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Freiheit als Gefühl statt innerstes Erlebnis
Quelle: GA 006, S. 083-095, 5. Ausgabe 1963, 1897
Goethe macht einmal die Bemerkung: «Wer sie (meine Schriften) und mein Wesen überhaupt verstehen gelernt, wird doch bekennen müssen, daß er eine gewisse innere Freiheit gewonnen.» (Unterhaltungen mit dem Kanzler von Müller, 5. Jan. 1831.) Damit hat er auf die wirkende Kraft hingedeutet, die sich in allem menschlichen Erkenntnisstreben geltend macht. Solange der Mensch dabei stehen bleibt, die Gegenstände um sich her wahrzunehmen und ihre Gesetze als ihnen eingepflanzte Prinzipien zu betrachten, von denen sie beherrscht werden, hat er das Gefühl, daß sie ihm als unbekannte Mächte gegenüberstehen, die auf ihn wirken und ihm die Gedanken ihrer Gesetze aufdrängen.
Er fühlt sich den Dingen gegenüber unfrei; er empfindet die Gesetzmäßigkeit der Natur als starre Notwendigkeit, der er sich zu fügen hat. Erst wenn der Mensch gewahr wird, daß die Naturkräfte nichts anderes sind als Formen desselben Geistes, der auch in ihm selbst wirkt, geht ihm die Einsicht auf, daß er der Freiheit teilhaftig ist. Die Naturgesetzlichkeit wird nur so lange als Zwang empfunden, so lange man sie als fremde Gewalt ansieht. Lebt man sich in ihre Wesenheit ein, so empfindet man sie als Kraft, die man auch selbst in seinem Innern betätigt; man empfindet sich als produktiv mitwirkendes Element beim Werden und Wesen der Dinge. Man ist Du und Du mit aller Werdekraft. Man hat in sein eigenes Tun das aufgenommen, was man sonst nur als äußeren Antrieb empfindet. Dies ist der Befreiungs-Prozeß, den im Sinne der Goetheschen Weltanschauung der Erkenntnisakt bewirkt. Klar hat Goethe die Ideen des Naturwirkens angeschaut, als sie ihm aus den italienischen Kunstwerken entgegenblickten. Eine klare Empfindung hatte er auch von der befreienden Wirkung, die das Innehaben dieser Ideen auf den Menschen ausübt. Eine Folge dieser Empfindung ist seine Schilderung derjenigen Erkenntnisart, die er als die der umfassenden Geister bezeichnet. «Die Umfassenden, die man in einem stolzern Sinne die Erschaffenden nennen könnte, verhalten sich im höchsten Grade produktiv; indem sie nämlich von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus, und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur, sieh in diese Idee zu fügen.» Zu der unmittelbaren Anschauung des Befreiungsaktes hat es aber Goethe nie gebracht.
Diese Anschauung kann nur derjenige haben, der sich selbst in seinem Erkennen belauscht. Goethe hat zwar die höchste Erkenntnisart ausgeübt; aber er hat diese Erkenntnisart nicht an sich beobachtet. Gesteht er doch selbst:
«Wie hast du's denn so weit gebracht? Sie sagen, du habest es gut vollbracht!» Mein Kind! ich hab' es klug gemacht, Ich habe nie über das Denken gedacht.
Aber so wie die schöpferischen Naturkräfte «nach tausendfältigen Pflanzen» noch eine machen, worin «alle übrigen enthalten» sind, so bringen sie auch nach tausendfältigen Ideen noch eine hervor, worin die ganze Ideenwelt enthalten ist. Und diese Idee erfaßt der Mensch, wenn er zu der Anschauung der andern Dinge und Vorgänge auch diejenige des Denkens fügt. Eben weil Goethes Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung erfüllt war, weil sein Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken war: deshalb konnte er nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstande des Denkens zu machen. Die Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch die Anschauung des Denkens. Den Unterschied zwischen Denken über das Denken und Anschauung des Denkens hat Goethe nicht gemacht. Sonst wäre er zur Einsicht gelangt, daß man gerade im Sinne seiner Weltanschauung es wohl ablehnen könne, über das Denken zu denken, daß man aber doch zu einer Anschauung der Gedankenwelt kommen könne. An dem Zustandekommen aller übrigen Anschauungen ist der Mensch unbeteiligt. In ihm leben die Ideen dieser Anschauungen auf.
