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Stirner sucht Freiheit auf Kosten der Naturwissenschaft
Quelle: GA 033, S. 123-125, 1. Ausgabe 1967, 12.02.1898
Zwei Hauptströmungen durchziehen die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts. Die erste besteht in einer radikalen Sehnsucht nach Freiheit. Unabhängig wollen wir sein von jeglicher göttlichen Vorsehung, unabhängig von aller Tradition, von anerzogenen und vererbten Elementen des Lebens, unabhängig von dem Einflusse gesellschaftlicher und staatlicher Organisation. Herren unseres eigenen Geschicks wollen wir sein.
Dieser Sehnsucht steht der aus der modernen Naturwissenschaft fließende Glaube entgegen, daß wir ganz eingesponnen sind in das Gewebe einer starren Notwendigkeit. Wir sind Abkömmlinge der höchstentwickelten Säugetiere. Was diese vollbringen, ist eine Wirkung ihrer Organisation. Und auch, was wir Menschen handeln, denken und empfinden, ist ein Ergebnis unserer natürlichen Beschaffenheit. Es [] ist denkbar, daß die Naturwissenschaft soweit kommt, genau nachweisen zu können, wie die Teile unseres Gehirns gelagert sein und sich bewegen müssen, wenn wir eine bestimmte Vorstellung, eine bestimmte Empfindung oder Willensäußerung haben. Wie wir organisiert sind, so müssen wir uns verhalten. Wie kann dieser Erkenntnis gegenüber noch von Freiheit gesprochen werden?
Ich glaube, die Naturwissenschaft kann uns in schönerer Form, als die Menschen es je gehabt haben, das Bewußtsein der Freiheit wiedergeben. In unserem Seelenleben wirken Gesetze, die ebenso natürlich sind wie diejenigen, welche die Himmelskörper um die Sonne treiben. Aber diese Gesetze stellen ein Etwas dar, das höher ist als alle übrige Natur. Dieses Etwas ist sonst nirgends vorhanden als in den Menschen. Was aus diesem fließt, darinnen ist der Mensch frei. Er erhebt sich über die starre Notwendigkeit der unorganischen und organischen Gesetzmäßigkeit, gehorcht und folgt nur sich selbst. Die christliche Anschauung dagegen ist die, daß in diesem Gebiete, das der Mensch über die Natur hinaus für sich selbst hat, die göttliche Vorsehung waltet.
Einen Ausgleich zwischen dem Glauben an die starre Naturnotwendigkeit und dem Drange nach Freiheit hat Henrik Ibsen nicht finden können. Seine Dramen zeigen, daß er zwischen den beiden extremen Bekenntnissen hin- und herschwankt. Bald läßt er seine Personen nach Freiheit ringen, bald läßt er sie Glieder einer eisernen Notwendigkeit sein.
Erst Friedrich Nietzsche hat die Emanzipation der menschlichen von der übrigen Natur gelehrt. Der Mensch soll keinem überirdischen und keinem bloßen Naturgesetze [] folgen. Er soll nicht ein Spielball der göttlichen Vorsehung und nicht ein Glied in der Naturnotwendigkeit sein. Er soll der Sinn der Erde sein, das heißt das Wesen, das in voller Unabhängigkeit sich selbst auslebt. Aus sich heraus soll er sich entwickeln und keinem Gesetze unterliegen. Dies ist Nietzsches Ethik. Dies liegt seiner Vorstellung von einer «Umwertung aller Werte» zugrunde. Bisher hat man den Menschen begünstigt, der am besten den Gesetzen folgt, die man als die göttlichen oder die naturgemäßen zu erkennen glaubt. Ein Bild der Vollkommenheit hat man dem Menschen vorgehalten. Den Menschen, der nur aus sich heraus leben wollte, der jenem Bilde nicht nachstrebte, hat man als einen Störenfried der allgemeinen Ordnung betrachtet. Das soll anders werden. Der Typus, der nach all der Stärke, der Macht, der Schönheit, die nicht vorgezeichnet sind, sondern die in ihm selbst liegen, strebt, soll frei sich entwickeln können. Der Mensch, der nur nach dem Gesetze lebt, soll eine Brücke sein zwischen dem Tiere und dem Übermenschen, der das Gesetz selbst schafft.
Aller Jenseitsglaube wird überwunden sein, wenn der Mensch auf sich selbst sein Dasein zu bauen gelernt haben wird.
