Die schweizer Krankenkasse vom anthroposophischen Standpunkt

01.10.2009

1. Die Situation der heutigen Gesundheitsinstitutionen in der Schweiz:

Am 1. Januar 1996 trat durch die Bundesrätin Ruth Dreifuss das „Bundesgesetz über die Krankenversicherung“ – kurz KGV - in Kraft. Ab diesem Moment wurde es obligatorisch für jeden, über eine Krankenversicherung zu verfügen. Dieses Gesetz sollte die „Solidarität zwischen den verschiedenen Personengruppen“ verbessern, wie es in einem Kommentar hiess. „Das KGV regelt darüber hinaus aber auch zahlreiche weitere Bereiche im Gesundheitswesen.“ Das heisst, es wird auch politisch festgelegt, wie es im Gesundheitswesen aussehen soll. Zu unterscheiden ist die Regelung in der Schweiz allerdings von einer vollkommen staatlichen Krankenkasse, wie in Dänemark beispielsweise. Es gibt in der Schweiz immerhin noch mehrere Anbieter von Krankenversicherungen.

Die obligatorische Krankenkasse wurden eingeführt, weil man glaubte, dadurch mehr Geld für alle in die Kasse zu bekommen und dieses Vermögen kontinuierlicher zur Verfügung zu haben. Die Utopie einer Kontinuität hat sich dadurch widerlegt, dass der Zahlungszwang dazu geführt hat, dass jeder soviel er konnte aus dieser Kasse für sich herauszuholen versuchte. Er musste nun ja zahlen und dafür will man eben auch etwas beanspruchen können. In das Ganze spielt aber noch einen zweiten Faktor mit hinein. Dadurch, dass jeder über eine Krankenkasse verfügen muss, macht die Medizin auch mehr Umsatz. Sie reagiert, wie ein Wirtschafter eben reagiert – auf grössere Nachfrage wird das Angebot ausgebaut. Damit wurde der Mensch durch eine „fast“-staatliche Krankenkasse in eine Maschinerie hineingezogen, an der er von sich aus wesentlich weniger Interesse hätte. Nun konsumiert er aber verschiedene Check Ups, da sie ja aus der Krankenkasse bezahlt werden. Diese Check Ups weisen dann kleine Anomalien auf, gegen die man eigentlich etwas machen könnte, sie werden ja bezahlt.

Es ist nicht zu leugnen, dass mit einer obligatorischen Krankenkasse eine staatliche Etablierung einer medizinischen Institution verbunden ist, welche in dem Ausmass von den Menschen nicht gewollt wird. Dies führt zu immensen Spitalkosten, die ironischerweise durch Staatssubventionen gesenkt werden sollen. Auch hier kommt wieder der Staat ins Spiel, der sich von den Gesundheitsinstitutionen instrumentalisieren lässt. Einerseits bewirkt der staatliche Eingriff in die Krankenversicherung eine übermässige Konsumation und andererseits bezahlt er diese dann auch wieder. Wie er zu diesem Geld kommt ist eine andere Frage, dass dieses Geld in einem anderen Bereich aber fehlen muss, ist abzusehen. Tatsache ist, dass die Medizinkosten nicht so hoch sein müssten, wenn die Wissenschaft sich nicht so einseitig ausrichten würde. In ihrer Selbstbeweihräucherung wird aber die Notwendigkeit von Riesenapparaturen in Massen betont, unaufhörliche Check Ups und chirurgische Eingriffe ab der kleinsten Anomalie. In der Schweiz sorgt der „Kantönligeist“ noch dafür, dass auch sicher jedes kleinste Kaff über einen eigenen Spital verfügt, der natürlich auch mit allen technischen Errungenschaften ausgerüstet sein muss.

Indem man eine obligatorische Krankenkasse einführt, wird nicht die Wissenschaft zur Verantwortung gezogen, sondern für allgemeingültig erklärt. Jetzt wird jeder dazu gezwungen sich der Wissenschaft, wie sie die klassische Schulmedizin betreibt anzuschliessen. Das Ganze wird unter dem missionarischen Vorwand getan, die Medizin allen zu eröffnen. Dabei profitieren diejenigen, welche sich im klassischen Medizinbereich etabliert haben, denn ihre wirtschaftlichen Interessen werden nun durch eine staatliche Gewalt gestützt.

