Der Boden der Dreigliederung

01.11.1919
[817/01] Das Wesentliche des Dreigliederungsgedankens ist, daß er die sozialen Verhältnisse ohne Partei- und Klassenbefangenheit von dem Gesichtspunkte aus ansieht, der ihm durch die Frage gegeben wird: Was ist im gegenwärtigen Zeitpunkte der Menschenentwickelung zu tun, um zu einer lebensmöglichen Gestaltung der Gesellschaftsorganismen zu gelangen? Wer es ernst und ehrlich mit dem Ringen nach einer Antwort auf diese Frage meint, der kann nicht achtlos an einer Tatsache vorbeigehen, wie die ist, daß in der neueren Zeit das wirtschaftliche und das politisch-rechtliche Leben in einen zerstörungsbringenden Widerstreit gekommen sind. Die Klassenschichtung der Menschheit, in der gegenwärtig gelebt wird, ist aus wirtschaftlichen Grundlagen heraus entstanden. Innerhalb der wirtschaftlichen Entwickelung und aus dieser heraus ist der eine zum Proletarier, der andere zum Unternehmer, ein dritter zum Arbeiter an der geistigen Kultur geworden. Sozialistisch Denkende werden nicht müde, diese Tatsache in den Vordergrund ihrer Forderungen zu stellen, um diese dann hinter ihr wie etwas Selbstverständliches erscheinen lassen zu können. Man bedenkt dabei nur nicht, daß es darauf ankommt, zu sehen, warum das Wirtschaftsleben übermächtig hat auf die Schichtung der Menschheit einwirken können. Man sieht nicht, wie diese Schichtung sich deshalb vollzogen hat, weil dem wirtschaftlichen Wirken kein politisch-rechtliches gegenüberstand, das ihm entgegengewirkt hätte. Der Mensch wurde durch den wirtschaftlichen Kreislauf auf einen Boden gestellt, der ihn isolierte. Er konnte sich nur in den Verhältnissen einleben, die ihm aus dem Wirtschaften heraus geboten wurden. Einer verstand so den andern nicht mehr. Er konnte sie mit ihm nicht verständigen; er konnte nur noch hoffen, ihn mit Hilfe derjenigen zu überstimmen, oder zu überwältigen, die auf gleichem Lebensboden standen. Aus den Tiefen der Menschheitsentwickelung ist kein politisch-rechtliches Leben heraufgezogen, das die isolierten Menschengruppen hätte zusammenführen können. Man hat nicht gesehen, daß ein Fortdenken in den alten politisch-rechtlichen Antrieben den neuen Wirtschaftskräften widerstrebt.
[817/02] Man kann aber nicht so wirtschaften, wie es die Verhältnisse der beiden letzten Jahrhunderte notwendig machten, und dabei die Menschen in soziale Lagen kommen lassen, die einem Denken aus politisch-rechtlichen Untergründen entsprechen, wie sie den vorangegangenen Zeitaltern eigen waren. Man sollte aber auch nicht hoffen, daß die Klassenschichtung, die ohne neues politisches Streben entstanden ist, den Ausgangspunkt für eine Neugestaltung des Gesellschaftsorganismus bilden könne. Es ist selbstverständlich, daß die sich unterdrückt fühlenden Klassen diese Behauptung nicht als eine berechtigte anerkennen. Ihre Angehörigen sagen: Wir haben seit mehr als einem halben Jahrhundert ein neues politisches Streben. In meinen « Kernpunkten der sozialen Frage » bildet der Nachweis, daß dies nicht der Fall ist, die Unterlage für die weiteren, einen sozialen Aufbau kennzeichnenden Gedanken. Karl Marx und seine Anhänger haben wohl die Menschen einer Lebensklasse zum Kampfe aufgerufen; aber sie haben diesen Menschen nur die Gedanken gegeben, die erlernt waren von den Angehörigen derjenigen Klassen, die bekämpft werden sollen. Deshalb würde, wenn auch der Kampf zu dem von vielen erwünschten Ende führen könnte, nichts Neues entstehen, sondern das Alte mit Menschen in der Führerschaft, die einer andern Klasse angehören als diejenigen, die bisher diese Führerschaft behaupteten.
