naturwissenschaftliches Problem sprechen würde. Dieselbe Seele, die einstmals in sich aufgenommen hat als einen Impuls «gleich sind sie vor Gott und vor der Menschheit», wenn man ihre eigentliche Seele betrachtet, und alles, was äußerliche Ungleichheit bedingt, hat keine Bedeutung vor dem geistigen Leben. Wenn die Grube sich über uns schließt, werden wir alle gleich sein und gleich werden. Daß das die Seele aufgenommen hat, lebt in der Seele fort und kommt heraus in einer neuen Form. Die Betrachtung der großen Welt hat gewaltig große Erziehungs-Perspektiven in ihren Kulturfortschritten. Schon einmal habe ich darauf aufmerksam gemacht, wie sich diese Erziehung auf der Erde ausnimmt in den vorchristlichen Zeiten. Sehen wir zurück in die Zeiten des Ägyptertums. Da war eine großen Anzahl von Menschen, die mit Arbeiten beschäftigt war, von deren Schwierigkeit sich heute ein Mensch keine Vorstellung mehr machen kann. Willig arbeiteten sie. Und warum? Weil sie wußten, daß dieses Leben eines unter vielen ist. jeder sagte sich: Derjenige, der mir die Arbeit befiehlt, ist ein solcher wie derjenige, der ich auch einstmals sein werde. Dieses Leben muß in verschiedenen Verkörperungen ausgeglichen werden, denn es regelt sich aus diesen Erkenntnissen.

Daran schließt sich das Gesetz vom Karma an. Was ich in einem Leben erlebt habe, ist verdient, oder es wird mir in späteren Zeiten vergolten. Hätte sich das aber so fortentwickelt, dann hätte der Mensch das Erdenreich übersehen. Es wäre ihm dieses eine Leben zwischen Geburt und Tod nicht wichtig gewesen. Dazu hat dann das Christentum die Erziehungsmaßnahmen gegeben, um dieses Leben zwischen Geburt und Tod wichtig zu nehmen. Es ist nur scheinbar, wenn das Christentum davon abzweigt, denn es hat auch stark auf das jenseits hingewiesen. Es hat sogar auf das eine Leben ewige Strafe und ewige Belohnung gesetzt. Wer glaubt, daß das eine Leben von unendlicher Wichtigkeit ist, der lernt es in diesem Leben wichtig zu nehmen. Es dreht sich um die Wahrheiten, die dem Menschen frommen, und es frommt dem Menschen, in der Idee dieses einen Erdenlebens erzogen zu werden. Das waren die zwei Aufgaben: Erziehung zum Wichtignehmen des Erdenlebens zwischen Geburt und Tod, und auf der anderen Seite dazu, daß außerhalb dieses Erdenlebens vor Gott alle gleich sind. Nur dadurch ist dieses Erdenleben ertragen worden, daß es so aufgefaßt wurde, daß vor Gott alle gleich sind. Wer das so betrachtet, der wird in der Entwicklung der Menschheit, seit der Entstehung des Christentums, ein Herabsteigen in die physische Welt beobachten. Mehr und mehr fühlt sich der Mensch dem physischen Dasein verpflichtet. Dadurch übertrug er mehr und mehr die Wichtigkeit des Satzes von der Gleichheit vor Gott auf die Gleichheit im materiellen Dasein selbst.

Das Bild ist nicht mißzuverstehen. Die Seele, die vor 1800 Jahren etwa gewohnt war, die Gleichheit für das Jenseits zu beanspruchen, die bringt den Impuls der Gleichheit mit sich, aber in bezug auf das, was heute wichtig ist: «Gleichheit vor dem Mammon». Keine Kritik, nichts Abfälliges sehen Sie bitte darin, sondern die objektive Feststellung eines Weltgesetzes der sich entwickelnden Seele. So muß man den Gang der Zeiten studieren. Dann wird man verstehen, daß es nur eines gibt, was in dieser Seele wieder eine andere Richtung, ein Aufsteigen veranlassen kann, wenn wir die Seele, die nach Gleichheit ruft, wieder hineinbekommen in das jenseits. Nach dem jenseits hatten wir hinaufgeblickt, von dem Diesseits hatten wir hinausgeblickt. Heute ist die Seele durch diesen Impuls auf sich selbst zurückgewiesen. Heute sucht sie dasselbe in dem Diesseits. Soll sie wieder einen Aufstieg finden, so muß sie in dem Diesseits den Geist, das Innere finden, im Seelischen selbst. Das ist dasjenige, was die theosophische Weltbewegung erstrebt: die Seele vorzubereiten für die drei Stadien, weil sie innerlich voll des Gottes wird, voll der göttlichen Weisheit und sich deshalb wieder hineinzustellen weiß in die Welt, so daß sie wieder die Harmonie zwischen sich und der Umwelt finden wird.