Diese Ideen würden aber nicht da sein, wenn in ihm nicht die produktive Kraft vorhanden wäre, sie zur Erscheinung zu bringen. Wenn auch die Ideen der Inhalt dessen sind, was in den Dingen wirkt; zum erscheinenden Dasein kommen sie durch die menschliche Tätigkeit. Die eigene Natur der Ideenwelt kann also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Tätigkeit anschaut. Bei jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses Geschehens zu forschen, denn dieses Geschehen ist die Idee selbst. Die sonst erlebte Einheit von Anschauung und Idee ist hier Erleben der anschaulich gewordenen Geistigkeit der Ideenwelt. Der Mensch, der diese in sich selbst ruhende Tätigkeit anschaut, fühlt die Freiheit. Goethe hat diese Empfindung zwar erlebt, aber nicht in der höchsten Form ausgesprochen. Er übte in seiner Naturbetrachtung eine freie Tätigkeit; aber sie wurde ihm nie gegenständlich. Er hat nie hinter die Kulissen des menschlichen Erkennens geschaut und deshalb die Idee des Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner höchsten Metamorphose nie in sein Bewußtsein aufgenommen. Sobald der Mensch zur Anschauung dieser Metamorphose gelangt, bewegt er sich sicher im Reich der Dinge.
Er hat in dem Mittelpunkte seiner Persönlichkeit den wahren Ausgangspunkt für alle Weltbetrachtung gewonnen. Er wird nicht mehr nach unbekannten Gründen, nach außer ihm liegenden Ursachen der Dinge forschen; er weiß, daß das höchste Erlebnis, dessen er fähig ist, in der Selbstbetrachtung der eigenen Wesenheit besteht. Wer ganz durchdrungen ist von den Gefühlen, die dieses Erlebnis hervorruft, der wird die wahrsten Verhältnisse zu den Dingen gewinnen. Bei wem das nicht der Fall ist, der wird die höchste Form des Daseins anderswo suchen, und, da er sie in der Erfahrung nicht finden kann, in einem unbekannten Gebiet der Wirklichkeit vermuten. Seine Betrachtung der Dinge wird etwas Unsicheres bekommen; er wird sich bei der Beantwortung der Fragen, die ihm die Natur stellt, fortwährend auf ein Unerforschliches berufen. Weil Goethe durch sein Leben in der Ideenwelt ein Gefühl hatte von dem festen Mittelpunkt, innerhalb der Persönlichkeit, ist es ihm gelungen, innerhalb bestimmter Grenzen im Naturbetrachten zu sicheren Begriffen zu kommen. Weil ihm aber die unmittelbare Anschauung des innersten Erlebnisses abging, tastet er außer halb dieser Grenzen unsicher umher. Er redet aus diesem Grunde davon, daß der Mensch nicht geboren sei, «die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreif lichen zu halten». Er sagt: «Kant hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei, und daß er die unauflöslichen Probleme liegen ließ.» Hätte ihm die Anschauung des höchsten Erlebnisses Sicherheit in der Betrachtung der Dinge gegeben, so hätte er auf seinem Wege mehr gekonnt als «durch geregelte Erfahrung zu einer Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen».
