Rudolf Steiner – Natürlicher und sozialer Organismus

Schriftenreihe Grundlagen, Band 2

Herausgegeben von Sylvain Coiplet
2. überarbeitete und erweiterte Auflage
Dieses Werk wird durch Spenden finanziert und ist frei zugänglich

Taschenbuch
19,- €

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„Den sozialen Organismus verstehen Sie im Verhältnis zum Menschen nur richtig, wenn Sie den Menschen auf den Kopf stellen.“

„Der Kopf des sozialen Organismus ist das Wirtschaftssystem. Das rhythmische System, das Zirkulationssystem, das Lungen-Herzsystem, das ist das Staatssystem. Und das Stoffwechselsystem, das ist in der geistigen Organisation beschlossen.“

Rudolf Steiner

Inhalt

  • Vorwort
    • Der Vergleich zwischen menschlichem und sozialem Organismus
    • Menschlicher Organismus oder blosser Pflanzenorganismus
    • Der soziale Organismus steht auf dem Kopf
    • Das Märchen von einer Viergliederung
    • Organische Entwicklung und Metamorphose
  • Der menschliche Organismus als Ausgang des Vergleichs
  • Vorteil und Nachteil der Rede vom sozialen Organismus
  • Ist der soziale Organismus gegeben oder zu erringen?
  • Wie groß ist ein sozialer Organismus?
  • Wie rasch ist eine organische Entwicklung?
  • Wie lebendig ist ein Organismus?
  • Wie einheitlich ist ein Organismus?
  • Was versteht die Wissenschaft vom Organismus?
  • Was verstehen die Deutschen von Einheit?

Zur neuen Auflage

In dieser 2. Auflage wurde vor allem Wert darauf gelegt, das Vorwort um neue Gesichtspunkte zu erweitern, die den inneren Zusammenhang zwischen den unterschiedlichsten Aussagen Rudolf Steiners zum „sozialen Organismus“ deutlich machen.

Wie kommt Rudolf Steiner 1917 dazu, die damaligen Vergleiche der Gesellschaft mit einem Organismus zu kritisieren, um sich dann 1919 zu einer Dreigliederung des „sozialen Organismus“ zu bekennen und gleichzeitig davon abzuraten, einen solchen Vergleich zwischen dem menschlichen und „sozialen Organismus“ anzustellen? Wie steht diese Dreigliederung des „sozialen Organismus“ zur „Welt als Wirtschaftsorganismus“ von der Rudolf Steiner nicht erst 1922, sondern schon 1917 gesprochen hat? Und wie steht die Dreigliederung des „sozialen Organismus“ zum viergegliederten Menschen?

Dies sind alles Fragen, die eine sorgfältige Untersuchung nötig gemacht haben. Im Ergebnis zeigt sich nicht nur, dass diejenigen, die Rudolf Steiner und seine Dreigliederung des „sozialen Organismus“ leichtfertig in die braune Ecke schieben, falsch liegen. Es wird aber auch deutlich, dass diejenigen, die sich auf Rudolf Steiner berufen, wenn sie selber von einem „sozialen Organismus“ sprechen, oft genauso falsch liegen.

Aus dem Vorwort

Zur Zeit Rudolf Steiners war es durchaus üblich – auch und gerade in der damals maßgeblichen Sozialwissenschaft – von einem „sozialem Organismus“ zu sprechen. Typisch dafür war der amerikanische Professor und Präsident Woodrow Wilson. Heute geschieht es dagegen nur noch in Ausnahmefällen.

Zu diesen Ausnahmen gehören Zeitgenossen, die gerne so sprechen wie Rudolf Steiner damals gesprochen hat, nichtsahnend welche Schäden sie damit anrichten können. Unter „sozialem Organismus“ ist nämlich seit der Antike Gegensätzlichstes verstanden worden. Dies war Rudolf Steiner bewusst und er warnt daher selber wiederholt vor den möglichen Missverständnissen. Von seinen Nachfolgern würde man sich dieselbe Vorsicht wünschen. In der Zwischenzeit hat es in Europa eine Diktatur gegeben, die Millionen Menschenleben vernichtet hat, um den „deutschen Volkskörper“ zu bereinigen. Diese nationalistische Auslegung eines „sozialen Organismus“ hat natürlich nichts zu tun mit dem, was Rudolf Steiner unter „sozialem Organismus“ verstanden hat. Für diejenigen, die sich auf ihn berufen, ist dies eine Selbstverständlichkeit. Diese positive Einstellung kann man aber von anderen Zeitgenossen nicht erwarten. Wer heute darauf besteht von einem „sozialen Organismus“ zu sprechen, sollte also zuvor genau klären, was er darunter meint und vor allem was nicht. Er braucht sich sonst nicht zu wundern, wenn er ohne weitere Prüfung zu den Vertretern einer „organischen Volkseinheit“ gerechnet wird. [...]

Was bringt Rudolf Steiner dazu, von einem „sozialen Organismus“ zu sprechen? Was lässt sich seiner Meinung nach vom menschlichen Organismus lernen, um die Gesellschaft zu verstehen?

Dazu muss man wissen, dass Rudolf Steiner zu der Überzeugung gekommen war, dass der menschliche Organismus nicht zentralisiert sei. Davon sollte man lernen. Wer die Gesellschaft richtig verstehe, sollte dafür eintreten, dass auch die einzelnen Glieder des sozialen Organismus – Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben – in die Selbständigkeit entlassen werden. Verliert aber das Rechtsleben nicht nur den Zugriff auf das Wirtschaftsleben, sondern auch auf das Geistesleben, dann wird die Allmacht des Staates und die damit einhergehende Zentralisierungstendenz überwunden. Es bleibt aber nicht dabei. Selbständigkeit heißt konkret für das eine Glied, das Geistesleben, daß es auf die individuelle Freiheit des Einzelnen zu bauen hat. Und beim anderen Glied, dem Wirtschaftsleben, geht Rudolf Steiner umgekehrt von einer weltweiten Vernetzung von Assoziationen aus – ohne Rücksicht auf irgendwelche Staatsgrenzen. Wenn Rudolf Steiner von einem „sozialen Organismus“ spricht, hat dies also mit Zentralismus und Nationalismus nichts zu tun.

Sylvain Coiplet