Solche Gedanken haben einen richtunggebenden Wert. Nicht von heute auf morgen können wir das bewirken. Aber wir können auch nicht unsere einzelnen Taten allein betrachten. Jede Tat muß unter einem Einfluß stehen. Dann wird sie praktisch, dann ist sie etwas, dann ist sie keine graue Theorie, sondern unmittelbares Leben, weil wir hineinschauen in das Getriebe der Seele.

Unsere Nationalökonomen und unsere Sozialtheoretiker sagen so oft heute: Der Mensch ist nur das Produkt der äußeren Verhältnisse. Der Mensch ist so geworden, weil er in diesen oder jenen äußeren Verhältnissen lebt. So spricht zum Beispiel die Sozialdemokratie im Ernst davon, daß der Mensch so wird, wie seine Umgebung ihn macht, daß er, weil er durch die ganze industrielle Entwicklung zum proletarischen Arbeiter geworden ist, auch der Seele nach so ist, wie er eben durch diese Verhältnisse geworden ist. Der Mensch ist ein Produkt der Verhältnisse. Das können wir oftmals hören. Studieren wir die Verhältnisse selbst, betrachten wir, was um uns herum ist, wovon wir am meisten abhängig sind. Sind wir abhängig von der bloßen Natur? Nein! Wir merken erst, wovon wir abhängig sind, wenn wir als Hungernde vor dem Bäckerladen stehen und nichts in der Tasche haben, um uns etwas zu kaufen.

Alle diese Verhältnisse sind wieder von Menschen gemacht und bewirkt. Der durch die Geschichte sich entwickelnde Geist hat diese Verhältnisse herbeigeführt. Was heute ist, haben die Menschen manchmal vor kurzer Zeit erst aus Sorge um ihr Heil erdacht; das haben sie erst hineingelegt. So bewegt sich derjenige, der meint, daß die Menschen von den Verhältnissen abhängig sind, in einem Kreisschluß, denn die Verhältnisse sind von den Menschen herbeigeführt. Wenn wir uns das vergegenwärtigen, so müssen wir uns sagen: Es kommt nicht auf die Verhältnisse an, sondern wir müssen darauf sehen, wie die Verhältnisse geworden sind. Es ist müßig zu konstatieren und zu sagen, der Mensch ist von seinen Verhältnissen abhängig. Der Mensch wird auch in fünfzig Jahren abhängig sein von den Verhältnissen, die ihn umgeben. Sie können es jedem Sozialdemokraten zugeben, daß der Mensch abhängig ist von den Verhältnissen, aber von denen, die wir heute machen, die aus unserem Gemüt, aus unserer Seele hervorgehen. Die sozialen Verhältnisse machen wir! Und das, was dann leben wird, das sind die kristallisierten Empfindungen und Gefühle, die wir heute in die Welt hinaussetzen.

Das zeigt uns, um was es sich handelt: daß man die Gesetze kennenlernen muß, unter denen sich die Welt entwickelt. Nicht Wissenschaft kann es sein, um was es sich da handelt, sondern es kann nur sein Intuition, die Erkenntnis dessen, was wir hineinlegen müssen als Gesetz. Dies kommt gerade aus einer Betrachtung, die aber den meisten ganz phantastisch erscheint, die aber viel klarer und objektiver ist, als vieles von der phantastischen Phantasie unserer Wissenschaftler. Wer sagen kann, was in der Seele lebt und was heraustritt aus der Seele und dann draußen sich kristallisiert, der kann auch, aus der Weisheit des Göttlichen in der Seele, dasjenige sagen, was einer in der Welt ausstreuen kann, und was der Menschheit frommt.

