Anarchismus als Weltanschauung der Freiheit

Quelle: GA 032, S. 262-270, 2. Ausgabe 1971, 07.1899

Es ist das energische Ringen einer starken Persönlichkeit, das sich in J. H. Mackays «Gesammelten Dichtungen» ausspricht.

Das vornehme Empfinden eines Menschen tritt uns entgegen, der nur zufrieden sein kann, wenn er die Höhe menschlichen Daseins erreicht hat, auf der er den eigenen Wert so deutlich als möglich fühlen kann. Der höchste Adel der menschlichen Seele liegt nicht in der demütigen, in der hingebungsvollen Gesinnung. Er liegt in dem stolzen Bewußtsein, daß man sich selbst nicht hoch genug stellen kann. Menschen mit solchem Bewußtsein fühlen die große Verantwortung, die die Persönlichkeit sich selbst gegenüber hat. Sie wollen nichts unterlassen, was geeignet ist, allen Reichtum ihrer Anlagen zur Entfaltung zu bringen. Für sie besteht die menschliche Würde darin, daß sich der Mensch selbst seinen Wert, seine Bedeutung geben muß. Demütige, hingebungsvolle Naturen suchen nach einem Ideale, nach einer Gottheit, die sie verehren, anbeten können. Denn sie fühlen sich, ihrem Wesen nach, klein und wollen, daß ihnen Größe von außen gegeben werde. Sie empfinden nicht, daß der Mensch nur dann der Gipfel der Natur ist, wenn er sich selbst dazu macht. Ihre Schätzung der Welt ist nicht die höchste. Wer sich einen Helden wählt, «dem er die Wege zum Olymp hinauf sich nacharbeitet», der bewertet im Grunde das Dasein doch gering. Wer die Verpflichtung fühlt, aus sich soviel als möglich zu machen, damit sein Wesen zum allgemeinen Werte der Welt beitrage, der schätzt es höher. Aus der Verpflichtung entspringt die Selbstachtung vornehmer Naturen. Und aus ihr geht auch ihre Empfindlichkeit gegen jeden fremden Eingriff in das eigene Selbst hervor. Ihr eigenes Ich will eine Welt für sich sein, damit es ungehindert aus sich heraus sich entwickeln könne.

Nur aus dieser Heilighaltung der eigenen Persönlichkeit kann auch die Schätzung des fremden Ich entspringen. Wer für sich die Möglichkeit freier Entfaltung will, kann gar nicht daran denken, in die Welt der fremden Persönlichkeit einzugreifen. Und damit haben wir den Anarchismus der vornehmen Naturen gegeben. Sie streben aus innerer, seelischer Notwendigkeit nach dieser Weltanschauung.

Den Weg einer solchen Natur verfolgen wir in J. H. Mackays Dichtungen. Nur Menschen mit tiefem Gemüt, mit feinen Empfindungen gehen diesen Weg. Es ist ihnen eigen, jedes Ding in seiner wahren Größe zu sehen. Darum dürfen sie auch die Größe des eigenen Ich suchen. Es ist wahr, daß die stolzen Naturen zumeist aus einer sentimentalen jugendstimmung herauswachsen. Daß sie überschwenglich werden, wenn sie ihre Gefühle gegenüber den Dingen aussprechen. Und diese Sentimentalität, diese Überschwenglichkeit ist Mackays Jugenddichtungen im reichen Maße eigen. Aber schlimm stände es um eine Jugend, welche nicht sentimental, nicht überschwenglich sein könnte. Denn in solcher Gemütsanlage kündigt sich an, daß der Mensch in seiner späteren Entwickelung die wahre Bedeutung der Dinge erkennen werde. Wer in seiner Jugend die Dinge nicht im romantischen Glanze sieht, der wird sie später ganz gewiß nicht in ihrer Wahrheit sehen. Das Große in der Welt wird uns nur dann nicht entgehen, wenn unser Seelenauge auf seine Größe eingestellt ist. Durch solche Anlage ist aber der Mensch in seiner Jugend dazu verleitet, die Dinge in einem idealeren Glanze zu sehen als in dem, den sie wirklich ausstrahlen. Und wenn wir mit Mackay empfinden können, wenn er sagt: «Ich liebe sie nicht, diese Jugend.

