Von der organischen Dreigliederung zum dreigliedrigen sozialen Organismus

30.11.2023

Quelle
„Zeitschrift für lebendiges Denken“
Jahrgang 6, Nr. 1, November 2023, S. 14-19
Bibliographische Notiz

Überarbeiteter Vortrag vom Europäersamstag am 06.11.2021
Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autors

Mit der organischen Dreigliederung ist der nach Kopf, Rumpf und unteren Menschen gegliederte menschliche Organismus gemeint. Dieser wurde von den Göttern erschaffen, um den Menschenseelen das irdische Dasein zu ermöglichen. Als soziales Wesen lebt der irdische Mensch in einer sozialen Struktur, die in der Vergangenheit ebenso gottgegeben war. So erhielt die altägyptische Theokratie ihre soziale Struktur von der Priesterkaste über göttliche Eingebungen. In den folgenden zwei bis drei Jahrtausenden wurden diese gesellschaftlichen Einrichtungen mehr oder weniger tradiert und beginnen sich seit der Neuzeit aufzulösen. Jetzt liegt es in der Schöpferkraft der Menschen, sich eine neue selbstgeschaffene soziale Struktur zu geben. Diese kann sich an der Betrachtung des naturgemäßen Organismus schulen und dann den sozialen Organismus nach dessen eigenen Gesetzen entwickeln. Bereits lange vor Rudolf Steiners Ausführungen zum sozialen Organismus war es üblich, von einem solchen zu sprechen. Bereits im Jahr 1860 erschien das Buch Social Organism vom englischen Soziologen Herbert Spencer. Ein Jahr vorher, 1859, war Darwins Hauptwerk Über die Entstehung der Arten erschienen, in dem er die Evolution der Arten unter den Gesetzen von Anpassung, Auslese und Kampf ums Dasein beschreibt. Spencer prägt den Begriff «survival of the fittest» und überträgt diesen analogisierend ins Menschenreich. Die tierischen Instinkte werden zum Gewinntrieb im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf gemacht. Darwins Evolutionstheorie wird so zum Sozialdarwinismus, ohne darüber nachzudenken, ob im Menschenreich nicht andere Gesetze als im Tierreich wirksam sind.

Steiner kann die Darwinschen Erkenntnisfortschritte «auf allen Gebieten menschlichen Denkens als segensreich» würdigen, wenn diese dem darwinistischen Geiste gemäß angewendet werden. [2] So ist die Philosophie der Freiheit [3] «ganz im Sinne des Darwinismus geschrieben». Steiner schildert dort die verschiedenen Motivationsebenen der menschlichen Handlungen. Instinkte und Triebe stellen eine untergeordnete Sphäre dar, wo der Mensch in seinen Handlungen nicht frei ist, weil er noch von seiner biologischen Natur bestimmt wird. Darüber liegt die Sphäre der Normen und Pflichtgebote. Dazu gehört zum Beispiel Kants kategorischer Imperativ, durch den sich der Mensch zwar nicht von Trieben, aber von eingepflanzten Normen bestimmen lässt. Freiheit gibt es erst im Reich des reinen Denkens und dort sollte es keinen «Kampf ums Dasein» geben, weil: «Ein sittliches Missverstehen, ein Aufeinanderprallen ist bei sittlich freien Menschen ausgeschlossen. Nur der sittlich Unfreie, der dem Naturtriebe folgt, stößt den Nebenmenschen zurück, wenn er nicht dem gleichen Instinkt und dem gleichen Gebot folgt. Der Freie lebt in dem Vertrauen darauf, dass der andere Freie mit ihm einer geistigen Welt angehört und sich in seinen Intentionen mit ihm begegnen wird.» [4] Der tierische Kampf ums Dasein wandelt sich also beim nach Freiheit strebenden Menschen zum inneren Kampf mit den niederen Sphären der Triebe und Pflichtgebote. Nur durch deren Überwindung öffnet sich der Weg zu moralischen Intuitionen als Voraussetzung eines friedlichen Zusammenlebens von freien Menschen. Die Evolution nimmt hier einen ganz anderen Verlauf als bei der Entstehung der tierischen Arten.

Staat als Organismus?