Wollen Sie in der Zukunft solche Verhältnisse um sich herum haben, wollen Sie das als Einrichtung, als Institution haben, was die Menschen befriedigt, von dem die Menschen werden sagen können, das ist es, unter solchen Verhältnissen wollen wir leben, dann müssen Sie zuerst Menschlichkeit hineingießen in diese Verhältnisse, damit Menschlichkeit aus ihnen wieder herausströmt. Die tiefste Menschlichkeit, das tiefste Seelen-Innere muß erst von unserem eigenen Herzen hinausströmen in die Welt. Dann wird die Welt ein Abbild der Seele sein, und in dieser Seele wird ein Abbild der Welt sein. Die wird die Menschen wieder befriedigen können. Deshalb kann sich der Mensch nichts versprechen von all den Kurpftischereien auf dem sozialen Gebiet, die gemacht werden aus der Betrachtung der äußeren Verhältnisse. Diese äußeren Verhältnisse werden von Menschen gemacht; sie sind nichts anderes als die herausgeströmten menschlichen Seelen. Was zunächst zu bearbeiten ist, was wir zunächst als soziale Frage anzufassen haben, das sind die Seelen von heute, die die Umgebung von morgen schaffen. Sie können es sehen, wie von der Seele bessere Verhältnisse in die Umgebung strömen, wenn Sie es nur studieren wollen. Ich habe es immer wieder hören müssen von Sozial-Politikern: Macht die Verhältnisse besser, und die Menschen werden besser werden. Möchten diese doch nur studieren, was einzelne Sekten, die abgeschieden von der Weltentwicklung sich entfalten, als Seelenkultur treiben, möchten sie studieren, was die zur Gestaltung der äußeren Verhältnisse beitragen. Wenn der Mensch einsehen wird, daß die Verbesserung der Verhältnisse von ihm abhängt, wenn er theosophische Erkenntnisse erlangt haben wird, und wenn er erkannt haben wird den ersten Grundsatz: den Kern einer allgemeinen Bruderschaft zu bilden und ihn in uns sebst herauszubilden als soziale Empfindung für die Umwelt, dann ist das Soziale möglich und man ist vorbereitet für das, was in der nächsten Zeit geschehen soll.

Unsere ganze Nationalökonomie lebt heute unter falschen Voraussetzungen. Unsere Theorien sind deshalb zumeist falsch, weil man von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht als diejenigen sind, die sich ergeben aus den Menschen und aus der Menschheit. Überall geht man von der Produktion aus, oder man glaubt, mit der Entwicklung der Entlohnung etwas erreichen zu können. Alles Denken bewegt sich in dieser Richtung. Nicht gleich wird bei der Veränderung des Denkens auch eine Besserung eintreten. Aber sie tritt ein, wenn die Richtung geändert sein wird. Auch unser Proletariat hat keine Ahnung von dem, was hier vorliegt. Was gefordert ist, ist mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit. Betrachten Sie sich den Arbeiter irgendeiner Branche, sagen wir der Elektrizitätsbranche, der sich gewerkschaftlich organisiert hat, um durch diesen Zusammenschluß bessere Löhne und Arbeitsverhältnisse zu schaffen. Was will er denn mit den besseren Arbeitsverhältnissen? Er will, das zwischen ihm und dem Arbeitgeber ein anderes Verhältnis in der Entlohnung stattfindet. Das ist alles, was er will. Die Produktionsverhältnisse ändern sich nicht. Alles, was geschieht, ist, daß der Arbeiter höheren Lohn bekommt. Das ist alles, was geschieht. Eine Umlagerung des Kapitals ist es.

Damit wird aber gar nichts Besonderes geändert. Dafür, daß man heute mehr Lohn erhält, werden morgen die Lebensmittel teurer. Es ist gar nicht möglich, auf diesem Wege irgendeine Besserung für die Zukunft herbeizuführen. Daß man dieses Bestreben dennoch hat, das beruht auf falschem Denken. Um was es sich da handelt, das sind Produktion und Konsumtion. Hier herrscht ein großes, umfassendes Weltgesetz der Arbeit. Dieses muß man kennen. Vielleicht werden gewisse Leute sagen, die gewohnt sind, in den heutigen nationalökonomischen Theorien zu denken, ich stelle ein Hirngespinst vor sie hin. Wer sich zur Theosophie durchentwickelt hat, der ist in der Regel hindurchgegangen durch das heutige Denken. Sie soll als Lebensimpuls in uns tätig sein. Aber wie ein jeder Gedanke in uns hineinzieht, und jede einzelne Handlung in uns anregen wird, so soll uns das auch anregen. Wir brauchen nicht daran zu denken, daß wir es jetzt schon realisieren können. So kann auch der Regierungsrat, der nicht in grauen Theorien lebt, das Leben ganz anders ansehen. Er braucht nicht erst nach Amerika zu reisen, um die Erkenntnis zu erhalten, daß der, welcher keine Arbeit bekommt, nicht ein Lump zu sein braucht. Das Arbeiten hat seine Formen im Laufe der Zeit sehr geändert.

