Egoismus Stirners als Ich-Erlebnis

Quelle: GA 032, S. 321-352, 2. Ausgabe 1971, 20.01.1900

Unbefriedigt fühlt sich also Hart bei einem Rückblick auf das Jahrhundert. Er sieht lauter Götzen, welche die Menschen irreführten. «Die altruistische Sittlichkeit gipfelt in dem Satze: Unterdrücke nicht, vergewaltige niemanden, herrsche nicht! Der Stirnersche Egoist sagt: Laß dich nicht beherrschen, laß dich nicht unterdrücken und nicht vergewaltigen. Ob ihr dem einen oder dem andern Rat folgt ... es kommt dabei für euch und für die Welt genau dasselbe heraus. Laßt die toten Worte und blickt auf die Sache.» Wie aber, verehrtester Herr Hart, wenn die Worte, von denen Sie sprechen, doch auf Sachen deuteten, und es nur an Ihnen läge, daß Sie die Sachen nicht sehen, folglich die Worte für Sie tot sind. Sie machen sich die Sache etwas leicht. Sie erklären, zwar nicht kurz und bündig, aber deshalb doch nicht mit sehr inhaltvollen Worten: «Altruistische und egoistische Sittlichkeit stehen in voller Kampfbereitschaft einander gegenüber. Jede möchte die andere mit Stumpf und Stiel ausrotten. Die Philosophie des Egoismus belehrt uns mit aufgehobenem Finger, daß jede altruistische Handlung nur dem Scheine nach um des Anderen willen, in Wahrheit aber allein zur Befriedigung des eigenen Ich geschieht.

Gewiß - gewiß! Mit genau demselben Rechte läßt sich aber auch jede Tat des Egoismus als eine altruistische Handlung deuten und erkennen! Das sollte euch doch klar genug das wahre Verhältnis enthüllen. Es liegen da überhaupt keine Gegensätze vor. Egoismus ist Altruismus, Altruismus ist Egoismus.» Aber merken Sie denn gar nicht, verehrtester Herr Hart, welche schlimme Philosophie Sie da treiben? Ich will Ihnen einmal Ihre Art zu denken auf einem anderen Gebiete zeigen, und Sie werden sehen, wie Sie sich versündigen. Denken Sie sich: Jemand sagte, Bienen und Fliegen stammen beide von einem gemeinsamen Ur-Insekt ab, das sich nur in dem einen Fall so, in dem andern anders ausgebildet hat. Sieht man von den speziellen Eigenschaften der Biene und von denen der Fliege ab, so sind beide dasselbe; sie sind Insekten: die Biene ist eine Fliege; die Fliege ist eine Biene. Nein, mein Herr Kritiker des modernen Menschen, das geht doch nicht, daß Sie alles in einer unterschiedslosen grauen Sauce auflösen und dann dekretieren: «All die großen und ewigen Gegensätze, die euer Denken, Meinen und Fühlen zerrissen und zersplittert haben -, alle - alle sind in Wahrheit nichts als große und ewige Identitäten.» Die fortschreitende Kultur hat die Dinge und Erscheinungen voneinander unterschieden; sie hat klare Begriffe herausgearbeitet, durch die sie zu dem Verständnisse der Vorgänge und Wesen kommen will. Man hat das selbstlose Handeln psychologisch analysiert, und auch das egoistische, und hat Unterschiede festgestellt. Und da alle Dinge in einem notwendigen Zusammenhänge stehen, hat man auch das Verhältnis von Egoismus und Selbstlosigkeit untersucht.

Man hat in der selbstlosesten Handlung einen Rest von Egoismus und in der egoistischsten einen Rest von Selbstlosigkeit gefunden; wie man in der Biene etwas von der Fliege und in der Fliege etwas von der Biene findet. Es ist ganz gewiß, daß man mit dem Unterscheiden, mit der Aufstellung von Gegensätzen allein nicht fortkommt; man muß das Verwandte in den Erscheinungen suchen. Aber erst muß man die Einzelheiten in klaren Umrissen vor sich haben, dann kann man auf ihr Gemeinsames losgehen. Es ist eben notwendig, daß man in alles mit dem Lichte der Erkenntnis hineinleuchtet. Das Tageslicht ist das Element des Erkennens. Sie, Herr Hart, breiten ein nächtliches Dunkel über alle Gegensätze. Wissen Sie denn nicht, daß in der Nacht alle Kühe schwarz sind? Sie sagen: «Welt und Ich. Es sind ja nur zwei verschiedene Worte für ein und dasselbe Wesen.» Nein, mein Lieber, es sind zwei Worte für zwei ganz verschiedene Wesen, von denen man jedes einzelne für sich betrachten und dann ihre Verwandtschaft, ihr reales Verhältnis suchen muß. Sie aber denken sich nichts Rechtes bei den Worten, und deshalb verschwimmt Ihnen alles in einen unbestimmten Urbrei. Nein, Sie huschen zu rasch hinweg über die inhaltsvollen Ideen, die die Jahrhunderte gezeugt haben; Sie lassen sich den Inhalt entschlüpfen und behalten die leeren Worthülsen in der Hand, und dann stellen Sie sich hin und erklären: «Nichts ist unfruchtbarer als ein Kampf um die Begriffe.» Allerdings, wenn die Begriffe die wesenlosen Dinge wären, die Sie darunter verstehen, dann hätten Sie recht. Wer in «Welt und Ich» nichts weiter sieht als Sie, der mag sie immer zusammenwerfen.

