Stirner fehlt der Idealismus

Quelle: GA 032, S. 166-169, 2. Ausgabe 1971, 16.07.1892

Wenige Erscheinungen der gegenwärtigen philosophischen Literatur können sich an Tiefsinn, scharfgeprägter Begriffsgestaltung und wissenschaftlicher Gründlichkeit mit diesem Buche messen. Wir haben es mit einer sehr bedeutenden Publikation zu tun. Der Verfasser hat dasjenige, was heute so vielen fehlt: den Mut des Gedankens, der sich an die zentralen Weltprobleme heranwagt, und auch das notwendige Vertrauen in unsere menschliche Denkkraft, das zur Lösung der höchsten Aufgaben gehört. Schellwien ist Idealist. Er hält die erfahrungsmäßig gegebenen Erscheinungen für einen durch das «Ich» des Menschen aus dem dunklen Meere des Unbewußten in die Sphäre des Bewußten heraufgehobenen Inhalt. Das «Ich» ist zwar nur Nachschöpfer, aber insofern die in demselben lebende und wirkende Kraft identisch ist mit der Urkraft des Universums, ist es zugleich der Schöpfer des uns gegebenen Weltinhalts. Den letzteren als eine Geburt aus dem Unbewußten, die durch das «Ich» zustande kommt, zu begreifen, ist für Schellwien die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Die Gesetze, welche die Welt konstituieren, sind für Schellwien nur die Gesetze des eigenen «Ich», die uns als Objekt gegenübertreten.

Treffend führt der Verfasser aus, wie die mechanische Naturerklärung daraus entspringt, daß der Mensch im Objekte wohl die Gesetzlichkeit wahrnimmt, aber sich dessen nicht bewußt ist, daß diese Gesetze im letzten Grunde die seines eigenen geistigen Organismus sind. Auf diese Weise kommt er zu der Ansicht, in jeder Erscheinung der Welt ein zweifaches anzuerkennen: die gegebene, objektive Seite, und die subjektive, den Begriff oder die Idee der Sache. Beide zusammen sind ihm gleich wichtig für das Erfassen der vollen Wirklichkeit. Damit nähert er sich der Auffassung, die der Schreiber dieser Zeilen selbst vertritt und wiederholt ausgesprochen hat. Zuletzt in seiner Schrift: «Wahrheit und Wissenschaft» (Weimar, Herrn. Weißbach, 1892) S. 34 mit den Worten: «Das Erkennen beruht also darauf, daß uns der Weltinhalt ursprünglich in einer Form gegeben ist, die ihn nicht ganz enthüllt, sondern die außer dem, was sie unmittelbar darbietet, noch eine zweite wesentliche Seite hat. Diese zweite, ursprünglich nicht gegebene Seite des Weltinhaltes wird durch die Erkenntnis enthüllt. Was uns im Denken abgesondert erscheint, sind also nicht leere Formen, sondern eine Summe von Bestimmungen (Kategorien), die aber für den Weltinhalt Form sind. Erst die durch die Erkenntnis gewonnene Gestalt des Weltinhalts, in der beide aufgezeigte Seiten desselben vereinigt sind, kann Wirklichkeit genannt werden.» Auch Schellwien glaubt nicht an die öde Philisteransicht, daß die Weltgesetzlichkeit nur in Raum und in der Zeit vorhanden sei, und daß der Menschengeist als ein leeres Gefäß in eine Ecke geworfen ist, um da zu stehen, bis ihm irgendein Tropfen erfahrungsmäßiger Erkenntnis zufällig hineinfällt. Er denkt sich den Geist nicht so weltvergessen, sondern inhaltvoll, so daß etwas herauskommt, wenn er die in seinen Tiefen liegenden Schätze an die Oberfläche schafft.

Der Verfasser will der Erfahrung ihre Bedeutung durchaus nicht absprechen: aber er weiß, daß wir über das eigentliche Wesen der Welt uns nur dadurch aufklären können, daß wir die Lösung des eigentlichen Rätsels in dem wackeren Entrollen des eigenen «Ich» suchen. Schellwien schreibt diese Entwickelung unseres Geistesinhaltes diesem Willen zu. Hierin können wir ihm nicht zustimmen. Dieser Wille ist überflüssig. Der Geistesinhalt ist die Kraft in sich, die sich aus sich selbst entfaltet. Der Verfasser hat sich in diesem Punkte von dem Schopenhauerianismus, von dem er offenbar ausgegangen ist, noch nicht genügend freigemacht. Erst wenn er diese Krücke völlig ablegen wird, kann er das ursprüngliche Licht des absoluten, auf seinen eigenen Inhalt gestützten Geistes klar erkennen. Er wird dann einsehen, daß die Idee nicht die Beihilfe des Willens braucht, um zu sein, sondern daß die Willensphänomene selbst in ihren Tiefen auf die Idee zurückführen. Schellwien zeigt sich im ganzen als ein Philosoph, der den Inhalt seiner Wissenschaft aus dem Wesen der menschlichen Individualität schöpfen will. Aber nicht das Ich als einzelnes, willkürliches ist sein Untergrund, sondern das Konkret-Persönliche, welches vor allen andern Weltwesenheiten den Vorzug hat, daß es das Allgemeine, Abstrakte als Konkretes, Inhaltvolles enthält. Er erhebt sich dadurch über Stirner und Nietzsche, von denen er in den beiden ersten Kapiteln seines Buches eine vortreffliche Charakterisierung gibt.