Sehen Sie zurück ins alte Griechenland. Was war die Arbeit dazumal? Der Arbeiter stand in einem ganz anderen Verhältnis zu seinem Herrn. Damals war die Arbeit Sklaverei. Der Arbeiter konnte durch Gewalt zur Arbeit gezwungen werden. Was er von seinem Herrn bekam, das war sein Lebensunterhalt. Das Erträgnis der Arbeit aber bekam sein Herr, es hatte gar nichts mit dem Verhältnis des Arbeiters zu seinem Herrn zu tun. Er hatte zu arbeiten, er wurde zwar auch unter mißlichen Verhältnissen unterhalten; im einzelnen aber wurde er nicht entlohnt. Da haben wir eben Arbeit unter Zwang, ohne Lohn.

Ware ist das Resultat von etwas anderem als von unmittelbar entlohnter Arbeit. Ihr Wert hat daher auch nichts zu tun mit dem, was als Lohn zu bezahlen ist. Sehen Sie heute die Verhältnisse an. Heute haben wir Arbeiten, die teilweise dem Arbeiter entlohnt werden, teilweise. Dasjenige, was sie erbringt, fließt als Profit in die Tasche des Unternehmers. Teilweise wird also die Arbeit entlohnt. Was ist der Arbeiter dadurch selbst geworden? Seine Arbeitskraft steckt er in die Arbeit hinein. Wenn man in Griechenland ein Stück Arbeit vor sich hatte, dann war sie ein Produkt der Sklaverei. In der Ware von heute steckt ganz etwas anderes darin. Heute ist das Genußmittel, das ich bekomme, kristallisierte Arbeit, die dem Arbeiter entlohnt wird. Wenn wir das so bedenken, dann werden wir finden, daß eine halbe Freiheit an die Stelle der alten Sklaverei getreten ist. Ein Vertragsverhältnis ist an seine Stelle getreten. Daher ist die Arbeit heute halb Zwang, halb Freiheit. Dadurch ist die Arbeit zur Ware geworden in der Gestalt des Arbeiters. So haben wir zur Hälfte erzwungene und zur Hälfte freie Arbeit. Und der Gang der Entwicklung ist in der Richtung zur völlig freien Arbeit hin. Diesen Weg lehnt und ändert niemand ab. Wie der griechische Arbeiter unter dem Zwang seines Herrn seine Arbeit verrichtete, wie der jetzige Arbeiter aus Zwang für Lohn arbeitet, wird in der Zukunft nur Freiheit der Arbeit sein. Arbeit und Lohn werden in der Zukunft vollständig getrennt.

Das ist die Gesundheit der sozialen Verhältnisse in der Zukunft. Sie können es heute schon sehen. Die Arbeit wird eine freie Verrichtung sein aus der Erkenntnis der Notwendigkeit, aus der Erkenntnis, daß sie geschehen muß. Die Menschen verrichten sie, weil sie sich den Menschen anschauen und sehen, daß er die Arbeit braucht. Was war die Arbeit im Altertum? Sie war ein Tribut; sie wurde verrichtet, weil sie verrichtet werden mußte. Und was ist die Arbeit der Gegenwart? Sie beruht auf Eigennutz, auf Zwang, den der Egoismus auf uns ausübt. Weil wir da sein wollen, wollen wir die Arbeit bezahlt haben. Wir arbeiten um unseretwillen, um unseres Lohnes willen. Wir werden in der Zukunft um unserer Mitmenschen willen arbeiten, weil sie das brauchen, was wir arbeiten können. Deshalb werden wir arbeiten. Wir werden unseren Mitmenschen kleiden, wir werden ihn versehen mit dem, was ihm nottut - in vollständig freier Betätigung. Der Lohn muß vollständig davon getrennt werden. Tribut war die Arbeit in der Vergangenheit, Opfer wird sie in der Zukunft sein. Nichts hat sie zu tun mit Eigennutz, nichts mit Entlohnung. Lasse ich mir die Arbeit von dem Konsum diktieren, im Hinblick auf das, was die Menschheit braucht, dann stehe ich in einem freien Arbeitsverhältnis, und meine Arbeit ist ein Opfer für die Menschheit. Dann arbeite ich nach meinen Kräften, weil ich die Menschheit liebe und meine Kräfte ihr zur Verfügung stelle.