Statt geradewegs durch die Erfahrung durchzuschreiten in dem Bewußtsein, daß das Wahre nur eine Bedeutung hat, insoweit es von der menschlichen Natur gefordert wird, gelangt er doch zu der Überzeugung, daß «ein höherer Einfluß die Standhaften, die Tätigen, die Verständigen, die Geregelten und Regelnden, die Menschlichen, die Frommen» begünstige, und daß sich «die moralische Weltordnung» am schönsten da zeige, wo sie «dem Guten, dem wacker Leidenden mittelbar zu Hilfe kommt».
Weil Goethe das innerste menschliche Erlebnis nicht kannte, war es ihm unmöglich, zu den letzten Gedanken über die sittliche Weltordnung zu gelangen, die zu seiner Naturanschauung notwendig gehören. Die Ideen der Dinge sind der Inhalt des in den Dingen Wirksamen und Schaffenden. Die sittlichen Ideen erlebt der Mensch unmittelbar in der Ideenform. Wer zu erleben imstande ist, wie in der Anschauung der Ideenwelt das Ideelle sich selbst zum Inhalt wird, sich mit sich selbst erfüllt, der ist auch in der Lage, die Produktion des Sittlichen innerhalb der menschlichen Natur zu erleben. Wer die Naturideen nur in ihrem Verhältnis zu der Anschauungswelt kennt, der wird auch die sittlichen Begriffe auf etwas ihnen Äußeres beziehen wollen. Er wird eine ähnliche Wirklichkeit für diese Begriffe suchen, wie sie für die aus der Erfahrung gewonnenen Begriffe vorhanden ist. Wer aber Ideen in ihrer eigensten Wesenheit anzuschauen vermag, der wird bei den sittlichen gewahr, daß nichts Äußeres ihnen entspricht, daß sie unmittelbar im Geist-Erleben als Ideen produziert werden. Ihm ist klar, daß weder ein nur äußerlich wirkender göttlicher Wille, noch eine solche sittliche Weltordnung wirksam sind, um diese Ideen zu erzeugen.
Denn es ist in ihnen nichts von einem Bezug auf solche Gewalten zu bemerken. Alles was sie aussprechen, ist in ihrer geistig erlebten reinen Ideenform auch eingeschlossen. Nur durch ihren eigenen Inhalt wirken sie auf den Menschen als sittliche Mächte. Kein kategorischer Imperativ steht mit der Peitsche hinter ihnen und drängt den Menschen, ihnen zu folgen. Der Mensch empfindet, daß er sie selbst hervorgebracht hat und liebt sie, wie man sein Kind liebt. Die Liebe ist das Motiv des Handelns. Die geistige Lust am eigenen Erzeugnis ist der Quell des Sittlichen.
Es gibt Menschen, die keine sittlichen Ideen zu produzieren vermögen. Sie nehmen diejenigen anderer Menschen durch Überlieferung in sich auf. Und wenn sie kein Anschauungsvermögen für Ideen als solche haben, erkennen sie den im Geiste erlebbaren Ursprung des Sittlichen nicht. Sie suchen ihn in einem übermenschlichen, ihnen äußerlichen Willen. Oder sie glauben, daß eine außerhalb der menschlich erlebten Geistwelt bestehende objektive sittliche Weltordnung bestehe, aus der die moralischen Ideen stammen. In dem Gewissen des Menschen wird oft das Sprachorgan dieser Weltordnung gesucht. Wie über gewisse Dinge seiner übrigen Weltanschauung ist Goethe auch in seinen Gedanken über den Ursprung des Sittlichen unsicher. Auch hier treibt sein Gefühl für das Ideengemäße Sätze hervor, die den Forderungen seiner Natur gemäß sind. «Pflicht: wo man liebt, was man sich selbst befiehlt.» Nur wer die Gründe des Sittlichen rein in dem Inhalt der sittlichen Ideen sieht, sollte sagen: «Lessing, der mancherlei Beschränkung unwillig fühlte, läßt eine seiner Personen
