Nietzsche - Strafe ist Sieg der Mehrheitsinstinkte über Einzelinstinkte

Quelle: GA 005, S. 079, 4. Ausgabe 2000, 1895

Was das Herkommen als böse bezeichnet, sieht der Immoralist ebenso als Ausfluß menschlicher Instinkte an, wie das Gute. Die Strafe gilt ihm nicht als moralisch bedingt, sondern nur als ein Mittel, Instinkte gewisser Menschen, die andern schädlich sind, auszurotten. Die Gesellschaft straft nach Ansicht des Immoralisten nicht deswegen, weil sie ein «moralisches Recht» hat, die Schuld zu sühnen, sondern allein, weil sie sich stärker erweist, als der Einzelne, welcher der Gesamtheit widerstrebende Instinkte hat. Die Macht der Gesellschaft steht gegen die Macht des Einzelnen. Dies ist der natürliche Zusammenhang einer «bösen» Handlung des Einzelnen mit der Rechtsprechung der Gesellschaft und der Bestrafung dieses Einzelnen. Es ist der Wille zur Macht, das heißt zum Ausleben jener Instinkte, die bei der Mehrzahl der Menschen vorhanden sind, der sich in der Rechtspflege einer Gesellschaft äußert. Der Sieg einer Mehrheit über einen Einzelnen ist jede Bestrafung. Siegte der Einzelne über die Gesellschaft, so müßte seine Handlungsweise als gut, die der andern als böse bezeichnet werden. Das jeweilige Recht drückt nur aus, was die Gesellschaft eben als die beste Grundlage ihres Willens zur Macht anerkennt.