Aber es gibt noch andere, die sehen hinaus in die Welt der Mannigfaltigkeiten, die vor den Sinnen ausgebreitet liegt, und die wir denkend zu begreifen suchen; dann blicken sie in sich und nehmen etwas wahr, zu dem sie «Ich» sagen; und dann kommt ihnen die große Frage vor die Seele: welches Verhältnis besteht zwischen diesem «Ich» und jener Welt? Sie, Herr Hart, machen sich das allerdings recht bequem. «Ihr seht ein und dieselbe Sache ewig nur von zwei entgegengesetzten Seiten an.» 0 nein: wir sehen zwei Sachen: eine Welt, die uns umgibt, und ein Ich. Und wir wollen nicht mit Redereien den Unterschied zwischen beiden hinwegdogmatisieren, sondern wir wollen uns in beide Sachen vertiefen, um die reale, die wirkliche Einheit in denselben zu finden. Selbstloses und egoistisches Handeln sind nicht dasselbe. Sie beruhen auf ganz verschiedenen Gefühlsgrundlagen der Seele. Es gibt zwischen ihnen gewiß eine höhere Einheit, wie es zwischen Biene und Fliege eine höhere Einheit gibt. Ich möchte Ihnen ein Wort Hegels anführen, verehrtester Herr Hart, das Ihnen nicht bekannt zu sein scheint. Dieser Mann nennt ein Denken, nach dem «alles ein und dasselbe, auch Gut und Böse gleich sei -», ein Denken nach der schlechtesten Weise, von welchem unter Erkennenden nicht die Rede sein sollte, sondern von dem «nur ein noch barbarisches Denken bei Ideen Gebrauch machen kann». Hegel hat die Ideen von Freiheit, Recht, Pflicht, Schönheit, Wahrheit usw. klar herauszuarbeiten gesucht, so, daß eine jede von ihnen plastisch, inhaltvoll vor uns steht. Er suchte sie vor unser geistiges Auge zu stellen, wie die Blumen und die Tiere vor unserem leiblieben Auge stehen. Und dann suchte er die ganze Mannigfaltigkeit der Ideen unseres Geistes in ein Ganzes zu bringen - die Gedanken zu gliedern, so daß sie uns wie eine große Harmonie erscheinen, in der jedes Einzelne auf seinem Platz seine volle Geltung hat.

So stehen auch die einzelnen Blumen, die einzelnen Tiere der Wirklichkeit nebeneinander, sich selbst zur harmonischen Ganzheit und Allheit gliedernd. Was tut Julius Hart? Er erklärt von uns Menschen des neunzehnten Jahrhunderts: «Wie haben wir uns berauschen lassen vom Klange hoher Worte, wie Freiheit, Gleichheit, Schönheit, Wahrheit, von lauter Begriffen, die in Nebel und Rauch auseinanderfließen, wenn man sie fassen und greifen, in Sinnlichkeiten und Taten umsetzen und das Leben nach ihnen ordnen will?» Nein, Verehrtester, das liegt an Ihnen. Sie hätten es nicht nötig gehabt, sich vom KIange der hohen Worte berauschen zu lassen. Sie hätten sich lieber in den differenzierten Inhalt, den die Denker des neunzehnten Jahrhunderts diesen Worten gegeben haben, vertiefen sollen. Es tut einem weh, sehen zu müssen, wie jemand uns die Geistesgrößen des Jahrhunderts erst zu Miniaturbildchen seiner eigenen Phantasie macht und dann ein furchtbares Gericht abhält über dieses Jahrhundert.