Die Organismus-Analogie taucht in diversen Variationen auf. Ein Zeitgenosse von Steiner namens Schäffle [5] stellt zum Beispiel die These auf, der Staat sei ein Organismus und der Bürger dessen Zelle. Der Mensch ist aber weit mehr als nur Staatsbürger. Er steht sogar außerhalb der staatlichen Einrichtungen von Gesetzen, Polizei und Militär, indem er sie selbst gestaltet als geistiges, schöpferisches Wesen: «denn es entwickelt sich der Mensch über alles Staatsleben hinaus, er kann nicht aufgehen wie die Zellen im einzelnen Organismus in diesem Staatsleben, sondern muss heraus. Das heißt, es muss Gebiete geben in der menschheitlichen Entwicklung, die nicht in den Staat fallen können. Man wird sehen, dass der Mensch hinausreichen muss in ein geistiges Gebiet, dass der Mensch nur in seiner unteren Verankerung in das Staatsleben hineinragen kann, aber nach oben in die geistige Welt.» [6] Diese verkehrte Analogie «Mensch als Zelle des Organismus Staat» wurde 1918 vom US-Präsidenten Woodrow Wilson in seinem «Friedensprogramm» der 14 Punkte aufgegriffen und kam bei der Zerschlagung des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn zur praktischen Anwendung. Wilson postulierte mit seinem Schlagwort der «Selbstbestimmung der Völker» die Einrichtung von nach biologischen Aspekten getrennten Staaten. Rudolf Steiner bezeichnet es als «Unsinn, dass ein einzelner Staat oder ein einzelnes Volksgebiet ein Organismus für sich sei».[7] Das wäre «schlimmster Wilsonianismus» und, wie die Geschichte gezeigt hat, Ausgangspunkt für kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Staaten. In einem Vortrag von 1918 sagt Steiner,[6] dass man höhere Begriffe brauche als nur den Organismusbegriff, um die soziale Struktur zu begreifen.[8] Man solle sich das gesellschaftliche Zusammenleben über den Organismus hinaus noch als Psychismus und Pneumatismus denken. Also den Organismus als leibliche Ebene der Weltwirtschaft, darüber den seelischen Bereich des menschheitlichen Psychismus, der sich im internationalen Rechtsleben wie zum Beispiel ansatzweise in der UNO realisieren kann und darüber den Pneumatismus, ein weltweites Geistesleben. Ein Beispiel dafür wäre der von Rudolf Steiner vorgeschlagene Weltschulverein [9] als internationale Vereinigung des Geisteslebens.

«Von Seelenrätseln»

Diese essentielle Dreigliederung nach Leib, Seele und Geist legt Rudolf Steiner zugrunde, wenn er den Blick richtet auf den «kompliziertesten natürlichen Organismus», den menschlichen Organismus. Im Buch Von Seelenrätseln wird im Kapitel «Die physischen und geistigen Abhängigkeiten der Menschen-Wesenheit»[10] der Zusammenhang zwischen Leib, Seele und Geist beschrieben. Ausgangspunkt ist die Frage, worauf die drei Seelenfähigkeiten leiblich beruhen? Nach Rudolf Steiners Forschungen braucht jede seelische Tätigkeit eine eigene leibliche Grundlage: Das Denken beruht auf dem Sinnes-Nerven-System, das Fühlen hängt mit dem Atem-Kreislauf-System zusammen und das Wollen stützt sich auf das Gliedmaßen-Stoffwechsel-System.

Bis heute hat sich diese dreigliedrige Anschauung jedoch nicht durchgesetzt, sondern es besteht immer noch die Meinung, das Nervensystem sei das leibliche Pendant alles Seelischen. Die materialistische Wissenschaft behauptet sogar, dass aus den stofflichen Prozessen des Nervensystems das Seelische erst hervorgebracht wird. Darauf beruht auch die Definition des Todes, der bereits mit dem Hirntod, also mit dem Tod des Nervensystems eintreten soll. Das zentrale Nervensystem wird mechanistisch als Zentralcomputer gedacht, der sämtliche Seelentätigkeiten steuert. Über die sensitiven Nerven gelangen die Informationen der Sinneseindrücke zur Verarbeitung ins Gehirn und sollen von diesem als Willensimpulse über sogenannte motorische Nerven an die Organe weitergeleitet werden. Diese hypothetischen Vorstellungen haben drastische Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben, weil man sich dieses nach dem gleichen Prinzip denkt: Das soziale Zusammenleben soll in allen Bereichen durch das «Gehirn» einer zentralen Regierung gesteuert werden.

