Kulturfortschritt durch Verschiedenheit statt Einheit der Völker und Individuen

Quelle: GA 031, S. 164-176, 2. Ausgabe 1966, 1892

Eine «Gesellschaft für ethische Kultur» in Deutschland

Es geht so nicht mehr weiter, wie wir es bis jetzt getrieben haben. Der tief in den Staub getretenen Sittlichkeit muß wieder aufgeholfen werden! So dachte eine Anzahl wohlmeinender Menschen, und sie begründeten einen «Verein für ethische Kultur». Soeben ging von Berlin aus die Nachricht durch die Zeitungen, daß diese neue Anstalt zum Heile der Menschheit ins Leben getreten ist, und die Aufforderung sich anzuschließen. Und wir finden unter den Begründern manchen Namen, der einer von uns verehrten Persönlichkeit angehört. Der Zweck des Vereins soll sein, gegenüber allen religiösen und sittlichen Besonderheiten der einzelnen Religionen und Kulturen das Allgemein-Menschliche hervorzukehren und dies zum Träger seiner Weltanschauung und Lebensführung zu machen.

[...] Der Grundirrtum, der hier zugrunde liegt, ist der Glaube an eine allgemein-menschliche Sittlichkeit. So wenig der «Mensch im allgemeinen» möglich, sondern nur eine begriffliche Fiktion ist, so wenig kann von einer Ethik im allgemeinen gesprochen werden. Jedes Volk, jedes Zeitalter, ja im Grunde jedes Individuum hat seine eigene Sittlichkeit. Der Denker kann dann das Gemeinsame aller dieser sittlichen Anschauungen aufsuchen, er kann nach den treibenden Kräften forschen, die in allen gleich wirksam sind. Aber das dadurch erlangte Ergebnis hat nur einen theoretischen Wert. Es ist für die Erkenntnis der ethischen Natur des Menschen, seiner sittlichen Wesenheit, unendlich wichtig; zum Träger der Lebensführung kann es nie und nimmer gemacht werden. Und es kann nichts Befriedigenderes geben, als daß dies nicht möglich ist. An die Stelle des individuellen Auslebens der Volks- und Menschennaturen, der Zeitalter und Individuen träte sonst schablonenhaftes Handeln sittlicher Puppen, die an den Fäden der allgemein-menschlichen Sittenlehre immer aufgezogen würden.

Nirgends mehr als im sittlichen Leben kann der Grundsatz gelten: leben und leben lassen! Die jeweilige Sittlichkeit eines Menschen oder eines Zeitalters ist das unbewußte Ergebnis seiner Welt- und Lebensanschauung. Gemäß einer gewissen Art des Denkens und Fühlens gewinnt das Handeln ein individuelles Gepräge; und nie kann an eine abgesonderte Pflege des letzteren gedacht werden. Eine Elite der Gebildeten arbeitet heute an einer Neugestaltung unserer Lebensanschauung, sowohl in bezug auf Wissenschaft wie auf Religion und Kunst. Jeder tut das Seine dazu. Was dabei herauskommt, das wird bestimmend für unser Handeln werden. Die Pflege des Wissens, der Wahrheit, der künstlerischen Anschauungen kann der Inhalt gemeinsamer Bestrebungen sein. Sie wird dann von selbst eine in vielen Dingen gemeinsame Ethik zur Folge haben. Lege jeder offen dar, was er weiß, bringe er auf den öffentlichen Plan das, was er geleistet hat; kurz, lebe er sich nach jeder Richtung hin aus: dann wird er der Gesamtheit mehr sein, als wenn er mit der Prätention vor sie hintritt, ihr sagen zu können, wie sie sich verhalten soll. Viele unserer Zeitgenossen haben das Gerede über das, was wir tun und lassen sollen, endlich satt. Sie verlangen nach Einsicht in das Weltgetriebe. Wenn sie die haben, dann wissen sie auch, wie sie sich in der von ihnen erkannten Welt zu verhalten haben. Und wer diese Einsicht nicht hat und dennoch mit seinen guten Lehren für unser Handeln an sie herantritt, der gilt ihnen als Moralsophist. Unsere Aufgabe innerhalb der Menschheit ergibt sich einfach aus unserer Erkenntnis des Wesens desjenigen Teiles derselben, zu dem wir gehören. Für denjenigen, der die Wahrheit dieser Sätze erkennt, für den gelten Bestrebungen, wie sie dem «Verein für ethische Kultur» zugrunde liegen, als unmodern und rückständig.