Welchen Geistesknirps macht Julius Hart aus Max Stirner! Dieser hat mit einer hellen Fackel in ein Gebiet geleuchtet, von dem dieser Ausleger keine Ahnung zu haben scheint. In ein Gebiet, wohin weder unsere Sinne noch unser abstraktes Denken dringen können. Er hat in ein Gebiet geleuchtet, wo wir das Höchste, das es für den Menschen gibt, nicht bloß sinnlich wahrnehmen, nicht bloß begrifflich denken, wo wir es unmittelbar individuell erleben. In der Welt unseres Ich geht uns das Wesen der Dinge auf, weil wir hier in einer Sache darinnen stehen. Auch Schopenhauer hat so etwas geahnt.

Deshalb hat er nicht in der sinnlichen Anschauung, nicht in dem Denken nach dem Ich der Dinge gesucht, sondern in dem, was wir in uns erleben. Er hat allerdings gleich beim nächsten Schritte einen Fehler gemacht. Er hat dieses Wesen durch ein Abstraktum, durch ein Allgemeines auszudrücken gesucht. Er hat gesagt, dieses Wesen sei der Wille. Wieviel höher steht Stirners Denken dem «Ich» gegenüber? Er wußte, daß dieses Wesen durch kein Denken zu erreichen, durch keinen Namen auszudrücken ist. Er wußte, daß es nur erlebt werden kann. Alles Denken führt nur bis zu dem Punkt, wo das Erleben des Innern anfangen muß. Es deutet auf das Ich; aber es drückt es nicht aus. Julius Hart weiß davon nichts, denn er kanzelt Stirner ab mit Worten wie:«Das Ich, welches er im Sinne hatte, ist zuletzt auch noch immer das jämmerliche, im dunkelsten Erkenntnis-Wahn eingehüllte Ich des plump-naiven Realismus, das in der Übermenschphilosophie als Kaliban umherläuft, als Kaliban, lüstern nach Prosperos Zaubermantel; aber hinter ihm erhebt sich eine allerdings mehr geahnte als klar erkannte Synthese aus dem rein idealen, absoluten Ich Fichtes und dem realen Ein-Ich des Buddha und Christus. Stirner durchschaut das wahre Wesen des Ich noch immer nicht vollständig, aber doch ahnt er seine Größe, und er schüttelt deshalb eine reiche Fülle tiefster und mächtigster Wahrheiten über seine Leser aus. Aber dieser muß mit sehr klarem Kopfe durch die durcheinanderwogende Nebelwelt des "Einzigen" gehen und selber die Scheidung der Begriffe vornehmen, welche Stirner nicht gegeben hat. Obwohl auf jeder Seite das Wort Ich ein paarmal vorkommt, so geht Stirner doch niemals an eine feste und deutliche Untersuchung der Vorstellung heran und verwechselt deshalb öfter die Bilder, aus denen sie sich zusammensetzt.»

So ist die Sache nicht. Hart verlangt eine deutliche Untersuchung der Vorstellung «Ich» und beweist damit, daß er gar nicht ahnt, um was es sich bei Stirner handelt. Kein Name nennt das «Ich», keine Vorstellung kann es wiedergeben, kein Bild kann es abbilden; alles kann nur darauf hindeuten. Und wenn Stirner «auf jeder Seite» das Wort Ich ein paarmal gebraucht, so hat er immer ein inneres Erlebnis. Hart kann ihm das nicht nachleben und möchte eine Idee, einen Begriff, eine Vorstellung. Merkwürdig an so vielen Stellen seines Buches mahnt uns Julius Hart, die Worte, die Begriffe doch nicht zu überschätzen, sondern uns an die Dinge zu halten. Und bei Stirner hat er einmal Gelegenheit, Worte zu finden, die nur hindeuten sollen auf eine Sache. Und hier will er Worte, Begriffe. Aber Hart will ja gar nichts wissen von dem konkreten, gescheuten, erlebten Ich in eines jeden Innern; er träumt von einem abstrakten «Welt-Ich», das ist von dem ideellen Abklatsch des menschlichen Einzel-Ichs. Er kann deshalb Stirner nicht verstehen, wie er Hegel nicht verstehen kann, weil er von einer grauen, inhaltlosen Einheit träumt, während Hegel eine inhaltvolle Mannigfaltigkeit anstrebt. Julius Hart glaubt, das Jahrhundert zu kritisieren. Er kritisiert nichts weiter als den Menschen, den das Jahrhundert aus Julius Hart gemacht hat. Dafür kann das Jahrhundert nichts, daß in Julius Hart so wenig von seinem Inhalte einfließen konnte.