Nach dem NEIN: Wie weiter mit Europa?

01.06.2005

Am 5. Mai bildeten Demonstranten aus Frankreich und Deutschland bei strömendem Regen auf der Europabrücke in Kehl ein großes NON. Es war zugleich ein Ja zu einem anderen Europa: Zwei große leere Bücher wurden vorgestellt, in die alle ihre Vorstellungen, Wünsche und Ideen für ein anderes Europa und für eine andere Verfassung eintragen konnten und die nun in beiden Ländern von Aktion zu Aktion wandern sollen, Symbol für die Idee eines Verfassungsprozesses von unten.

Damals sahen die Umfragen in Frankreich die Befürworter des Verfassungsvertrages gerade wieder vorn. Von ausgewogener und fairer Berichterstattung in den Medien konnte keine Rede sein. Man muss bedenken, dass mit wenigen rühmlichen Ausnahmen fast die gesamte Medienlandschaft einschließlich eines als kritisch geltenden Blatts wie Le Monde massiv für ein Ja warb. 16.000 Menschen unterschrieben einen Aufruf gegen den Skandal: „Das zensierte NON in den Medien - es reicht!“ Die Ja-Propaganda der veröffentlichten Meinung erhielt Schützenhilfe durch deutsche Intellektuelle: Klaus Harprecht; Günter Grass, Wolf Biermann, Jürgen Habermas, Alexander Kluge, Michael Naumann und Gesine Schwan versuchten vergeblich, die Franzosen moralisch unter Druck zu setzen (Originalton: „Stemmt euch dagegen, dass Frankreich den Fortschritt verrät! Die Konsequenzen der Ablehnung wären eine Katastrophe [...] Wir sind es den Millionen Opfern unserer Kriege und Diktaturen schuldig.“) - Umso bedeutender ist der Sieg des NON. Er war nur möglich durch eine Gegenöffentlichkeit, die sich auf die Vernetzungen der Zivilgesellschaft gründete!

Dann folgte das NEE der Niederlande. Und auch in anderen EU-Ländern sank die Zahl der Befürworter rapide. In Deutschland sprachen sich bei einer Umfrage des Instituts polis für das Magazin „Focus“ nur noch 44 Prozent für das Vertragswerk aus, eine TED-Umfrage der Bildzeitung bei 400.000 Menschen erbrachte sogar eine Ablehnung von über 90 %. Hätten die Deutschen abstimmen dürfen, hätte es dadurch eine ähnlich breite Debatte gegeben wie bei den Nachbarn: das Ergebnis wäre möglicherweise letztlich auch nicht anders ausgefallen als dort. Mit dem Verzicht auf ein Referendum hat das deutsche Parlament, wie der Sprecher von Mehr Demokratie e.V. Gerald Häfner erklärte, die „Bürger unseres Landes für unmündig erklärt“.

Das doppelte Nein in Frankreich und den Niederlanden hat nun die offizielle EU-Politik in eine Krise gestürzt. Alles hätte man sich vorstellen können, aber eines nicht: einen Verfassungsvertrag ohne Frankreich. Man hoffte zunächst darauf, dass der europäischer Ratsgipfel im Juni eine Lösung bringen könne.

Verwirrung und Lösungssuche

EU-Kommissionspräsident Barroso erklärte noch in der Nacht des 29. Mai, der Ratifizierungsprozess müsse nach Plan weitergehen - und am Ende werde man sehen. Neuverhandlungen über den Text schloss er aus. Barroso und andere, wie Europaparlamentspräsident Josep Borrell glaubten, sich dabei auf die Erklärung zur Ratifikation des Vertrags in der Schlussakte berufen zu können, nach der „der Europäische Rat befasst wird, wenn nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des Vertrags über eine Verfassung für Europa vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten Vertrag ratifiziert haben und in einem Mitgliedstaat oder mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten sind.“ Der dänische EU-Parlamentarier Jens-Peter Bonde, der auch dem Konvent für die Zukunft Europas angehörte, hält dies für eine rechtlich unhaltbare Position, da Deklarationen - im Gegensatz zu Protokollen - nur Intentionen zum Ausdruck brächten und nicht bindend seien, auch müsste sich das Verfahren auf die bestehenden Verträge stützen und nicht auf einen Text, der ja eben noch gar nicht in Kraft sei.