Die Frage, ob wir diese Medizin auch wollen, wird ausgeblendet. Der selbstverantwortliche und bewusste Bürger wird ausgeschaltet. Es entscheidet nun der „Papa“ Staat für seine „Kinderlein“, denen man nur nicht zu viel zumuten soll. Die haben es ja sonst schon streng genug, die sollen nicht auch noch denken müssen. Interessant ist es, dass die klassische Medizin sich vom Laienurteil fürchtet, als ob sie was zu verbergen hätte. Als ob man herausfinden könnte, dass sie vielleicht doch nicht so allwissend ist, wie sie sich gern gibt.

Um der unangenehmen Frage auszuweichen, ob wir Schulmedizin überhaupt wollen, wurde eine Unterscheidung in Grund- und Zusatzversicherung eingeführt. Wer sich alternativ behandeln lassen will, kann das auch noch wenn er will. Es handelt sich dabei um eine Scheinfreiheit, welche durch die Möglichkeit von Zusatzversicherungen die Wahlfreiheit ersetzen will. Dass die Grundversicherung obligatorisch bleibt, daran hat sich nichts geändert. Was obligatorisch und was zusätzlich ist an einer Versicherung, muss der Einzelne entscheiden können. Diese Unterscheidung kann nicht mit der von klassischer und alternativer Medizin zusammenfallen. Solche Unterscheidungskriterien entsprechen einem staatlichen Verstandesdenken, welches nichts verloren hat in der Medizin. Die „Solidarität unter den Personengruppen“, welche mit dem Zwang zu einer Krankenversicherung, herbeigeführt werden soll, ist eine Scheinbare. Wenn man in Fragen, welche individuell beantwortet werden müssen, demokratisch beziehungsweise staatlich bestimmt, wird das „Solidarische“ als Zwang empfunden.

2. Ausblick über die Entwicklung des modernen Wissenschaftsbegriff

Ideengeschichtlich hat sich in der Renaissance die Naturwissenschaft herauszubilden begonnen, wie sie auch heute noch vorherrscht. Das Hauptinstrument ist die Mathematik. An der neu gewonnen Rationalität ist auch nichts auszusetzen – aber an ihrer Anwendung! Fehlt eine gewisse Gesetztheit, ist man noch nicht ganz in seinem individuellen Körper angekommen, glaubt man plötzlich ein überwältigendes Machtmittel in Händen zu halten. Es scheint das Problem sich seinem materiellen Dasein auszusetzen plötzlich nicht mehr nötig. Dem Leben eine bewusste Richtung zu geben ist nur möglich, wenn man wirklich Herr über das Mittel ist. Ansonsten beginnt es sich zu verselbstständigen und einseitig zu wachsen wie ein Krebsgeschwür. Man verfängt sich in abstrakten Begrifflichkeiten, welche in sich logisch daherkommen, aber vollkommen realitätsfern sind.

Man setzt die Tätigkeit des Denkens wieder in einen Zusammenhang mit dem Leben, wenn man sich bewusst ist, woher die Formen kommen. Wenn man einen Nullpunkt in sich findet und nicht schon auf gedanklichen Voraussetzungen aufbaut, welche Produkte des Denkens sind. Die Naturwissenschaft müsste sich klar machen, dass sie beim Erkennen zwei Seiten verbindet: Sinneseindrücke und mathematische Begriffe. Die mathematischen Begriffe sind nicht aus den Wahrnehmungen heraus erklärbar. Sie kommen zu diesen hinzu. Jede Untersuchung über das menschliche Gehirn bringt zwar neue Wahrnehmungen, aber kann den Umstand, dass Wissenschaft immer auch einen ideellen Pol mit einbezieht nicht durch Sinneswahrnehmungen auflösen. Egal ob man Untersuchungen im Gehirn anstellt oder ob man sich mit Phänomenen der mechanischen Physik auseinandersetzt, es ist der ideelle Pol gleichermassen anwesend. Um sich über seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen bewusst zu werden, ist es nicht zwingend notwendig Gehirnforscher zu sein. Auch wenn es eine Tatsache ist, dass man mit Gehirnschäden nicht mehr gleich denkt, wie ohne, kann das Denken nicht auf das Wahrnehmbare reduziert werden. Sonst müsste mir mal jemand erklären, wieso die Wissenschaft so scharf auf Mathematik ist! Die Mathematik zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie ohne alle Sinneswahrnehmungen betrieben werden kann. Sie ist eine rein intellektuelle Formwissenschaft. Diese intellektuellen Erzeugnisse bringt ein Naturwissenschaftler zu den Sinneswahrnehmungen hinzu. Wollte er wirklich sich nur an die Wahrnehmungen halten, dann müsste er konsequenterweise darauf verzichten! Dies zeigt, dass der Naturwissenschaftler sich eben über seine eigene Tätigkeit nicht im Klaren ist.