sagen: Niemand muß müssen. Ein geistreicher, frohgesinnter Mann sagte: Wer will, der muß. Ein dritter, freilich ein Gebildeter, fügte hinzu: Wer einsieht, der will auch. Und so glaubte man den ganzen Kreis des Erkennens, Wollens und Müssens abgeschlossen zu haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntnis des Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Tun und Lassen; deswegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit handeln zu sehen.» Daß in Goethe ein Gefühl für die echte Natur des Sittlichen herrscht, welches sich nur nicht zur klaren Anschauung erhebt, zeigt folgender Ausspruch: Der Wille «muß, um vollkommen zu werden ..., sich im Sittlichen dem Gewissen, das nicht irrt ... fügen ... Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, mit ihm ist alles gegeben; es hat nur mit der innern eigenen Welt zu tun.» Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, kann nur heißen: der Mensch findet in sich keinen sittlichen Inhalt ursprünglich vor; er gibt sich ihn selbst. Diesen Aussprüchen stehen andere gegenüber, die den Ursprung des Sittlichen in ein Gebiet außerhalb des Menschen verlegen: «Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick forschend und sehnend zum Himmel auf... weil er es tief und klar in sich fühlt, daß er ein Bürger jenes geistigen Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen, noch aufzugeben vermögen.» «Was gar nicht aufzulösen ist, überlassen wir Gott als dem allbedingenden und allbefreienden Wesen.»
Für die Betrachtung der innersten Menschennatur, für die Selbstbeschauung fehlt Goethe das Organ.
«Hierbei bekenn' ich, daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.» Davon ist gerade das Umgekehrte wahr: der Mensch kennt die Welt nur, insofern er sich kennt. Denn in seinem Innern offenbart sich in ureigenster Gestalt, was in den Außendingen nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol als Anschauung vorhanden ist. Wovon der Mensch sonst nur als von einem Unergründlichen, Unerforschlichen, Göttlichen sprechen kann: das tritt ihm in der Selbstanschauung in wahrer Gestalt vor Augen. Weil er in der Selbstanschauung das Ideelle in unmittelbarer Gestalt sieht, gewinnt er die Kraft und Fähigkeit, dieses Ideelle auch in aller äußeren Erscheinung, in der ganzen Natur aufzusuchen und anzuerkennen. Wer den Augenblick der Selbstanschauung erlebt hat, denkt nicht mehr daran, hinter den Erscheinungen einen «verborgenen» Gott zu suchen: er ergreift das Göttliche in seinen verschiedenen Metamorphosen in der Natur. Goethe bemerkte in Beziehung auf Schelling: «Ich würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerstört bei mir die Poesie, und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt treibt. Indem ich mich nie rein spekulativ erhalten kann, sondern gleich zu jedem Satze eine Anschauung suchen muß und deshalb gleich in die Natur hinaus fliehe.» Die höchste Anschauung, die Anschauung der Ideenwelt selbst, hat er eben nicht finden können.
Sie kann die Poesie nicht zerstören, denn sie befreit den Geist nur von allen Vermutungen, daß in der Natur ein Unbekanntes, Unergründliches sein könne. Dafür aber macht sie ihn fähig, sich unbefangen ganz den Dingen hinzugeben; denn sie gibt ihm die Überzeugung, daß aus der Natur alles zu entnehmen ist, was der Geist von ihr nur wünschen kann.