[817/03] Zu dem Dreigliederungsgedanken führt die Einsicht in diese Tatsache wohl noch nicht; allein sie muß den Weg zu ihm vorbereiten. Solange sie nicht einer genügend großen Anzahl von Menschen einleuchtet, wird man fortfahren wollen, aus den alten politisch-rechtlichen Gedanken Antriebe herauspressen zu wollen, die den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gegenwart gewachsen sein sollen. Man wird ohne dieses Einleuchten vor der Dreigliederung des sozialen Organismus zurückschrecken, weil man auf sie stößt mit dem, was man zu denken gewohnt ist.
[817/04] Es ist begreiflich, daß in einer Zeit, die so viel des Unheiles gebracht hat, die Menschen zurückschrecken vor dem Ansinnen zu eigenem, aus der Tiefe des Menschenlebens heraus geborenem Denken. Viele fühlen sich niedergedrückt durch diese Zeit und verzweifeln an der Kraft der schaffenden Ideenkräfte. Sie « warten », bis die « Verhältnisse » eine günstigere Lage schaffen. Allein nie werden die « Verhältnisse » etwas anderes schaffen, als was von menschlichen Ideen ihnen eingepflanzt ist.
[817/05] Aber - so sagen viele - die besten Ideen können doch praktisch nichts ausrichten, wenn sie von den Lebensverhältnissen zurückgewiesen werden. Gerade mit diesem Einwande rechnet der Dreigliederungsgedanke. Er geht von der Einsicht aus, daß weder die ideenlose Praxis noch die unpraktische Idee zu einem lebensfähigen sozialen Organismus kommen können. Deshalb stellt er nicht in der alten Form ein Programm auf. Solcher Programme gibt es genug, um zu lernen, daß sie zwar « gut », oder « edel », oder « geistvoll » gedacht sind, daß aber die Wirklichkeit sie zuruckweist. Die Dreigliederungsidee rechnet auf dem wirtschaftlichen Gebiete mit den durch Natur und Menschenleben gegebenen Wirklichkeiten der neueren Zeit. Sie rechnet mit dem Rechtsbewußtsein der Menschheit, wie es sich im Laufe der letzten Jahrhunderte durch die Entwickelung ergeben hat. Und sie rechnet mit einem Geistesleben, das Menschen in den sozialen Organismus hineinstellt, die seine Lebensbedingungen verstehen und sie fördern, so daß ihm die Daseinsmöglichkeit geschaffen werde. Sie vermeint zu durchschauen, daß in einem dreigliedrigen sozialen Organismus die Menschen im Leben so zusammenwirken werden können, daß aus diesem Zusammenwirken entstehe, was eine abstrakte Programmidee nicht bewirken kann.
[817/06] Wer diesen prinzipiellen Unterschied der Dreigliederungsidee und gebräuchlicher Programmgedanken nicht ins Auge fassen will, der wird sich von der Fruchtbarkeit der ersteren nicht überzeugen lassen. Diese ist eine Wirklichkeitsidee, weil sie das Leben nicht im Sinne eines Programmes tyrannisieren will, sondern zuerst die Grundlage zu schaffen bestrebt ist, auf der dasjenige Leben frei erwachsen kann, aus dem die sozialen Antriebe sich entwickeln. Die Fragen der Gegenwart und der nächsten Zukunft sind nicht solche, die an den Intellekt gestellt werden können, sondern die aus einem Leben sich ergeben müssen, das erst herbeizuführen ist. Die gegenwärtige Menschheit ahnt eigentlich erst die sozialen Fragen. Ihre wirkliche Gestalt wird sich ergeben, wenn die Struktur des sozialen Organismus so beschaffen sein wird, daß die drei in dem Menschendasein liegenden Lebenskräfte ihre wahre Wirklichkeit aus einem instinktartigen Empfinden in bewußtes Denken heben können. Vieles, was heute über sie gesagt wird, macht einer wirklichen Erkenntnis des Lebens gegenüber den Eindruck des Unreifen. Da sagt man, die Menschen seien unreif, nach Ideen ihr Leben zu gestalten. Nein, die Menschen werden reif für Antworten sein, wenn die Fragen erst unverhüllt durch uralte Vorurteile ihnen gegenübertreten werden.
[817/07] So sieht derjenige die Lage der Gegenwart, der sich zur Dreigliederungsidee aus dem Erleben der vollen Wirklichkeit durchringt. Und aus diesem Sehen möchte er, daß gehandelt werde. Der Worte aber werden erst genug gewechselt sein, wenn aus den Worten die Tat wird geboren sein.

Rudolf Steiner