Ein in erkenntnistheoretische Formen gebrachter intellektueller Hochmut ist das Kantsche a priori. Kant schreibt in der Einleitung seiner Kritik der reinen Vernunft, dass eine wissenschaftliche Erkenntnis nicht bloss ein Zusammenkommen von Wahrnehmungen und Begriffen darstellt, sondern rein intellektuell zustande kämen. Also keine empirische Wurzel haben, da dies seiner Meinung nach ein Bereich ist, der unzuverlässig sei. Der Glaube, dass beim Erkennen nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt aus dem Denken komme, entspricht genau dem, was ein Naturwissenschaftler tut, der seine Formen auf Gebiete des Organischen anwendet: Er glaubt er müsse den Inhalt nicht aus der Wahrnehmung nehmen, sondern habe mit seinen Formen einen Universalschlüssel für alles Sinnliche gefunden. Die Kantsche Erkenntnistheorie ist der vollkommene Ausdruck dessen, woran das moderne Denken krankt.

Probleme, welche nicht mit diesen Formen gelöst werden können, werden falsch behandelt. Der intellektuelle Hochmut lässt es aber nicht zu, sich die Begrenztheit einzugestehen. Offenzulegen, dass die Formen, die man besitzt nur für einen bestimmten Bereich zutreffen und man sich im rein Spekulativen bewegt, wenn man diese Formen auf andere Ebenen überträgt.

Die Folgen eines fehlenden Bewusstseins des ideellen Pols im Menschen führt zu einer Vernachlässigung und Unterdrückung der Leistungen, zu denen der Mensch eigentlich fähig wäre.

3. Die Freiheit des neuzeitlichen Menschen

Das Ziel dieses Textes ist es, wie im ersten Kapitel angesprochen wurde, der Freiheit als reale Kraft Rechnung zu tragen. Dafür muss dem organischen Untersuchungsobjekt Gesellschaft mit einem entsprechenden Denken begegnet werden. Das Objekt kann nicht wie etwas Anorganisches behandelt werden, wo es kein Werden gibt. Die Freiheit ist nur in einem Werden möglich, denn sie muss getan sein. Sie ist nicht naturgegeben. Nur aus einem solch abstrakten Freiheitsbegriff, den ihn als naturgegeben ansieht, kann der Vorwurf an den hier vertretenen Ansatz stammen, dass Freiheit nicht mit einer Gliederung der Gesellschaft vereinbar sei. Dass es eine Beschneidung der Freiheit sei, Ideen zur Gliederung der Gesellschaft aufzustellen. Dieser Haltung kann es nur darum gehen Freiheit als abstraktes Ideal zu propagieren und nicht in seiner Realität.

Freiheit braucht eine materielle Grundlage, auf die sie wirkt. Dieses materielle Gegenüber kann verschiedene Formen haben: Das Wirtschaftliche, das Rechtliche und das Kulturelle. Der hier vertretene Ansatz will das freiheitliche Wirken auf diesen drei Gebieten gerade bewahren. Deshalb müssen diese drei Gebiete voneinander geschieden werden. Ansonsten beginnt die Gestaltung in einem Bereich auf einen anderen überzugreifen. Dies ist ein Rechnen mit der Freiheit als Realität. Sie muss da gepflegt werden, wo sie real eingreift ins Materielle - beziehungsweise wo sie es sollte, wenn sie da unterdrückt wird.

Gliederung bedeutet, dass man der Freiheit Raum geben will. Es bedeutet nicht, dass Vorstellungen gebildet werden sollen, wie diese Bereiche im Konkreten gestaltet werden sollen: Dies ist gerade den darin Tätigen überlassen. Darüber kann aus dem hier vertretenen Standpunkt nichts im Allgemeinen gesagt werden. Das hängt von den darin Tätigen ab. Vorstellungen zu bilden, würde bedeuten die Freiheit unwirksam zu machen. Dann wäre sie gerade keine reale Kraft mehr, sondern man würde nur noch fixe Regeln befolgen. Freiheit wäre dabei nur noch eine abstrakte Idee, die man jeder gestalterischen Kraft beraubt.