Das muß möglich sein, und das ist nur möglich, wenn die Lebensexistenz getrennt wird von der Arbeit. Und dies wird in der Zukunft eintreten. Niemand wird Besitzer des Arbeitsproduktes sein. Erzogen muß die Menschheit werden zu freier Arbeit, einer für alle, und alle für einen. Jeder hat danach zu handeln. Wenn Sie heute eine kleine Gemeinde gründen, in der jeder, was er einnimmt, in die gemeinschaftliche Kasse wirft, und jeder arbeitet, was er arbeiten kann, dann ist nicht seine Lebensexistenz abhängig von dem, was er arbeiten kann, sondern diese Lebensexistenz wird von dem gemeinschaftlichen Konsum aus bewirkt. Das bewirkt eine größere Freiheit als die Regelung des Lohnes nach der Produktion. Wenn das geschieht, werden wir eine Richtung bekommen, die den Bedürfnissen entspricht. Das kann heute schon in jedes Gesetz, in jede Verordnung hineinfließen. Natürlich nicht absolut, aber schon annähernd. Man kann heute schon die Fabriken in der richtigen Weise gestalten. Das erfordert aber gesundes, klares, nüchternes Denken im Sinne der Theosophie. Wenn solche Dinge in die menschliche Seele hineinkommen, dann wird auch innerhalb dieser menschlichen Seele selbst wieder etwas leben können. Und so, wie das eine das andere bedingt, so wird auch dieses Leben der menschlichen Seele bedingen, daß die äußeren Einrichtungen ein Spiegelbild davon sein werden, so daß unsere Arbeit ein Opfer - und nicht mehr Eigennutz - sein wird, so daß nicht die Entlohnung die Verhältnisse zur Außenwelt regelt, sondern das, was in uns ist. Was wir können und vermögen, bringen wir der Menschheit dar. Vermögen wir wenig, dann bringen wir wenig, haben wir viel, dann bringen wir viel.

Wir müssen wissen, daß jedes Tun eine Ursache ist von unendlicher Wirkung, und daß wir nichts ungenützt lassen dürfen, was in unserer Seele ist. Wir werden aus unserer Seele heraus jedes Opfer bringen, wenn wir auf Lohn, der uns durch die äußeren Verhältnisse zuteil werden kann, völlig verzichten. Nicht um unserer selbst willen, nicht unseres Wohlseins wegen, sondern um der Notwendigkeit willen. Wir wollen die Seele durch das Gesetz des eigenen inneren Wesens festigen, damit sie lernt, unter anderen Gesichtspunkten ihre Kraft dem Ganzen zur Verfügung zu stellen, als unter dem Gesetze des Lohnes und des Eigennutzes. Es hat schon in gewisser Beziehung Denker gegeben, welche so gedacht haben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat es solche Denker gegeben, die diesen Zug einer großen, seelischen Betrachtung der Weltgesetze hereingebracht haben. Ist dieser Zug nicht eine Heiligung der Arbeit? Ist es nicht so, daß wir sie hinlegen können auf den Altar der Menschheit? So wird die Arbeit etwas ganz anderes als eine Last. Sie wird etwas, in das wir unser Heiligstes, unser Mitgefühl für die Menschheit hineinlegen, und wir können dann sprechen: Heilig ist die Arbeit, weil sie ein Opfer ist für die Menschheit.