Nach Rudolf Steiner existiert diese Nerven-Zentrale für alles Seelische nicht, sondern das Sinnes-Nerven-System stellt nur die Grundlage dar für den Teilbereich des Vorstellungsbewusstseins. Und das Wollen wird nicht über die «motorischen» Nerven gesteuert, sondern greift direkt am Stoffwechsel an. Der sogenannte motorische Nerv unterscheidet sich nicht vom sensorischen Nerv, weil alle Nerven gleichermaßen sensorisch sind und der Wahrnehmung dienen:

«Eine große Verwirrung hat für die Betrachtung aller dieser Dinge die Gliederung der Nerven in Empfindungs- und motorische Nerven angerichtet. So fest verankert diese Gliederung in den gegenwärtigen physiologischen Vorstellungen erscheint, sie ist nicht in der unbefangenen Beobachtung begründet. Was die Physiologie vorbringt auf Grund der Zerschneidung der Nerven, oder der krankhaften Ausschaltung gewisser Nerven beweist nicht, was auf Grundlage des Versuches oder der Erfahrung sich ergibt, sondern etwas ganz anderes. Es beweist, dass der Unterschied gar nicht besteht, den man zwischen Empfindungs- und motorischen Nerven annimmt. Beide Nervenarten sind vielmehr wesensgleich. Der sogenannte motorische Nerv dient nicht in dem Sinn der Bewegung wie die Lehre von dieser Gliederung es annimmt, sondern als Träger der Nerventätigkeit dient er der inneren Wahrnehmung desjenigen Stoffwechselvorganges, der dem Wollen zugrunde liegt, geradeso wie der Empfindungsnerv der Wahrnehmung desjenigen dient, was im Sinnesorgan sich abspielt. Bevor die Nervenlehre in dieser Beziehung mit klaren Begriffen arbeitet, wird eine richtige Zuordnung des Seelenlebens zum Leibesleben nicht zustande kommen.»[11] Damit ist das Gehirn als Steuerzentrale der Willensbewegungen nicht mehr relevant, sondern nur noch als Wahrnehmungsorgan, das die Abläufe der motorischen Bewegungen registriert.

Was beim Willensvorgang wirklich passiert, beschreibt Rudolf Steiner vom schauenden Bewusstsein aus: «Das wirkliche Wollen, auch das in der physischen Welt sich verwirklichende, verläuft in Regionen, die nur dem intuitiven Schauen zugänglich sind; sein leibliches Gegenstück hat mit seinem Inhalte fast gar nichts zu tun. In demjenigen geistig Wesenhaften, das der Intuition sich offenbart, ist enthalten, was sich aus vorangegangenen Erdenleben in die folgenden hinüber erstreckt.»[12] Der Wille kommt aus einer Sphäre, wo auch die karmischen Anlagen angesiedelt sind. Diese intuitiven Impulse sind rein geistiger Natur, so dass auch der Wille als rein geistige Intuition sich leiblich im Stoffwechsel realisieren und das Karma im Leibe wirken kann.

Auch die beiden anderen Seelenfähigkeiten haben ihren Ursprung im Geist: das Fühlen entsteht aus Inspirationen und das Denken fließt aus lebendigen Imaginationen. Diese werden am Gehirn gespiegelt und abgelähmt und treten so für das gewöhnliche Bewusstsein als Vorstellungen ins Bewusstsein. Die eigentliche Realität des Denkens liegt also auf der geistigen imaginativen Ebene und wird zu den abgelähmten Vorstellungen auf der seelischen Ebene. Auf der geistigen Ebene sind es kraftende Geistimaginationen.