Da die Dreigliederung aus einem freiheitlichen Schauen stammt, kann sie auch auf ein organisches, lebendes Gebilde wirken, ohne etwas Störendes, Abstraktes einzumischen. Die Ideen sind aus einem freien Streben errungen. Sie sind nirgends aus der Natur abgeschaut und in Abhängigkeit von Sinneswahrnehmungen gebildet worden, sondern aus einem Denken, welches zur materiellen Realität eine Geistige hinzuschafft. Welches sich selber als reale Kraft zu den Kräften gesellt, die bisher das Leben gestaltet haben.

Das Starke dieser Geistesrichtung besteht darin, dass die drei Gebiete in ihrer Befruchtung durch das Geistesleben frei gedacht werden, ohne dass sie es in der Realität schon sein müssen. In einer organischen Wissenschaft ist man mit dem Umstand konfrontiert, dass man nicht schon alles vor sich hat, was das Untersuchungsobjekt ausmacht. Man muss durch Anstrengungen der Einbildungskraft dazu kommen, ein Bild des ganzen Wesens zu schaffen, das diesem auch tatsächlich entspricht. Dies kann und muss soweit gehen, auch abschätzen zu können, wohin es gehen muss, wenn sich der Organismus seiner Natur gemäss entwickeln will. Ein solches Denken, wenn es sich auf das gesamte organische Leben ausdehnt, kommt dazu eine Einheit in die Phänomene zu bringen, welche das Einzelne nicht einfach unter einen Begriff zwingt, sondern in ihrer Ganzheit zu nehmen vermag. Das Geistesleben muss so stark werden, dass es nicht von den sinnlichen Phänomenen verschlungen wird und in einen Materialismus führt. Es darf sich aber auch nicht in einer sinnesfeindlichen, die Wahrnehmungen zerstückelnden und verstümmelnden Weise von diesen zu emanzipieren versucht werden.

4. Ausblicke auf eine alternative Gesellschaftsform

Eine Alternative, welche dem ganzen Menschen Rechnung tragen würde, besteht, wie angedeutet, in einer Dreigliederung. Dies nicht deshalb, weil durch Anlehnung an eine christliche Trinität eine intellektuellen Seichtheit mit religiösen Gefühlen aufgewertet werden soll, sondern weil der Mensch aus einem geisteswissenschaftlichen Standpunkt dreiteilig ist. Eine dem Menschen adäquate Behandlung verlangt ihn als einen Gleichen im Geist zu behandeln. Dies bedeutet aber nicht, dass er auch im Seelischen so behandelt werden darf, denn dies wäre eine Aufoktroyierung der eignen Gedanken gegenüber anderen. Hier muss Gedankenfreiheit herrschen. Auch auf körperlicher Ebene bedeutet dies, dass man den anderen in seiner Selbstständigkeit ernst nimmt. Hier jedoch in einer anderen Weise, weil man hier über die physischen Umstände miteinander verbunden ist. Der Begriff der Freiheit wäre hier fehl am Platz. Das Selbst des anderen in seiner Wirksamkeit im Körperlichen wahrzunehmen bedeutet wahre Brüderlichkeit. Die Gleichheit im Geistigen ist das Verbindende, welches das Leben bis in seine körperliche Tätigkeit durchzieht. Wir sind zwar Individuen, aber reichen mit einer Seite in das gleiche Geisteselement hinein.