Dazu war sie nicht heiter, nicht unbefangen, nicht frei genug», so fühlen wir nicht minder seine anderen Worte nach: «Aber ich habe Achtung vor ihr, vor ihrem unermüdlichen Ringen, ihrem schweigsamen Selbstvertrauen und ihrem einsamen Kampfe.» Gerade der Überschwang der Jugend gibt ihm das Recht, heute sich selbst genug zu fühlen. Ein Selbstbewußtsein, das nicht aus solcher Anlage hervorgeht, flößt uns wenig Vertrauen ein. Nur wer das Bedürfnis hat, die Welt als ein Hohes, Verehrungswürdiges zu empfinden, wird die Kraft besitzen, das Wertvolle auch in sich zu suchen. Aus einer nüchternen Jugend wird eine Reife hervorgehen, welche die Dinge unterschätzt; aus einer überschwenglichen Jugend entwickelt sich eine wahre Wertschätzung der ganzen Welt.

So kündigt sich die spätere, selbstbefreite Natur Mackays in seinen jugenddichtungen an. Seine Naturschilderungen zeigen seinen Hang, die Dinge im Lichte der Größe zu sehen. Wie eine Forderung des späteren Lebensideals klingt es uns, wenn er von Schottlands Bergen in seiner ersten Dichtung «Kinder des Hochlands» singt:

«Wie eine Jungfrau unberührt,
Die nie von Liebe ward verführt,
Sich einem Manne hin zu eigen
Zu geben und ihr Haupt zu neigen,
So stolz und starr, so kraftvoll stark,
Die hehren Glieder voller Mark,
Und wankend nie in ihrem Mut
In stiller Pracht Mull Eiland ruht.»

Aus wahrer Frömmigkeit, die das Bedürfnis hat, der Welt alles zu sein, was sie kann, scheint uns ein Gedicht zu stammen wie das «Über allen Wipfeln», das der Dichter bei einem Besuch in Ilmenau schreibt in der Erinnerung an die Empfindungen, die an demselben Orte durch Goethes Seele zogen:

«Sind dies die Wege? Und du darfst sie gehen ist das nicht großes, unnennbares Glück? Und fühlst du nicht, wie dieser Lüfte Wehen In jene ferne Zeit dich trägt zurück? - Du sinnst - und wandelst still die alten Gleise; Auf deinen Lippen schwebt ein Lied - ein Lied! Du fühlst die Wehmut, wie sie leise, leise Ihn einst umzog - und nun auch dich umzieht.»

Wer so das Große, das Schöne der Welt empfinden kann, dem kommt auch das volle Recht zu, in späteren Jahren die Worte zu sprechen, denen wir in Mackays «Sturm» (1888) begegnen:

«Ich hebe mich empor! - Über die Andern
Erhebt sich hoch und frei mein stolzes Ich!
Wie lange hat es - nach wie langem Wandern?
Gewährt, bis endlich ich gefunden - Mich!
Nun wandere ich allein. Anders erscheint mir
Die Welt, seit ich mich ihr nicht gebe hin:
Kein Lachen lacht mir, und kein Weinen weint mir,
Ich bin kein «Einer» mehr - nur ich ich bin!
Nichts weiß ich heute mehr von jenem Wahne,
Dem letzten, der mich einzwang in sein Joch:
Der nicht mehr müden Hand entsank die Fahne,
Die Liebe heißt. - Ihr lacht? Zermalmt mich doch!»

Wer die Welt zu schätzen vermocht hat, wird auch das Stück Welt achten, an dessen Dasein er selbst arbeiten darf, wenn es schätzenswert ist: das eigene Ich.

Wie tief Mackay mit jeder menschlichen Persönlichkeit zu fühlen vermag, das beweist die tief ergreifende Dichtung «Helene». Die Liebe eines Mannes zu einem gefallenen Mädchen wird hier geschildert. Wenn man das menschliche Ich in solche Abgründe verfolgt, dann gewinnt man auch die Sicherheit, es auf den Höhen zu finden.

An dem Gottesglauben ist das einzig Berechtigte: das in ihm steckende menschliche Gefühl, das nach einem Heiligen strebt. Nur ein Mensch, der das Bedürfnis hat nach heiligen, frommen Gefühlen, hat auch das Recht zum Atheismus. Wer nur deshalb Gott leugnet, weil er nicht den Drang nach dem Heiligen hat, dessen Atheismus erscheint schal und oberflächlich. Man muß, seiner Gemütsanlage nach, fähig sein zum Frommsein: dann darf man sich mit der entgöttlichten Welt zufrieden geben. Denn man hat mit dem Göttlichen nicht zugleich die Größe der Welt ausgetilgt.

Welche große religiöse Stimmung liegt in Mackays Gedicht «Atheismus».