Leiblich-organische Dreigliederung

Wie gestaltet sich jetzt die leiblich-organische Dreigliederung? Es gibt die genannten drei Systeme ohne einheitliche Zentrale. Deren Tätigkeiten durchdringen sich in allen Organen. Jedes System hat eigene Quellorgane, das Sinnes-Nerven-System in der Kopforganisation und verbreitet sich von dort im ganzen Körper, so dass überall Nervenfunktionen wirksam sind. Quellorte der mittleren Organisation sind Lunge und Herz: Blutgefäße durchdringen den ganzen Körper und transportieren unter anderem Sauerstoff und Kohlendioxid. Und «Stoffwechseltätigkeit ist im ganzen Organismus vorhanden; sie durchdringt die Organe des Rhythmus und diejenigen der Nerventätigkeit.»[13]

Zwischen Kopforganisation und dem unteren Stoffwechsel-System besteht eine starke Polarität. Der Kopf ist erstarrt zur knöchernen Schädelkapsel, worin das Gehirn ruhig im Gehirnwasser schwimmt. Diese Tendenz zur Verfestigung ist verbunden mit der Orientierung auf die Umwelt. Diese baut sich in den Sinnesorganen wie in den Menschen hinein. Dazu muss das Gehirn als Zentralorgan des Nervensystems ständig von außerhalb mit Stoffen und Energie versorgt werden. Bereits nach kurzer Unterversorgung sterben die Nervenzellen ab. Polar dazu stehen die Stoffwechselorgane, die ununterbrochen beschäftigt sind mit der Umwandlung von Fremdsubstanz in Eigensubstanz. Damit kann der Leib gegenüber der Umwelt als eigene Organisation aufrechterhalten werden. Diese größte chemische Beweglichkeit der Organe und auch der leiblichen Motorik der Gliedmaßen verträgt keine Verfestigungen. Diese erscheinen als Krankheitsprozesse in Nieren, Blasen- und Gallensteinen. Die Polarität eines Organismus kann man somit in den Begriffen Aufbau und Abbau zusammenfassen. Die beiden Glieder des mittleren Systems haben einen vermittelnden Charakter und richten sich im Atmungssystem einerseits zum Kopfpol hin; das Kreislaufsystem ist mehr nach unten, zum Stoffwechsel hin orientiert.

Die Frage der Mitte

Wolfgang Schad [14] hat sich mit der Frage befasst, ob die drei Teilglieder in sich ebenso dreigegliedert sind wie der ganze Organismus mit den beiden Polen und seiner Mitte? Er kommt zum Ergebnis, dass die zwei polaren Systeme selbst dreigliedrig strukturiert sind. Als Mitte des Sinnes-Nerven-Systems findet er die Sprachorganisation, die mit der Vorstellungsbildung durch das Gehirn, wie auch mit der Umweltorientierung der Sinne gleichermaßen verknüpft ist. Und als Mitte des Gliedmaßen-Stoffwechsel-Systems kann die Sexualorganisation angesehen werden. Hier findet im Aufbau des Embryos eine gewaltige Stoffwechselleistung statt, die schließlich in die Gliedmaßenwelt entlassen wird. Wie verhält sich das mittlere System?

Das Rumpfsystem bleibt organisch betrachtet polar; hier kann keine physische Mitte gefunden werden, dafür aber eine Zeitgestalt! Diese besteht im Rhythmus zwischen Atem und Kreislauf von 1:4 – auf einen Atemzug kommen vier Pulsschläge. Dieser «ideale» Rhythmus wird vor allem in der nächtlichen Regenerationsphase erreicht.[15] Außerdem ist das mittlere System an den kosmischen Rhythmus des Durchlaufs der Sonne durch die Tierkreiszeichen angebunden. 18 Atemzüge in der Minute summieren sich am Tag auf 25‘920, die Zeit, die der Frühlingspunkt, das ist der Aufgangspunkt der Sonne zu Frühlingsbeginn, zum Durchlaufen der 12 Tierkreiszeichen braucht. Das Weltenjahr hat die gleiche Zahl wie der atmende Mensch! An diesem Zusammenhang zwischen mikrokosmischem Menschenleib und makrokosmischem Weltenleben kann man Staunen und Ehrfurcht lernen!

Der natürliche und der soziale Organismus

Wieso vergleicht Rudolf Steiner in den Kernpunkten [16] den sozialen Organismus mit dem menschlichen Organismus? Weil der soziale Organismus nicht gegeben ist, sondern von den Menschen erst geschaffen werden muss, soll man an der Betrachtung des Natur-Organismus sein Empfinden und Denken für die Dreigliedrigkeit schulen: «Dass das menschliche Denken, das menschliche Empfinden lerne, das Lebensmögliche an der Betrachtung des naturgemäßen Organismus zu empfinden, und dann diese Empfindungsweise anwenden könne auf den sozialen Organismus.»[17] Da kann das Wesen des Organisch-Lebendigen erlebt werden, das entstehen, wachsen, aber auch sterben muss, damit wieder neues Leben entstehen kann. Dieser Kreislauf von aufbauenden und abbauenden Prozessen ist der Kern des Vergleichs.