Diese Dreigliederung lehnt sich Begrifflich an die Forderungen in der Französischen Revolution: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Sie tun es aber nur den Begriffen nach, welche aus ihrer Abstraktheit herausgeführt und auf den ganzen Menschen angewandt werden müssen. Um nun auf die Gesellschaft zu kommen: Man kann diese Dreigliederung des Menschen nicht einfach abstrakt herüber nehmen, aber die Gesellschaft muss allen drei Gliedern gerecht werden. Die Freiheit gehört in den Kulturbereich: In der Ausbildung, der Kunst und der Wissenschaft bestimmt jedes Individuum für sich. Es kann keine allgemeinen Regelungen geben, wie man einen Menschen ausbildet oder welche Kunst es konsumieren soll. So muss auch die Finanzierung individuell vorgenommen werden. Es bestimmt jeder selbst was und mit welchen Beträgen er es unterstützt. Die finanzielle Beteiligung am Geistesleben hat keinen Einfluss auf die Gestaltung desselben. Dies ist den Lehrern, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden überlassen. Auch im Rechtsbereich wird die Verwaltung den darin Tätigen überlassen. Hier hat die Gleichheit ihre Gültigkeit. Es gilt Gleichheit vor dem Recht für alle. Dementsprechend wird demokratisch über die Finanzierung in diesem Bereich bestimmt. Die Abgaben sind für alle gleich hoch. Auch im Wirtschaftsglied gilt die Selbstverwaltung, der darin Tätigen. Der Staat subventioniert weder bestimmte Produkte, noch versucht er durch Inflation die Wirtschaft künstlich anzutreiben. Die Preisbildung entsteht durch die Komponenten Nachfrage, Produktion und Gütervertrieb. Der Staat kommt darin nicht vor. Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben sorgt für eine angemessene Preisbildung zwischen den daran Beteiligten. Brüderlichkeit gilt auch in Bezug auf den Besitz von Produktionsmittel. Diese gehören allen Mitarbeitenden und dementsprechend auch der Erlös aus der Produktion, dessen Verteilung unter den Produzierenden vertraglich geregelt wird. Die Unterscheidung von Arbeitsgeber und Arbeitsnehmer gibt es nicht mehr – man ist Produzent unter Produzenten.

5. Der veraltete Nationalstaat

In allen drei Gliedern verschwindet der Staat, wie er heute vorhanden ist. Wie die drei Könige in Goethes Märchen von der schönen Lilie und der grünen Schlange ihre Selbstständigkeit erlangen und den gemischten König ablösen, so verselbstständigen sich auch hier die drei Gesellschaftsbereiche und verwalten sich selbst.

Das nationalstaatliche Denken darf auch in den einzelnen Gliedern nicht vorkommen: Das Wirtschaftsleben darf nicht das Rechtsleben oder das Bildungsleben zu kontrollieren beginnen. Oder das Bildungs- oder das Rechtsleben die Wirtschaft. Ein zentralistisches Denken, wie es im Nationalstaat vorherrscht, sucht immer seine Alleinherrschaft über alle Gesellschaftsbereiche zu vergrössern.

Es handelt sich beim nationalstaatliche Denken nicht um einen gesunden Machtwillen, wie bei Nietzsche, wo es sich um eine Stärkung des Individuellen handelt, sondern um eine schizophrene Ausbreitung, welche zugleich Teile der eigenen Persönlichkeit unterdrücken. Eine solche Unterdrückung findet sich in dem erwähnten naturwissenschaftlichen Denken, wo die Formen, welche zu physikalischen Phänomenen passen, auf andere Bereiche übergestülpt werden. Die Persönlichkeit hat sich das Denken noch nicht ganz angeeignet und strebt zugleich für die Ausbreitung desselben. Dies ist eine Unterordnung. Ein Kampf für eine Sache, welche nicht ganz die Eigene ist.

Solange das menschliche Selbst noch nicht bei sich angekommen ist und ein Bestreben nach freier, geistiger Entwicklung verfolgen kann, wird es von Führerpersönlichkeiten geleitet. In dieser Entwicklungsphase macht eine zentralistische Gesellschaftsordnung Sinn. Heute hat Zentralismus keine gesellschaftliche Bedeutung mehr, sondern steht für den fehlenden Willen die eigene Entwicklung und Erringung der Formen für das eigene Leben zu übernehmen. Zentralistische Bestrebungen stellen krebsartige Auswucherungen von Einzelbereichen in andere dar, welche dazu führen, dass die missachteten Bereiche in unerklärlichen Entladungen sich mit Gewalt zu ihrem Recht verhelfen. Bei solchen Entladungen, wie man ihnen in sozialen und gesundheitlichen Problemen oder Naturkatastrophen begegnet, steht man heute oft sprachlos da und kommt nicht auf die Idee mal ganz bei sich zu beginnen und zu fragen, von was man eigentlich ausgeht in seinem Denken.