Wir haben ganz andere Dinge zu tun, als darüber nachzudenken, wie wir uns verhalten sollen. Unser ganzes Leben ist aus dem Grunde in einer Übergangsperiode, weil unsere alten Anschauungen dem modernen Bewußtsein nicht mehr genügen, und weil der Materialismus, den uns die Naturwissenschaften an seine Stelle setzen wollen, nur eine Ansicht für Flachköpfe ist.

Wir sind vielleicht bald auf dem Punkte, wo irgend jemand das erlösende Wort spricht, welches das Welträtsel von der Seite aus löst, von der es die Menschheit der Gegenwart aufgeworfen hat. Wir kranken wieder an den großen Erkenntnisfragen und an den höchsten Kunstproblemen. Das Alte ist morsch geworden. Und wenn sie gefunden sein wird die große Lösung, an die viele Menschen für einige Zeit werden glauben können, wenn es da sein wird das neue Evangelium, dann wird, wie immer in diesem Falle, auch die neue Sitte als notwendige Konsequenz von selbst entstehen. Neue Weltanschauungen zeitigen ganz von selbst neue Sittenlehren. Der Messias der Wahrheit ist immer auch der Messias der Moral. Volkspädagogen, die viel für unser Herz, nichts aber für unseren Kopf haben, können wir nicht brauchen. Das Herz folgt dem Kopfe, wenn der letztere nur eine bestimmte Richtung hat.

Wenn in Amerika Bestrebungen, wie sie der «Verein für ethische Kultur» hat, längst an der Tagesordnung sind, so haben wir Deutschen keinen Grund, solches nachzumachen. Unter den Völkern mit vorwiegend praktischen, materiellen Tendenzen ist eine gewisse Schlaffheit in bezug auf Erkenntnisfragen eingerissen. Das lebhafte Interesse für Fragen des Erkennens und der Wahrheit, das bei uns in Deutschland noch heimisch ist, haben sie dort nicht. Es ist ihnen daher bequem, auf dem Ruhebett einer allgemein-menschlichen Sittenlehre es sich bequem machen zu können. Woran sie denken, daran hemmt sie die schablonenhafte Moral nicht. Sie kennen nicht die Qualen des Denkers, nicht die des Künstlers. Wenigstens jene nicht, welche zu den Gesellschaften für ethische Kultur gehören. Wer aber, wie der Deutsche, ideelles Leben in sich hat, wer im Geistigen vorwärts will, für den muß die Bahn frei und offen liegen, nicht verlegt sein durch sittliche Vorschriften und volkserzieherische Maßnahmen. Es muß, um ein oft gebrauchtes Wort zu wiederholen, jeder nach seiner Fasson selig werden können.

Deshalb kann kein modern Denkender sich dem in Rede stehenden Verein anschließen oder dessen Tendenzen billigen. Ich zweifle nicht, daß das Wort «Toleranz», das die Gesellschaft auf ihre Fahne geschrieben hat, seine talmigoldartige Wirkung auf breite Gesellschaftsschichten ausüben wird. Man wird damit gewiß ebenso viel ausrichten, wie mit den nicht minder mißbrauchten andern: Liberalismus und Humanität. Goethe sagte, er wolle von liberalen Ideen nichts wissen, nur Gesinnungen und Empfindungen könnten liberal sein. Ein eingeschworener Liberaler war, als ich ihm einmal die Anschauung des großen Dichters zitierte, bald mit seinem Urteile fertig: sie sei eben eine der mancherlei Schwachheiten, die Goethe an sich gehabt habe. Mir kommt sie aber vor wie eine der vielen Ansichten, die Goethe mit allen auf geistigem Gebiete energisch sich betätigenden Menschen gemein hat: das rücksichtslose Eintreten für das als wahr Erkannte und Durchschaute, das sich zugleich verbindet mit der höchsten Achtung der fremden Individualität. Nur wer selbst etwas ist, kann auch den andern erkennen, der gleichfalls etwas bedeutet. Der Durchschnittsmensch, der alles und deshalb nichts sein will, verlangt ebensolche Nichtse neben seinem eigenen. Wer selbst nach der Schablone lebt, möchte auch die andern danach gestalten. Deshalb haben alle Menschen, die etwas zu sagen haben, auch Interesse für die andern. Die aber, die eigentlich gar nichts zu sagen haben, die sprechen von Toleranz und Liberalismus. Sie meinen damit aber nichts weiter, als daß ein allgemeines Heim für alles Unbedeutende und Flache geschaffen werden soll. Sie sollen dabei nur nicht auf die rechnen, die Aufgaben in der Welt haben. Für diese ist es verletzend, wenn man ihnen zumutet, sich unter das Joch irgendeiner Allgemeinheit zu beugen; sei es das einer allgemeinen Kunstnorm oder das einer allgemeinen Sittlichkeit. Sie wollen frei sein, freie Bewegung ihrer Individualität haben. In der Ablehnung jeglicher Norm besteht geradezu der Hauptgrundzug des modernen Bewußtseins. Kants Grundsatz: Lebe so, daß die Maxime deines Handelns allgemeingeltend werden kann, ist abgetan. An seine Stelle muß der treten: Lebe so, wie es deinem innern Wesen am besten entspricht; lebe dich ganz, restlos aus. Gerade dann, wenn ein jeder der Gesamtheit das gibt, was ihr kein anderer, sondern nur er geben kann, dann leistet er das meiste für sie. Kants Grundsatz aber fordert die Leistung dessen, was alle gleichmäßig können. Wer ein rechter Mensch ist, den interessiert das jedoch nicht. Die «Gesellschaft für ethische Kultur» versteht unsere Zeit schlecht. Das beweist ihr Programm.