Rein logisch würde sich der Verstand den Vergleich wie folgt aufbauen: Das Nervensystem ist die leibliche Grundlage für das Denken – also entspricht das Geistesleben dem Nervensystem. Und das Wirtschaftsleben, in dem Waren hergestellt, gehandelt und konsumiert werden, müsste man mit dem Stoffwechselsystem vergleichen, wo etwas Ähnliches in Ernährung und Verdauung stattfindet.

Steiner stellt den sozialen Organismus aber auf den Kopf und sagt, was beim Menschen Sinne und Nerven sind, dem entspricht im Sozialen das Wirtschaftsleben und das, was im Menschen Stoffwechsel ist, vergleicht er im Sozialen mit dem Geistesleben. Verständlich wird das, wenn man die beiden Pole jeweils in der Beziehung von Aufbau und Abbau sieht. Der Kopfpol wird von Abbauprozessen beherrscht und der Stoffwechselpol leistet den dazugehörigen Aufbau. So wie bei Bewusstseinsprozessen in den Nerven wirklich ein physischer Abbau stattfindet und das Gehirn permanent vom Stoffwechsel versorgt werden muss, so kann sich auch das Wirtschaftsleben nicht selbst erhalten, sondern ist auf die aufbauenden Kräfte aus dem Geistesleben angewiesen. So werden zum Beispiel in der Landwirtschaft die Ackerböden durch die intensive Nutzung ausgelaugt und verlieren ihre ursprünglich vorhandene Fruchtbarkeit. Diese kann nur durch Ideen aus dem Geistesleben wieder aufgebaut werden, wie etwa durch die biologisch-dynamischen Präparate. Auch die Giftstoffe, die sich immer mehr in den Böden ansammeln, könnten durch geeignete Präparate «erlöst» werden. Im industriellen Bereich ist der Abbau sichtbar im Aufbrauchen der begrenzt vorhandenen Rohstoffe. Auch hier ist das Wirtschaftsleben zukünftig auf neue Ideen, Erfindungen und Techniken aus dem Geistesleben angewiesen. Der Vergleich liegt also in den Funktionen Aufbau und Abbau oder Wachstum und Absterben.

In einem Gespräch am 15.02.1919 stellte Roman Boos [18] an Rudolf Steiner die Frage: «Kann man die alten drei Prinzipien mit den drei Gliedern des sozialen Organismus zusammenbringen, indem man das Recht als Salz, die Wirtschaft als Mercurius und das Geistesleben als Sulphur nimmt?» Steiners Antwort: «Man muss da vorsichtig sein. Beim Einzelmenschen entspricht: Sal dem Kopf, Mercurius der Brust und Sulphur dem unteren Menschen; beim sozialen Körper aber: Sulphur dem Geistesleben, Mercurius dem Recht, Sal der Wirtschaft.

Aus: Hans Kühn: Dreigliederungszeit

Außerdem muss man noch das Verhältnis des Einzelmenschen und des Gesellschaftskörpers je zueinander in Betracht ziehen, und da bedeutet: Sal den ‹Gesellschaftskörper›, Sulphur das ‹Individuum› und ‹dazwischen› ist Mercurius. Der soziale Körper steht auf dem Kopf…»

Es bleibt die Frage, was Steiner mit dem «dazwischen» meint in der dritten genannten Beziehung zwischen individuellem Mensch und sozialem Organismus? Das Individuum ist der tätige Prozess, als Sulphur bezeichnet und die Gesellschaft ist Sal, die aus dem Prozess geronnene Gestalt. Der zwischen Individuum und Sozialkörper vermittelnde Bereich ist Mercurius. Was kann man sich darunter vorstellen? Eine Antwort darauf gibt Steiner dreieinhalb Jahre später in den letzten Vorträgen zur sozialen Dreigliederung:[19]