Am Beispiel der Krankenkasse sieht man gut, wie das Modell des alten Nationalstaates in unserer heutigen Zeit ein störendes Element ist in der Gesellschaft. Er ist mit einem freien Denken nicht zu vereinen - nicht wenn es eine tragende Kraft in der Gesellschaft werden soll. Gerade dazu soll ihm aber verholfen werden. Dafür muss in erster Linie die Notwenigkeit einer finanziellen und strukturellen Unabhängigkeit eingesehen werden. Dies ist eine Arbeit, welche vor allem jeder für sich zu verfolgen hat und welche nicht darin bestehen kann zum Staat zu gehen und ihm zu sagen, wo er sich einmischt. Die geistige Unabhängigkeit muss im Einzelnen etwas Tragendes werden. Den Staat kurz und klein zu schlagen hat noch nichts zur Entwicklung eines geistigen Potentials beigetragen, welches an seine Stelle treten kann. Die Forderung nach der Unabhängigkeit der drei Glieder muss gelebt sein und darf nicht eine abstrakte Systemänderung sein.

Nachtrag zum Nationalstaat:

Entweder wird heute aus einem sozialistischen Hintergrund heraus der Staat ausgebaut, der störend in die Wirtschaft eingreift, oder er wird aus einem kapitalistischen Hintergrund verwendet und in einen Standortwettbewerb eingebunden.

Der Sozialismus strebt nach einer Gleichheit vor dem Recht, bleibt aber in den Formen des Kapitalisten. Dem Rechtselement kann nur aus einer Geisteswissenschaft heraus zu einer gesunden Selbstständigkeit verhelfen. Der Kapitalismus lebt wenigstens seine Formen. Er wirkt authentisch und interessiert sich nicht für Rechtsfragen. Seine Formen entstehen aus einer reinen Naturbetrachtung, welche ohne geisteswissenschaftliche und erkenntnistheoretische Beleuchtung Richtigkeit haben kann. Mit der Nase an der Materie, kann bei den materiellsten Gebieten ohne zu verstehen, was man tut, etwas Sinnvolles herauskommen. Gemeint ist hier nicht eine Beeinflussung des Kapitalismus durch die Naturwissenschaft, sondern eine analoge Geisteshaltung. Beide entwickeln sich aus einer „naturgegebenen“ Auseinandersetzung mit dem Materiellen und haben durch diesen pragmatischen Zug eine Richtigkeit und Produktivität, ohne sich über das Denken als Instrument tiefergehend im Klaren zu sein. Sie verwenden es in einer “unbewussten”, sich ihm auf einem eng begrenzten Gebiet verpflichtenden Weise. Diese Verpflichtung dem Denken gegenüber ist auf dem beschränkten Gebiet jedoch sehr ernsthaft und anerkennungswürdig.

Übles geschieht, wenn die Bereiche, welche noch keine Formen besitzen nach Form schreien, aber den Weg des Denkens nicht auf sich nehmen wollen: Dies ist der Fall beim Sozialismus. Er spürt die Notwenigkeit von neuen Formen, aber will sie sich nicht erringen. Dies ist das Gegenstück – oder das Mitlaufen - zum überheblichen und sich überfordernden Naturwissenschaftler, der glaubt mit seinen Formen ein Universalmittel in Händen zu halten.

Charakteristisch für ein Kapitalismus, der nach Machtausbreitung strebt, aber seine Aufgabe in der Wirtschaft nicht erfasst ist das Verhältnis zum Boden: Ein zentralistisches Denken braucht immer einen materiellen Ausgangspunkt. Eine Person, ein Bauwerk oder eben ein Stück Erde. Er ist nie unabhängig von Physischem, wie es in dem hier vertretenen Begriff des Denkens der Fall ist. Der Nationalstaat hat eine physische Grenze – er ist an ein bestimmtes Grundstück gebunden.

Der Kapitalist bringt es nicht über diesen Standpunkt hinaus, wenn er seine Arbeit an den Boden gebunden sieht. Wenn er dem Boden den Stellenwert eines aktiven, menschlichen Faktors der Wertbildung gibt. Dies tut er, wenn er Staaten gegeneinander ausspielt und sich an dem Standortwettbewerb beteiligt. Das Resultat ist, dass in die Preisbildung nicht nur die drei Komponenten Nachfrage, Produktions- und Lieferungsaufwand hineinspielen, die ein gesundes Gleichgewicht halten, sondern, dass der Bodenpreis sein Unwesen darin treibt. Der Glaube der Gebundenheit des Denkens an etwas Materielles, beziehungsweise die fehlende Stärke des Denkens, sich als etwas Unabhängiges zu erleben, lässt Tür und Tor offen für Einflüsse, welche darin nichts verloren haben.

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