Die höchste Anschauung befreit aber den Menschengeist auch von allem einseitigen Abhängigkeitsgefühl. Er fühlt sich durch ihren Besitz souverän im Reiche der sittlichen Weltordnung. Er weiß, daß die Triebkraft, die alles hervorbringt, in seinem Innern als in seinem eigenen Willen wirkt, und daß die höchsten Entscheidungen über Sittliches in ihm selbst liegen. Denn diese höchsten Entscheidungen fließen aus der Welt der sittlichen Ideen, bei deren Produktion die Seele des Menschen anwesend ist. Mag der Mensch im einzelnen sich beschränkt fühlen, mag er auch von tausend Dingen abhängig sein; im ganzen gibt er sich sein sittliches Ziel und seine sittliche Richtung. Das Wirksame aller übrigen Dinge kommt im Menschen als Idee zur Erscheinung; das Wirksame im Menschen ist die Idee, die er selbst hervorbringt. In jeder einzelnen menschlichen Individualität vollzieht sich der Prozeß, der im Ganzen der Natur sich abspielt: die Schöpfung eines Tatsächlichen aus der Idee heraus. Und der Mensch selbst ist der Schöpfer. Denn auf dem Grunde seiner Persönlichkeit lebt die Idee, die sich selbst einen Inhalt gibt. Über Goethe hinausgehend, muß man seinen Satz erweitern, die Natur sei «in dem Reichtum der Schöpfung so groß, nach tausendfältigen Pflanzen eine zu machen, worin alle übrigen enthalten sind, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält, den Menschen».
Die Natur ist in ihrer Schöpfung so groß, daß sie den Prozeß, durch den sie frei aus der Idee heraus alle Geschöpfe hervorbringt, in jedem Menschenindividuum wiederholt, indem die sittlichen Handlungen aus dem ideellen Grunde der Persönlichkeit entspringen. Was der Mensch auch als objektiven Grund seines Handelns empfindet, es ist alles nur Umschreibung und zugleich Verkennung seiner eigenen Wesenheit. Sich selbst realisiert der Mensch in seinem sittlichen Handeln. In lapidaren Sätzen hat Max Stirner diese Erkenntnis in seiner Schrift «Der Einzige und sein Eigentum» ausgesprochen. «Eigner bin ich meiner Gewalt, und ich bin es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins. Stell'ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen: ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt.» Aber zugleich darf der Mensch zu diesem Stirnerschen Geist, wie Faust zu Mephistopheles sagen: -«In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden», denn in meinem Innern wohnt in individueller Bildung die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All schafft. So lange der Mensch in sich diese Wirkungskraft nicht geschaut hat, wird er sich ihr gegenüber erscheinen wie Faust dem Erdgeist gegenüber. Sie wird ihm stets die Worte zurufen: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!» Erst die Anschauung des tiefsten Innenlebens zaubert diesen Geist hervor, der von sich sagt:
In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall' ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselnd Weben,
Ein glühend Leben,
So schaff'ich am sausenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Ich habe in meiner «Philosophie der Freiheit» darzustellen versucht, wie die Erkenntnis, daß der Mensch in seinem Tun auf sich selbst gestellt ist, hervorgeht aus dem innersten Erlebnis, aus der Anschauung der eigenen Wesenheit. Stirner hat 1844 die Ansicht verteidigt, daß der Mensch, wenn er sich wahrhaft versteht, nur in sich selbst den Grund für seine Wirksamkeit sehen könne. Bei ihm geht aber diese Erkenntnis nicht aus der Anschauung des innersten Erlebnisses, sondern aus dem Gefühle der Freiheit und Ungebundenheit gegenüber allen Zwang heischenden Weltmächten hervor. Stirner bleibt bei der Forderung der Freiheit stehen; er wird auf diesem Gebiete zu der denkbar schroffsten Betonung der auf sich selbst gestellten Menschennatur geführt. Ich versuche auf breiterer Basis das Leben in der Freiheit zu schildern, indem ich zeige, was der Mensch erblickt, wenn er auf den Grund seiner Seele sieht. Goethe ist bis zu der Anschauung der Freiheit nicht gekommen, weil er eine Abneigung gegen die Selbsterkenntnis hatte. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätte die Erkenntnis des Menschen als einer freien, auf sich selbst gegründeten Persönlichkeit die Spitze seiner Weltanschauung bilden müssen.
Die Keime zu dieser Erkenntnis treten uns bei ihm überall entgegen; sie sind zugleich die Keime seiner Naturansicht.