«Worauf es ankommt, ist, dass man einmal klar sieht. Die Leute haben gesagt: Der Mensch ist das Produkt der Verhältnisse; wie die sozialen Verhältnisse, die sozialen Einrichtungen ringsherum sind, so ist der Mensch. Andere haben gesagt: Die sozialen Verhältnisse sind so, wie die Menschen sie sich gemacht haben. – Alle diese Lehren sind ungefähr so klug, als wenn jemand sagt oder fragt: Ist der physische Mensch das Produkt seines Kopfes oder das Produkt seines Magens? Der physische Mensch ist eben weder das Produkt seines Kopfes noch das Produkt seines Magens, sondern das Produkt der fortwährenden Wechselwirkung zwischen Kopf und Magen. Die müssen immer zusammenwirken. Der Kopf ist Ursache und Wirkung; der Magen ist Ursache und Wirkung. Und wenn wir tiefer eingehen auf die menschliche Organisation, so finden wir sogar, dass der Magen vom Kopf gemacht wird; denn im embryonalen Leben entsteht zuerst der Kopf, und dann bildet sich erst der Magen; und dann wiederum macht der Magen den Organismus. So müssen wir nicht fragen: Sind die Verhältnisse, das Milieu die Ursache, dass die Menschen so und so sind? Oder sind es die Menschen, die das Milieu, die Verhältnisse gemacht haben? Wir müssen uns klar sein, dass jedes Ursache und Wirkung ist, dass alles ineinanderwirkt, und dass wir vor allen Dingen heute die Frage auf werfen müssen: Was für Einrichtungen müssen da sein, damit die Menschen die richtigen Gedanken haben können in sozialer Beziehung? Und was für Gedanken müssen da sein, damit im Denken auch diese richtigen sozialen Einrichtungen entstehen?

Die Menschen haben nämlich gerade, wenn es auf das äußere praktische Leben ankommt, die Ansicht: Erst kommt dieses, dann kommt dieses. Damit kommt man in der Welt nicht vorwärts. Man kommt nur vorwärts, wenn man im Kreise denkt. Da denken aber die meisten Menschen: Da geht einem ein Mühlrad im Kopfe herum. Das können sie nicht. Man muss im Kreise denken; man muss sich denken, wenn man die äußeren Verhältnisse anschaut, sie sind vom Menschen gemacht, aber sie machen auch die Menschen; oder wenn man die menschlichen Handlungen anschaut, sie machen die äußeren Verhältnisse, aber werden auch wiederum getragen von den äußeren Verhältnissen, Und so müssen wir fortwährend mit unseren Gedanken hin- und hertanzen, wenn wir die Wirklichkeit haben wollen. Und das wollen die Menschen nicht. Die Menschen möchten, wenn sie irgend etwas anordnen, vor allen Dingen ein Programm: Erstens, zweitens, drittens bis zwölftens meinetwegen, und zwölf ist das letzte und eins ist das erste.»

Das Verhältnis zwischen Mensch und Einrichtung ist also von einer wechselseitigen Kausalität bestimmt. Je nach Entwicklungsphase der Menschen ist eine bestimmte Einrichtung passend. So steht die Kastengesellschaft der ägyptischen Theokratie in Übereinstimmung mit der Entwicklungsphase der Empfindungsseele. In der heutigen Bewusstseinsseelenzeit stülpt sich diese Ständegliederung der Menschen um in eine Gliederung der Einrichtungen, an denen jeder Mensch gleichermaßen Anteil hat und die nur durch seine Schöpferkraft zur Realität werden können.

Anmerkungen

[2] GA 31, Die soziale Frage, S. 248.

[3] GA 4.

[4] GA 4, S.166.

[5] GA 23, S.59.

[6] GA 174b, S. 228, 13.05.17 in Stuttgart.

[7] GA 188, S. 190, 26.01.1919 in Dornach.

[8] GA 181, S. 357, 16.07.1918 in Berlin.

[9] GA 297a, S. 33, 24.02.1921 in Utrecht.

[10] GA 21, S.150ff.

[11] GA 21, S. 159.

[12] GA 21, S. 161.

[13] GA 21, S. 161.

[14] Wolfgang Schad: Säugetiere und Mensch. Stuttgart 2012.

[15] Wolfgang Schad: Säugetiere und Mensch. Stuttgart 2012, S.30.

[16] Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23.

[17] GA 23, S. 60.

[18] Hans Kühn: Dreigliederungszeit. S. 224. Dornach 1978.

[19] GA 305, S.228, 29.08.22 in Oxford.