Mittelalterliche Städte als wissenschaftlich-materielle Revolution

Quelle: GA 051, S. 130-133, 1. Ausgabe 1983, 08.11.1904, Berlin

Durch dieses Bündnis zwischen Papsttum und Frankenherrschaft bereitete sich die spätere Krönung Karls des Großen langsam vor. So sehen wir also mächtige soziale und geistige Veränderungen sich vollziehen. Aber das allein hätte nicht zu jenem Ereignis geführt, das ich als eines der wichtigsten bezeichnete, als eine materielle Revolution: die Begründung von Städten. Denn es fehlte der fränkisch-christlichen Kultur etwas, trotzdem Tüchtigkeit, Geist und Tiefe da waren.

Nicht vorhanden war, was man als Wissenschaft, als rein äußerliche Wissenschaft bezeichnet. Lediglich eine materielle und eine moralische Bewegung haben wir verfolgt. Das, was an Wissenschaft vorhanden war, war stehengeblieben auf derselben Höhe wie zur Zeit der Berührung mit dem Christentum. Und wie die Frankenvölker kein Interesse hatten an der Verbesserung ihrer einfachen Agrikultur, nicht daran dachten, sie wissenschaftlich auszubilden, ebenso suchte die Kirche nur ihren moralischen Einfluß auszubauen. Der primitive Ackerbau bot keine besonderen Schwierigkeiten, die wie in Ägypten zur Entwickelung der Physik, der Geometrie, der Technik geführt hätten. Alles war hier einfacher, ursprünglicher; so wie auch die schon bestehende Geldwirtschaft wieder durch Naturalwirtschaft ersetzt worden war.

So brauchte die europäische Kultur einen neuen Einschlag, und man versteht sie nicht, wenn man nicht diesen Einschlag würdigt. Vom Fernen Osten her, woher einst das Christentum gekommen, aus Asien kommt diese neue Kultur durch die Araber. Die Religion, die durch Mohammed dort gegründet worden war, ist in ihrem religiösen Gehalt einfacher als das Christentum. Der innere Gehalt des Mohammedanismus gründet sich im wesentlichen auf einfache monotheistische Ideen, die sich beschränken auf ein göttliches Grundwesen, dessen Natur und Gestalt man nicht besonders erforscht, das man nicht ergründet, in dessen Willen man sich aber ergibt, das man glaubt. Deshalb ist diese Religion dazu geschaffen, ein ungeheures Vertrauen in diesen Willen hervorzurufen, das zum Fatalismus führt, zur willenlosen Ergebung. Daher war es möglich, daß in wenigen Menschenaltern diese Stämme die arabische Herrschaft ausdehnten über Syrien, Mesopotamien, Nordafrika bis zu dem Reich der Westgoten in Spanien, so daß bereits um die Wende des 7. zum 8. Jahrhundert die Mauren ihre Herrschaft dort ausbreiteten und an die Stelle der westgotischen ihre eigene Kultur setzten.

So strömt etwas ganz Neues, Andersgeartetes in die europäische Kultur. Auf eigentlich geistigem, religiösem Gebiet hat diese arabische Kultur nur einen einfachen Inhalt, der in der Seele gewisse Kräfte begründete, aber nicht viele Vorstellungen erwirkte, nicht den Geist besonders in Anspruch nahm. Dieser Geist war nicht erfüllt vom Nachdenken über Dogmen, über Engel und Dämonen und so weiter. Aber war der Geist nicht damit erfüllt, so mit dem, was den christlich-germanischen Stämmen damals fehlte: mit äußerer Wissenschaftlichkeit. Fortgebildet finden wir hier alle jene Wissenschaften, wie Medizin, Chemie, mathematisches Denken. Der praktische Geist, der aus Asien mit nach Spanien gebracht war, fand nun in Seefahrten und so weiter Betätigung. Er wurde hinübergebracht in einer Zeit, wo dort ein wissenschaftsloser Geist sein Reich begründet hatte. Die maurischen Städte wurden Stätten ernster, wissenschaftlicher Arbeit: wir sehen da eine Kultur, die jeder, der sie kennt, nur bewundern kann, von der ein Humboldt sagte: «Diese Weite, diese Intensität, diese Schärfe des Wissens ist ohne Beispiel in der Kulturgeschichte.» Diese maurischen Gelehrten sind voll Weitblick und Tiefsinn und haben nicht nur wie die Germanen die griechische Wissenschaft übernommen, sondern vorgebildet. Aristoteles lebte auch bei diesen fort, aber bei den Arabern der wahre Aristoteles als Vater der Wissenschaft, verehrt mit großem Weitblick. Es ist interessant zu sehen, wie das, was in Griechenland vorgebildet war, die alexandrinische Kultur, dort fortlebte, und damit haben wir eine der merkwürdigsten Strömungen im menschlichen Geistesleben berührt. Die Araber lieferten die Grundlagen zur objektiven Wissenschaft. Diese strömte zunächst von da aus ein in die angelsächsischen Klöster in England und Irland, wo das alte energische keltische Blut lebte. Eigentümlich war es zu sehen, was für ein reger Verkehr zwischen ihnen und Spanien eingeleitet wurde, und wie dort, wo Tiefsinn und Fähigkeit zum Denken vorhanden war, die Wissenschaft durch Vermittlung der Araber auflebte.

Und es ist eine merkwürdige Erscheinung, wenn wir weiter sehen, daß die Araber, die anfangs ganz Spanien in Besitz nahmen, bald äußerlich besiegt wurden in der Schlacht bei Poitiers 732 durch die Franken unter Karl Martell. Damit siegte äußerlich die physische Kraft der Franken über die physische Kraft der Mauren. Aber unbesiegbar bleibt die geistige Kraft der Araber, und so wie einst die griechische Bildung erobernd in Rom auftritt, so erobert sich die arabische Bildung den Westen, den siegreichen Germanen gegenüber. Wenn nun die Wissenschaft, die man braucht, um den Gesichtskreis für Handel und Weltverkehr auszubreiten, wenn die Städtekultur entsteht, so sehen wir, daß es arabische Einflüsse sind, die hier sich geltend machen, ganz neue Elemente, die hier einströmen, und die versuchen, sich den alten anzupassen.