Befreiung des Menschen von moralischen Gespenstern

Quelle: GA 051, S. 060-063, 1. Ausgabe 1983, 1901, Berlin

Er [Hegel] fragte sich: Was ist denn das eigentlich, was uns unser Denken über die Natur offenbart? Wenn ich durch mein Denken die Gesetze der Himmelskörper erforsche, enthüllt sich in diesen Gesetzen nicht die ewige Notwendigkeit, die in der Natur herrscht?

Was geben mir also alle meine Begriffe und Ideen? Doch nichts anderes, als was draußen in der Natur selbst ist. In mir sind dieselben Wesenheiten als Begriffe, als Ideen vorhanden, die in der Welt als ewige, eherne Gesetze alles Dasein beherrschen. Sehe ich in mich, so nehme ich Begriffe und Ideen wahr; sehe ich außer mich, so sind diese Begriffe und Ideen Naturgesetze. Im einzelnen Menschen spiegelt sich als Gedanke, was die ganze Welt als Gesetz beherrscht. Man mißversteht Hegel, wenn man behauptet, er hätte die ganze Welt aus der Idee, aus dem menschlichen Kopfe, herausspinnen wollen. Es wird einst als eine ewige Schande der deutschen Philosophie angerechnet werden müssen, daß sie Hegel so mißverstanden hat. Wer Hegel versteht, dem fällt es gar nicht ein, irgend etwas aus der Idee herausspinnen zu wollen. Wirklich verstanden, im fruchtbaren Sinne des Wortes, hat Marx Hegel. Deshalb hat Marx die Gesetze der ökonomischen Entwickelung gesucht da, wo sie allein zu finden sind. Wo sind die Gesetze zu finden? Auf diese Frage antwortete Hegel: Dort, wo die Tatsachen sind, sind auch die Gesetze. Es gibt sonst nirgends eine Idee, als wo die Tatsachen sind, die man durch diese Idee begreifen will. Wer die Tatsachen des wirklichen Lebens erforscht, der denkt hegelisch. Denn Hegel war der Ansicht, daß nicht abstrakte Gedanken, sondern die Dinge selbst zu ihren Wesenheiten führen.

Ebenso verfährt die neuere Naturwissenschaft im Geiste Hegels. Diese neue Naturwissenschaft, deren großer Begründer Charles Darwin durch sein Werk «Die Entstehung der Arten» (1859) geworden ist, sucht die Naturgesetze im Reiche der Lebewesen ebenso auf, wie man dies auch in der leblosen Natur tut. Ernst Haeckel faßt das Glaubensbekenntnis dieser Naturwissenschaft in die Worte zusammen: «Der Magnet, der Eisenspäne anzieht, das Pulver, das ex plodiert, der Wasserdampf, der die Lokomotive treibt ... sie wirken ebenso durch lebendige Kraft, wie der Mensch, der denkt.»

Diese Naturwissenschaft ist davon überzeugt, daß sie mit den Gesetzen, welche die Vernunft aus den Dingen herausholt, zugleich das Wesen dieser Dinge enthüllt. Für einen Glauben, der erst dem Leben seinen Sinn geben soll, bleibt da nichts mehr übrig. In den fünfziger Jahren haben mutige Köpfe, wie Carl Vogt, Jacob Moleschott und Ludwig Büchner, die Anschauung wieder zur Geltung zu bringen versucht, daß in den Dingen dieser Welt sich auch deren Wesen durch die Erkenntnis ganz und restlos enthüllt. Es ist heute Mode geworden, über diese Männer wie über die borniertesten Köpfe herzufallen und von ihnen zu sagen, daß sie die eigentlichen Rätsel der Welt gar nicht gesehen hätten. Das tun nur Menschen, die selbst keine Ahnung davon haben, welche Fragen man überhaupt aufwerfen kann. Was wollten diese Männer anderes, als die Natur erforschen, um aus der Natur selbst durch Erkenntnis den Sinn des Lebens zu gewinnen? Tiefere Geister werden der Natur gewiß noch tiefere Wahrheiten ablauschen können als Vogt und Büchner. Aber auch diese tieferen Geister werden es auf denselben Erkenntniswegen tun müssen wie sie. Denn man sagt immer: Ihr müßt den Geist suchen, nicht den rohen Stoff! Wohlan, die Antwort kann nur mit Goethe gegeben werden: Der Geist ist in der Natur.

Was jeder Gott außer der Natur ist, darauf hat Ludwig Feuerbach die Antwort gegeben, indem er zeigte, wie eine solche Gottesvorstellung von dem Menschen, nach dessen Bilde, geschaffen ist. «Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen, die Religion ist die feierliche Enthüllung der verborgenen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.» Was der Mensch in sich selbst hat, das setzt er in die Welt hinaus und verehrt es als Gott.

So macht der Mensch es auch mit der sittlichen Weltordnung. Diese kann nur er selbst, aus sich im Zusammenhang mit seinesgleichen, schaffen. Er stellt sich aber dann vor, sie sei von einem anderen, höheren Wesen über ihn gesetzt. In radikaler Weise ist Max Stirner solchen Wesenheiten zu Leibe gegangen, die der Mensch sich selbst schafft und dann wie höhere Gewalten, als Spuk oder Gespenst, über sich setzt. Stirner fordert die Befreiung des Menschen von solchen Gespenstern.

Der Weg, der von ihnen befreit, wurde einzig und allein von den auf naturwissenschaftlicher Grundlage aufgebauten Weltanschauungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betreten.