Eine «Gesellschaft für ethische Kultur»

Warum hat sich Friedrich Nietzsche wahnsinnig gedacht über die großen Fragen der menschlichen Moral? Viel einfacher wäre es doch gewesen, den Philosophie-Professor aus Amerika Felix Adler zu hören über die «allen guten Menschen gemeinsame Sittlichkeit», und das von ihm Vernommene dem deutschen Volke als Heilslehre zu verkünden.

So hat es eine Elite der deutschen Gebildeten gemacht und eine «Gesellschaft für ethische Kultur» begründet, deren Zweck ist, jenes «Gemeinsame» zum Hauptträger der Lebensführung gebildeter Menschen zu machen. Ich bemerke gleich von vornherein, daß unter den Gründern der Gesellschaft sich Männer befinden, die ich hochschätze. Die Gründung selbst aber entspringt einer rückständigen Lebensauffassung. Offizielle Philosophen, die heute noch immer den alten Kant - Begriffskrüppel nennt ihn Nietzsche - wiederkäuen, stehen fest auf dem Standpunkt zu glauben, daß es so etwas, wie eine «allen guten Menschen gemeinsame» Moral gebe; modernes Denken, das seine Zeit erfaßt und ein wenig auch in die Zukunft sieht, ist darüber hinaus. «Handle so, daß die Grundsätze deines Handelns für alle Menschen gelten können»; das ist der Kernsatz der Sittenlehre Kants. Und in allen Tonarten klingt dies Sprüchlein uns an die Ohren aus den Bekenntnissen derer, die sich Freisinnige, Liberale, Humanitätsapostel usw. nennen. Aber es gibt heute auch schon einen Kreis von Menschen, die wissen, daß dieser Satz der Tod alles individuellen Lebens ist, und daß auf dem Ausleben der Individualität aller Kulturfortschritt beruht. Was in jedem Menschen Besonderes steckt, das muß aus ihm heraustreten und ein Bestandteil des Entwicklungsprozesses werden. Sieht man von diesem Besonderen ab, das jeder für sich hat, dann bleibt nur ein ganz banales «Allgemeines» zurück, das die Menschheit auch nicht um eine Spanne weiterbringen kann. Ein paar Zweckmäßigkeitsregeln für den gegenseitigen Verkehr, das ist alles, was da als «allen guten Menschen Gemeinsames» herauskommen kann, Das im eigentlichen Sinne ethische Leben des Menschen fängt aber da erst an, wo diese auf Nützlichkeit begründeten Gesetze aufhören. Und dieses Leben kann nur aus dem Mittelpunkte der Persönlichkeit stammen und wird nie das Ergebnis eingepflanzter Lehrsätze sein. Eine allgemein-menschliche Ethik gibt es nicht. Auf den Kantischen Satz muß modernes Empfinden das gerade Gegenteil erwidern: Handle so, wie, nach deiner besonderen Individualität, nur gerade du handeln kannst; dann trägst du am meisten zum Ganzen bei; denn du vollbringst dann, was ein anderer nicht vermag. So haben es auch alle Menschen gehalten, von denen die Geschichte zu berichten weiß. Deshalb gibt es so viele verschiedene sittliche Auffassungen, als es Völker, Zeitalter, ja im Grunde so viele, als es Individuen gegeben hat und gibt. Und wenn an die Stelle dieses Naturgesetzes dasjenige träte, welches von den im Kantischen Sinne denkenden Moralphilosophen für richtig gehalten wird: eine fade Einförmigkeit alles menschlichen Handelns wäre die notwendige Folge. Solche «allgemeine» Moralprinzipien sind oft aufgestellt worden; nie hat aber ein Mensch sein Leben danach eingerichtet. Und die Erkenntnis, daß es sich hier um ein Geschäft für müßige Köpfe handelt, sollte allem modernen Denken das Gepräge geben.