Die Verwirrung war beträchtlich. Ein Treffen folgte nach dem anderen: Schröder und Chirac, Schröder und Juncker. Der Bundeskanzler setzte sich für ein Treffen der 6 Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft ein, Hollands Ministerpräsident Jan Balkenende war dagegen.

Diskutiert wurden auch Szenarien, die darauf abzielen, die Kernelemente der Verfassung durch Vorabimplementierung mit Verordnungen, Beschlüssen etc. durch die Hintertür einzuführen. Die portugiesische Regierung schloss nicht aus, dass doch der gesamte Ratifizierungsprozess auf Eis gelegt werde. Schweden erklärte, es wolle den Prozess sofort abbrechen, falls Frankreich oder die Niederlande neue Verhandlungen über den Inhalt der Verfassung verlangen sollten. Denn es sei sinnlos, zu etwas Position zu beziehen, das andere längst abgehakt haben. In Irland dagegen setzte man die Planungen für das eigene Referendum zunächst fort. Tschechien schlug eine Verlängerung der Ratifizierungsfrist vor. England verschob schließlich das geplante Referendum auf unbestimmte Zeit.

Der europäische Ratsgipfel am 16. bis 18. Juni scheiterte, weil keine Einigkeit über die Finanzen der Union erzielt werden konnte - Tony Blair beharrte auf dem sogenannten Britenrabatt. Der Gipfel entschied sich dafür, den Verfassungsprozess auszusetzen, die Referenden in Dänemark, Schweden, Finnland und Tschechien finden vorläufig nicht statt.

Das heißt aber nicht, dass man das Projekt „Verfassungsvertrag“ aufgegeben hätte. Man hofft, die Bevölkerung schließlich doch noch vom Nutzen des Vorhabens überzeugen zu können; am Grundkurs soll sich nichts ändern. Wirkliche Lehren aus dem Debakel werden amtlicherseits also nicht gezogen. In Deutschland könnte allerdings auch noch das Verfassungsgericht Schwierigkeiten machen. Mindestens die Position der Bundesregierung, die Karlsruher Richter gingen europäische Verträge nichts an, dürfte sich bei der Verfassungsklage des CSU-Politikers Peter Gauweiler als unhaltbar erweisen. Gauweiler wird übrigens von demselben Verfassungsjuristen vertreten, Prof. Karl-Albrecht Schachtschneider, der seinerzeit im Prozess um den Maastricht-Vertrag Festlegungen des BVG erwirkte, auf die man sich jetzt berufen kann. Offenbar, um eine einstweilige Verfügung zu vermeiden, will Bundespräsident Köhler mit der Unterschrift warten, bis über die Klage entschieden ist.

Der einzig vorwärts weisende Plan B: Europa von unten

Offenkundig ist: Es kann kein Europa ohne Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger geben. Deshalb wird die durch das doppelte Nein gewonnene Zeit nur dann wirklich genutzt werden können, wenn die Initiative für den weiteren Prozess nicht mehr denen überlassen bleibt, die für die Bürgerferne ihrer Politik gerade die Quittung erhalten haben. - Deshalb muss jetzt endlich eine öffentliche Debatte ohne Zeitdruck über die Zukunft der EU ermöglicht werden. - Deshalb darf der Ratifizierungsprozess über den vorliegenden untauglichen Text nicht weitergehen. - Ein neuer Verfassungsprozess muss nicht nur zu neuen Inhalten führen, sondern auch eine Form annehmen, die die Gestaltung von unten ermöglicht und in dem Initiativen aus der Zivilgesellschaft ein Chance haben. Unverbindlich angehört zu werden, das kann es nicht sein. Vielmehr müssen solche Initiativen angemessen in der Öffentlichkeit zur Darstellung gebracht werden können und - wenn sie das entsprechende Echo finden - auch zur Abstimmung gestellt werden, wenn diesmal in allen Ländern der Union die Bürgerinnen und Bürger selbst über ihre Verfassung befinden. Es ist zu hoffen, dass es gelingt, über eine solche Richtung innerhalb der Zivilgesellschaft einen Konsens zu finden und eine breite Bewegung dafür zu entfachen.


Für Trigolog/Trigonal aktualisierte Fassung eines Artikels, den der Autor in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift „Sozialimpulse - Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus“ veröffentlich hat (Bezug: Initiative Netzwerk Dreigliederung, www.sozialimpulse.de, BueroStrawe@sozialimpulse.de)