«Vielleicht, wenn einst die müden Augen brechen,
Wenn niedersinkt des Todes finstere Nacht,
Daß ein Gebet dann meine Lippen sprechen,
Das nie im Leben der Verstand gedacht.
Vielleicht, daß ich mit einer Lüge scheide
Von einem Sein, das Wahrheit nur gekannt,
Wenn ich des Lebens letzte Schmerzen leide
In Angst und Nacht und Irrsinn festgebannt.
Dann unterlag mein Geist; dann brach mein Wille!
Dann floh Vernunft! - Doch wenn ich es vermag,
Dann künde noch der letzte Schrei, der schrille,
Dann künde noch des Herzens letzter Schlag:
(Ich glaubte nie an einen Gott da droben,
Den Lügner oder Toren nur uns geben.
Ich sterbe - und ich wüßte nichts zu loben
Vielleicht nur Eins - daß wir nur einmal leben! )»

Wir werden in eine Welt hineingeboren, die uns mit sich fortreißen möchte in ihrem ewigen Wellengange. Die Gedanken, der Wille derer, die vor uns waren, leben fort in unserem Blute. Die Ideen, die Macht derer, die um uns sind, üben unzählige Einflüsse auf uns aus. Mitten in all dem Treiben um und mit uns werden wir unser eigenes Selbst gewahr. Je mehr wir dahin gelangen, das Steuerruder unseres Lebensschiffes in die eigene Hand zu bekommen, desto freier sind wir. Nach solcher Selbstbefreiung strebte der Mann, der uns hier seine Dichtungen vorlegt. Und als sein Glück empfindet er es, daß er sich selbst gefunden hat:

«0 Welt, wie bist du weit!
Mich zieht es über deine Berge.
Mich aber hält die Zeit, der Scherge.
0 Mensch, wie bist du klein!
Groß kannst du dich empor erst heben,
Wenn du gelernt, nur dir allein zu leben.
0 Wahn, wie bist du groß!
Ich gab mich niemals dir zu eigen,
Und ich bezwang das Los, zu schweigen.
Mein Ich, du hebst dein Haupt!
Du warst ein Kind und wardst ein Krieger.
Wer stets an sich geglaubt, bleibt Sieger!»

Dieses Gedicht aus dem letzten Teile der «Gesammelten Dichtungen» aus dem «Starken Jahr» spricht die Gesinnung einer Persönlichkeit aus, die sich selbst gefunden hat.

Aus solchen Empfindungen heraus erwächst der tiefe Groll gegen eine Gesellschaftsordnung, die das Heil der Welt in der Aufrichtung aller möglichen Schranken um den Menschen her sucht. Mit einer solchen Ordnung führt der Dichter Mackay den Krieg, jenen edelsten, unblutigsten Krieg, der nur mit der einen Wage kämpft, die Mensehen zur Anerkennung ihres wahren Wesens zu bringen. Denn ein solcher Krieg nährt sich von dem Glauben, daß die Menschen sich in dem Maße selbst befreien, in dem sie das Bedürfnis nach ihrer Freiheit empfinden.

«Ein Hund ist der, der einen Herren kennt!
Doch wir sind Herren nicht und sind nicht Knechte!
Schamlose Frechheit wagt es noch und nennt
Knecht einen Anderen, dem die gleichen Rechte
Wie ihm gelegt einst in des Lebens Wiege! -
Ein jeder sehe, ob er gehen kann,
Doch keiner sei so hündisch, daß er biege
Sein Knie in Furcht vor einem andern Mann.
Gleich hoch sei jede Menschenstirn gehoben,
Ob sie nun arm sei oder schätzereichl
Ich will mein Recht, du magst das deine loben:
Für mich, für dich, für alle ist es gleich ...»

Mackay mag ruhig sein, wenn andere ihn einen Tendenzdichter nennen, weil er als Künstler eine Weltanschauung zum Ausdruck bringt. Mit wessen ganzer Persönlichkeit diese Weltanschauung so verwachsen ist wie mit der seinigen, der spricht sie aus wie ein anderer das Gefühl der Liebe, das er empfindet. Denn wer sich eine Weltanschauung erkämpft hat, der drückt sie aus als sein eigenes Sein. Und wahrlich, es ist nicht weniger wert, der Menschheit tiefstes Denken und Fühlen auszudrücken als die Neigung zum Weibe oder die Freude am grünen Wald und am Vogelgesang.

Den Schöpfer des großen Kulturgemäldes «Die Anarchisten» sehen wir in dem uns vorliegenden Bande wachsen. Wer ihn kennenlernen will, wie er sich durchgerungen hat zu den Ideen, in deren Verwirklichung er der Menschheit Befreiung sieht, der greife zu diesen «Gesammelten Dichtungen». Er wird empfinden, daß die Klarheit aus Leiden und Enttäuschungen geboren wird. Aber er wird auch den großen Befreiungsweg sehen, der dem Menschen allein jene Selbstbefriedigung bringt, die sein Glück begründen kann.