Ich kann mir wohl denken, welche Einwände gegen diese Sätze erhoben werden. «Das begründet ja die reine Anarchie! » «Wenn jeder nur sich auslebt, dann ist an ein gemeinsames Wirken nicht zu denken! » Hätte ich solche Einwände nicht wirklich gehört, ich fände es überflüssig, sie auch nur mit einigen Worten zu streifen. Es ist hier vom ethischen Leben des Menschen, wie schon gesagt, die Rede. Was unter seinem Niveau liegt, das ist nicht moralischen Maßstäben unterworfen; das unterliegt allein der Beurteilung nach seiner Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit. Hier das Richtige zu treffen, ist Aufgabe der sozialen Körperschaften; die Ethik hat damit nichts zu tun. Der Staat mag über die Nützlichkeit oder Schädlichkeit menschlicher Handlungen wachen und für das Zweckmäßigste sorgen; der ethische Wert meiner Taten ist etwas, was ich als Individuum mit mir selbst abzumachen habe. Vorschriften der Zweckmäßigkeit des Handelns kann es geben, und deren Einhaltung mag auch mit Gewalt erzwungen werden; Vorschriften des sittlichen Handelns gibt es nicht. Der Anarchismus ist nicht deswegen zu verwerfen, weil er unsittlich, sondern weil er unzweckmäßig ist. In dem Gebiet der eigentlichen Sittlichkeit kann allein der Grundsatz gelten: leben und leben lassen. Daß man in Amerika, wo in einem eminent materiellen Kulturleben alles über die Sorge für die gemeinen Lebensbedürfnisse hinausführende Denken untergeht, der Gedanke der «ethischen Gesellschaften» Anklang gefunden hat, ist nicht zu verwundern. In Deutschland, wo noch Sinn für die höheren Aufgaben der Menschheit ist, sollte dergleichen aber nicht nachgeahmt werden. Wo man nur daran denkt, das physische Leben so bequem wie möglich zu machen, da mag man nach dem behaglichen Auskunftsmittel sittlicher Grundsätze suchen, weil es doch an sittlichen Impulsen fehlt. In einem Kulturgebiet aber, wo ein wahres Geistesleben herrscht, kann die jeweilige sittliche Lebensführung nur das Ergebnis der herrschenden Weltanschauung sein. Wie ich mich, nach meiner Auffassung von Natur und Menschenwelt, zu beiden stelle, davon wird meine Haltung im Leben abhängen. Die Sitte ist immer eine notwendige Folge der Erkenntnis eines Zeitalters, Volkes oder Menschen. Darum werden große Individualitäten, die ihren Zeitaltern neue Wahrheiten verkünden, immer auch der Lebensführung ein neues Gepräge geben. Ein Messias einer neuen Wahrheit ist immer auch der Verkünder einer neuen Moral. Ein Moralist, der nur Verhaltungsmaßregeln zu geben hat, ohne etwas Besonderes über Natur oder Menschen zu wissen, wird nie gehört. Daher kann es nichts Verkehrteres geben als die von der konstituierenden Versammlung der «ethischen Gesellschaft» beschlossene Maßregel, durch Verbreitung moralischer Schriften auf die Verbesserung des ethischen Lebens einwirken zu wollen. Daß man dabei von deutschen Schriften ganz abgesehen hat und zunächst nur an Übersetzungen amerikanischer Bücher denkt, ist mir ganz erklärlich. In Deutschland fände man nicht viel für diesen Zweck Brauchbares. Bücher über Ethik machen eben hier nur die in der unmodernen Kantischen Doktrin befangenen Schulphilosophen. Die aber schreiben eine für solche Kreise, auf welche die «ethische Gesellschaft» rechnet, ganz unverständliche Schulsprache. Außerhalb der Schule stehende Philosophen aber stellen keine Moralprinzipien auf. Hier hat sich die sittlich-individualistische Denkweise bereits tief eingelebt. Die amerikanischen Bücher dieser Art enthalten zumeist Trivialitäten, die zu lesen nur gefühlsduseligen alten Mädchen oder unreifen Schuljungen zuzumuten ist. Der richtige deutsche, gelehrte oder ungelehrte, Philister wird manche kaufen, auch viel Rühmliches von ihnen zu erzählen wissen; lesen wird er sie nicht. Männer von einigen Kenntnissen, die nicht durch unsere traurige Schulphilosophie im Denken ganz heruntergekommen sind, wissen, daß in der Mehrzahl dieser Bücher nur Weisheiten stehen, über die bei uns Fortgeschrittene vor hundert Jahren nur mehr ein - Gähnen hatten.