Nun hat es Menschen gegeben, die von der «heiligen Industrie» in der ersten Hälfte des neunzehntenjahrhunderts redeten. Einer derselben, weil er eine Ahnung hatte von den großen Zukunftsideen, war Saint Simon. Wer die Schriften von ihm studiert, wird unendlich viel gewinnen für unsere Zeit, wenn er sie im theosophischen Sinne vertieft. Saint Simon hat in rudimentärer Weise gesprochen, aber in einer solchen Art und Weise des Zusammenlebens, wie von einer Genossenschaft. Er hat Genossenschaften projektiert, in die die einzelnen den Tribut niederlegten, und die Existenz dadurch unabhängig wird. Er hat große Ideen über die Menschheitsentwicklung gehabt und manches entdeckt. Er hat gesagt: Die Menschenrassen entsprechen einer planvollen Entwicklung, und die Seelen kommen nacheinander zum Vorschein und entwickeln sich hinauf. So muß man die Menschheitsentwicklung anschauen, dann kommt man zur richtigen Anschauung. Er spricht auch von einem Planetengeist, der verwandelt sich in andere Planeten, auf denen der Mensch leben wird. Kurz - es gibt einen Nationalökonomen, dessen Werke Sie lesen können, und der in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts lebte. Sie lesen das Werk von ihm wie ein theosophisches Buch.

Die Palingenese des Seelendaseins kann heute bewiesen werden. Wer Haeckel zugibt, der wird auch die Wiederverkörperung zugeben müssen, wenn er die Ideen von Haeckel weiter ausführt. Fourier hat auch in dieser Weise gedacht. Sie können bei ihm primitive Theosophie finden. Deshalb ist für denjenigen, der die Dinge betrachtet wie sie sind, Theosophie für unser soziales Leben mit ihrem ersten großen Grundsatz, den Kern einer allgemeinen Bruderschaft zu gründen, dasjenige, was allein in dieser Umwelt gesunde Zustände verbreiten kann. Diese Anschauung des Theosophen ist keine unpraktische, sondern sie ist praktischer als die Anschauung aller Sozial-Theoretiker und nur der - das werden Sie erkennen müssen, wenn Sie die Theorien auf das Leben anwenden - wird dasselbe sagen, was der gute Kolb gesagt hat: Mit den Theorien der Nationalökonomie studiert es sich noch ganz erträglich. - Wenn die Theosophie gehört werden wird bei Besprechungen über die soziale Frage, dann erst kann in dieselben eine gesunde Betrachtungsweise, ein gesundes Denken hineinkommen. So ist es für die, welche auf diesem Gebiete sehen und hören wollen, notwendig, sich mit der Theosophie auseinanderzusetzen.

Für den Theosophen ist zweierlei klar, nicht aus Fanatismus, sondern aus einer Erkenntnis, die sich ergibt aus der Betrachtung des Lebens: Es ist möglich, bei grauen Theorien zu bleiben und Leuten die Sache anzuvertrauen, die nachher gestehen müssen, daß sie sich am Studiertisch anders ausnimmt als im Leben draußen. Dann wird man lange zu warten haben und das, was kommen muß, wird doch kommen. Zuletzt wird doch die lebensvolle Theorie einzugreifen haben in das Leben, oder - man kann es heute schon hören - man kann heute schon sich auseinandersetzen mit dem, was die Theosophie zu sagen hat über die soziale Frage. Dann muß man nicht nur einen Vortrag hören, sondern man muß sich mit der ganzen Theosophie auseinandersetzen. Man wird sich die Gabe, die Fähigkeit aus ihr holen, um in gesunder Weise das Leben in seinen geheimsten und intimsten Kräften von oben bis unten zu betrachten. Dann kann bald Heil und Segen in unsere soziale Ordnung hineinkommen.

Vollziehen wir dasjenige, was geschehen soll, in uns selbst, soviel wir können. Umgestaltung der Arbeit, arbeiten nicht für Lohn, ist ein Opfer. Dann werden wir unsere Pflicht getan haben, dann werden wir das Leben gesund betrachtet haben. Oder wir betrachten weiterhin die Welt mit den grauen, lebensfremden Theorien. Dann könnte es sich herausstellen, daß die zukünftige Menschheit sagen könnte: Fragen sind aufgeworfen worden. Solange diese Fragen zu studieren waren, solange das Heil auf gutem Wege möglich war, so lange haben sie sie nicht studieren wollen. Goethe hat einmal gesagt: Revolutionen sind ganz unmöglich, wenn die Regierenden ihre Pflicht tun würden. - Er wußte, wer an den Revolutionen Schuld trägt. Versuchen wir zu bedenken, was die zukünftige Geschichte über unsere Gegenwart sagen kann. Sie haben gesehen, wie die Zeit gewirkt hat, bis die Erde blutgetränkt war und wie die Zeit in noch furchtbarerer Weise brennendste Fragen aufgeworfen hat.