Mayreder: Stirner Philosoph bis zur Absurdität

Quelle: GA 039, S. 262-264, 2. Ausgabe 1987, 25.08.1895

Nun, lieber Freund: ich meine ganz und gar nicht, daß Sie an einer Überschätzung der logischen Schärfe und Konsequenz des Denkens leiden. Wenn jemand daran leidet, so bin ich es. Sie haben in früheren Zeiten öfter meine Äußerungen in dieser Hinsicht niedergedämpft - zu meinem heimlichen Erstaunen. Denn es war mir eine Zeitlang schlechtweg undenkbar, daß Konsequenz des Denkens nicht das höchste in allen philosophischen Problemen bedeuten sollte. Ich meine zwar durchaus nicht, daß Konsequenz des Denkens und sonst nichts schon einen Philosophen ausmacht; aber da einmal das begriffliche Denken die europäische Methode des Erkennens ist, so scheint mir dasjenige, was dem begrifflichen Denken seinen Hauptwert, seine Zuverlässigkeit, seine Präzision verleiht, nämlich eben die Logik und Konsequenz, als geistige Qualität in allererster Linie zu stehen.

Nur diejenigen, welche die indische Methode der «innerlichen Versenkung» für den probateren Weg des Erkennens halten, können die genannten Qualitäten unterschätzen. Sie, lieber Freund, gehören keineswegs darunter - und wenn ich auch vollkommen Ihrem Ausspruch über die Mitwirkung der Phantasie zustimme, so bleibt es mir doch nicht verständlich, warum Sie von Stirner nicht gelten lassen wollen, daß sein größter Vorzug gegenüber Nietzsche Logik und Konsequenz ist. Denn vor allem «Der Einzige und sein Eigentum» ist, respektlos ausgedrückt, konsequent bis zur Absurdität. Was aber nicht hindert, daß es ein ganz großes Werk ist - von dem man, mit einer Modifikation eines bekannten Wortes, wohl sagen darf: vereor, quia absurdum est. Ich finde den hauptsächlichen Unterschied zwischen Stirner und Nietzsche - auf eine knappe Formel gebracht - darin, daß Stirner von einem Begriff, Nietzsche von einer intellektuellen Anschauung ausging. Sie, lieber Freund, sind allerdings anderer Meinung. Aber mir fehlt offenbar die Kenntnis jener Daten, durch welche Ihr Urteil über Stirner - für mich so überraschend - bestimmt wird; denn aus dem «Einzigen» allein haben Sie wohl den Eindruck, den Sie in Ihrem Briefe so bestechend formulieren, nicht geschöpft?

Was ich mit meinen Äußerungen über Nietzsche sagen wollte, war eigentlich nur, daß ich Nietzsche mehr als Künstler, denn als Philosophen schätze. Wenn ich sagen sollte, worin ich uneingeschränkt mit ihm übereinstimme, so finde ich einen einzigen Punkt. Und das ist seine unbedingte Ablehnung aller «Hinter-Welts-Gedanken, aller Interpretation der Welt durch Metaphysik». Und daß ich es nur gleich sage: für mich liegt Ihre wahre Bedeutung nicht dort, wo Sie mit Nietzsche übereinstimmen, sondern wo Sie sein Gegner sind. Daß Sie mit Nietzsche oder mit irgendeinem anderen ruhmreichen Geist übereinstimmen, scheint mir in Ansehung Ihrer spezifischen Geistesleistung ganz irrelevant; vielleicht hat mich auch deshalb Ihre Schrift über Nietzsche nicht so unbedingt angesprochen wie Ihre anderen Schriften. Für Ihre spezifische Geistesleistung, für dasjenige, wodurch Sie sich vor allen andern Denkern der naturwissenschaftlichen Ära auszeichnen, halte ich Ihre Betonung der menschlichen Freiheit und das neue Fundament, welches Sie derselben gegeben haben.

Nichts aber ist mir unerträglicher als die Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Willens nach Schopenhauerscher Beweisführung, die Nietzsche kritiklos In seine Weltanschauung hinübergenommen hat. Nicht Gott - wie Sie in Ihrem vorletzten Briefe sagen - ist mir der Gegenpol des in sich gefestigten Menschen; denn der immanente Gott nach mystischer Auffassung scheint mir nur eine andere Ausdrucksform des individualistischen Weltgedankens. Dasjenige Prinzip aber, das gänzlich unvereinbar ist mit der Bedeutung der Persönlichkeit, das die Persönlichkeit unrettbar vernichtet, das ist das Prinzip der Notwendigkeit alles Geschehens. Die bewußte Persönlichkeit herabgewürdigt zu der Bedeutung eines beliebigen Steines, der von einem unberechenbaren und unerbittlichen Kausalgesetz hin- und hergewälzt wird - überbietet denn diese Meisterleistung des Denkens nicht alles, was die christliche Auffassung über die Hinfälligkeit und Nichtigkeit des Menschen aussagt? Und diese, auf die Notwendigkeit alles Geschehens basierte, völlige Unverantwortlichkeit nimmt Nietzsche zum Ausgangspunkt für die neue Zukunft des Menschen! Sich vom blinden Wollen zum bewußten Wollen erhoben zu haben, das allein erscheint mir als das Kriterium der Persönlichkeit; und ich kann mir unmöglich ein bewußtes Wollen ohne den Willen zur Verantwortlichkeit vorstellen. Wenn ich in meinem Tun nichts sein soll als das blinde Werkzeug eines allgemeinen Weltgeschehens, das durch mich hindurch wirkt, «hinter dem Rücken meines Bewußtseins», dann allerdings gäbe es nur einen Weg - die Aufgabe der Persönlichkeit nach indischem Rezepte. Und deshalb halte ich es für Ihre große Geistestat, daß Sie die «Konsequenz des Denkens» hatten, zu erkennen, daß es keinen wirklichen Individualismus geben kann ohne die Voraussetzung der Freiheit.