Bejammernswert zu hören ist es aber, daß der Jugenderziehung diese öden Sittlichkeitsmaximen eingeimpft werden sollen. Herr von Gizycki hat die schärfsten Worte über den pädagogisch verwerflichen Einfluß der rein konfessionellen Erziehung gesprochen. Darüber wird kaum ein modern Denkender mit ihm streiten. Aber was die Konfessionen mit ihren Moralprinzipien machen, das will die «ethische Gesellschaft» mit den allgemein-menschlichen nachahmen. Dort und hier wird aber nichts erreicht als die Ertötung des Individuums und die Unterjochung des Lebens durch unlebendige, starre Gesetze. An die Stelle der Pfaffen der Religionen sollen die Pfaffen der allgemein-menschlichen Moral treten. Mit diesen aber ist es sogar noch übler bestellt als mit jenen. Die konfessionellen Sittenlehren sind die Ergebnisse bestimmter Weltanschauungen, die doch einmal den berechtigten Kulturinhalt der Menschheit ausmachen; die allgemeinmenschliche Sittenlehre ist eine Summe von Gemeinplätzen; es sind aus allen möglichen sittlichen Anschauungen zusammengeholte Fetzen, die nicht von dem Hintergrunde einer großen Zeitanschauung sich abheben. Wer dergleichen für lebensfähig oder gar für geeignet hält, den ethischen Gehalt unserer Kultur zu reformieren, der stellt damit seiner psychologischen Einsicht ein schlechtes Zeugnis aus.

Wir stehen vor einer Neugestaltung unserer ganzen Weltanschauung. Alle Schmerzen, die ein mit den höchsten Fragen ringendes Geschlecht durchzumachen hat, lasten auf uns. Wir empfinden die Qualen des Fragens; das Glück der Lösung des großen Rätsels soll uns ein Messias bringen, den wir täglich erwarten. Unsere Leidenszeit wird vielleicht lang sein, denn wir sind anspruchsvoll geworden; und wir werden uns nicht so bald abspeisen lassen. So viel aber ist gewiß: was er uns auch verkünden wird, der Reformator: mit der neuen Erkenntnis wird auch die neue Moral kommen. Dann werden wir auch wissen, wie wir uns das neue Leben einzurichten haben. Den Gebildeten jetzt alte Kulturüberbleibsel als ewiges sittliches Gut der Menschheit hinzustellen, heißt sie abstumpfen für die Empfindung der Gärungserscheinungen der Zeit, und sie ungeeignet machen für die Mitarbeit an den Aufgaben der nächsten Zukunft.

[...] In der Sonntags-Beilage der «National-Zeitung» vom 15. Mai 1892 erschien eine Art von offiziellem Programm der Gesellschaft, ohne Zweifel aus der Feder eines ihrer hervorragenderen Gründer. Da heißt es: «Die Behauptung, daß es keine allgemein-menschliche Moral gebe, ist eine Beleidigung, welche die Menschheit nicht hinnehmen darf, ohne eine Einbuße an gesundem Selbstgefühl und an dem Glauben an ihre Bestimmung zu erleiden.» Und einige Zeilen weiter wird als Grundsatz der «ethischen Kultur» hingestellt: «die sittliche Bildung ... allein aus den Existenzbedingungen und Grundgesetzen der menschlichen Natur ... zu entwickeln». Das heißt denn doch, die Sache etwas gar zu oberflächlich betrachten. Jede Bildungsperiode hat ihre eigene Anschauung von den Existenzbedingungen und Grundgesetzen der Natur; nach dieser Anschauung richtet sich ihre Ethik. Diese ist so wandelbar wie jene. Man sollte wahrhaftig nicht an moralische Kurversuche herantreten, ohne die kräftigen Worte aus Nietzsches «Genealogie der Moral» zu kennen, die uns die Entwicklung der ethischen Wahrheiten laut und vernehmlich künden, auch wenn wir für abstraktes Denken keinen Sinn haben. Ein Massenrezept aus dem Dunstkreis der großen moralischen Apotheke aber muß gerade von den Bereitern einer besseren Zukunft energisch zurückgewiesen werden.