Der blinde Fleck der Gesellschaftskritik - Antwort auf den Leserbrief

07.01.2020

Übersicht über die Kontroverse Der blinde Fleck der Gesellschaftskritik
zwischen Georg Klemp und Johannes Mosmann

Sehr geehrter Herr Klemp,

Dass ich Ihnen weitgehend zustimme, wird im Verlauf der Artikelserie deutlich werden. Dennoch ist es für das Verständnis wichtig, den wesentlichen Unterschied meiner Auffassung zu der von Rainer Mausfeld zu bemerken. Sie schreiben, Mausfeld bezeichne „das Abstimmungsprinzip als uninteressantesten und unwichtigsten Teil der Demokratie, dem nur als Ultima Ratio eine Bedeutung zukomme, wenn andere Verständigungsverfahren versagt haben.“ Damit begrenzen Sie den Begriff der „Abstimmung“ auf das Wählen in einer repräsentativen Demokratie. Ich befasse mich jedoch mit „Meinungsbildungs- und Abstimmungsprozessen“ im Allgemeinen, beziehe also ganz bewusst die „Verständigungsverfahren“, auf die Rainer Mausfeld sich bezieht, mit ein. Alle Formen von Demokratie haben zwei Merkmale gemeinsam: 1. Die Mitglieder einer Gemeinschaft verfügen über jeweils eine Stimme, mit der sie ihre Meinung äußern und sich für oder gegen eine Idee aussprechen können. 2. Das gemeinsam Beschlossene muss verbindlich und in irgendeiner Form exekutiert werden können. Gerade auf letzteres legt Mausfeld ja großen wert: „Demokratie ist die Vergesellschaftung von Herrschaft und die Unterwerfung der Staatsapparate unter den Willen der Bürger.“ In meiner Artikelserie bekenne ich mich zu Mausfelds Demokratiebegriff, und behaupte dann: er taugt weder für die Verwaltung der Wirtschaft, noch für die des Kulturlebens, weil hier beide oben genannten Merkmale bedeutungslos werden. Mausfeld fordert: „Zentrale Bereiche einer Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, dürfen nicht von einer demokratischen Legitimation und Kontrolle ausgeklammert werden.“ Ich behaupte: das Gegenteil ist wahr, sie müssen ausgeklammert werden, weil sie demokratisch weder kontrolliert noch legitimiert werden können. Die Demokratie ist die geeignete Form für das Rechtsleben. Welche Formen demgegenüber nötig sind, damit Wirtschaft und Kultur ebenfalls von unten bestimmt werden können, führe ich in einer Serie von fünf Artikeln aus. Bezüglich der Wirtschaft entwickle ich den Begriff der Assoziation. Dass eine Assoziation wiederum die Bildung von Räten voraussetzen mag, ist richtig, aber nicht die Hauptsache. Es schadet vielleicht auch nicht, wenn die Räte ihre Entscheidungen demokratisch beschliessen. Worauf es bei den Assoziationen jedoch ankommt, ist das Verhältnis der verschiedenen Branchen zueinander, und das derselben zu den Konsumentenverbänden. Und dieses beruht, wie ich in diesem und im kommenden Heft zeige, nicht auf Demokratie.

Das Problem der repräsentativen Demokratie sehe ich, messe ihm aber nicht denselben Stellenwert bei wie Mausfeld. Im Hinblick auf Wirtschaft und Kultur halte ich jeden Begriff von Demokratie für falsch. Die Wirtschaft kann nicht demokratisch, sondern nur durch ein Assoziieren der Interessen von Konsumenten und Arbeitern legitimiert werden. Das Kulturleben wiederum muss dem freien Urteil des Einzelnen unterliegen. Lerne ich etwa einen gläubigen Juden kennen, der mir das Chanukka-Fest näher bringt, und treffe ich ihn dann wieder, nachdem ich vielleicht zu Hause das Buch der Makkabäer gelesen und die geistige Dimension des Judentums zu ahnen beginne, so findet ein sozialer Prozess statt, bei dem zu keinem Zeitpunkt irgendwelche „Meinungen“ eine Rolle spielen. Sie werden entgegnen: aber das Recht, welches eine Begegnung von Mensch zu Mensch erlaubt, ist demokratisch legitimiert. Das stimmt, aber die Begegnung selbst ist es nicht. Das mag wie Haarspalterei erscheinen, ist aber ein existentieller Unterschied. In einem System, in dem die jeweilige Begegnung erst legitimiert werden muss, gibt es keine Menschenrechte. Mir kommt es nun nicht darauf an, ob unsere Demokratie heute noch Schlupflöcher für das Kulturleben lässt, sondern darauf, die Eigentümlichkeit des Kulturlebens zu durchschauen und eine Verwaltungsform anzustreben, die dieser entspricht, sodass sich neben die Demokratie ein selbständiges Kulturleben stellt.

John Dewey, auf den Sie verweisen, wollte alles gesellschaftliche Leben dem demokratischen Ideal unterwerfen. Kinder sollten sich von klein an in demokratischen Abstimmungsverfahren üben. Lippmann dagegen analysiert in seinem Werk, wie sich die demokratisch ermittelten „Meinungen“ ihrerseits aus ökonomischen und geistig-kulturellen Prozessen speisen, die nicht demokratisch legitimiert sind. Ich versuche in diesem und im kommenden Heft zu zeigen, was die Deweys unserer Welt von den Lippmanns lernen können, ohne daraus dieselben Schlüsse ziehen zu müssen. Ich halte es für möglich, dass ein feinsinniger Mensch wie Rainer Mausfeld, sollte er auf meine Ausführungen stoßen, bemerken könnte, wie sich sein Ideal einer umfassenden Partizipation gerade dadurch realisiert, dass man die Demokratie einmal loslässt und sich demselben Problem von ihren Gegenpolen her annähert.

Johannes Mosmann