Gedanken zu Rudolf Steiners Schneiderbeispiel

01.03.2004

Eine der vielen Schwierigkeiten, die sich bei der Lektüre von Steiners zentraler Schrift zur Neugestaltung der Wirtschaftswissenschaft, dem Nationalökonomischen Kurs, ergeben, ist das sogenannte Schneiderbeispiel zur Arbeitsteilung. Dabei liegt die Schwierigkeit hier noch nicht einmal so sehr im inhaltlichen Verständnis, als vielmehr in der radikalen Überspitzung dieses Beispiels zu einem scheinbaren Widerspruch.

"Nehmen Sie an, ein Schneider verfertigt Kleider. Er muß selbstverständlich bei der Arbeitsteilung für andere Leute Kleider erzeugen. Er könnte aber auch so sagen: Ich erzeuge für die anderen Leute Kleider, und meine eigenen Kleider erzeuge ich mir selber." (GA 340, S. 44).

Die Verwirrung, die Steiner mit diesem Beispiel auslöste, besteht nun darin, daß er entgegen langläufigen Verständnisses zu dem Schlusse kommt, daß der Schneider in einem arbeitsteiligen Prozess sich auch den eigenen Anzug aus rein wirtschaftlichen Gründen beim Händler kaufen müßte. Würde er ihn als Selbstversorger zurückbehalten und nicht an der allgemeinen Warezirkulation teilnehmen lassen, würde dies für den Schneider letztendlich teurer kommen. "Ich habe [...] nicht gemeint, daß der Schneider nicht das Recht hätte oder den Geschmack haben könnte, sich seinen Anzug selbst zu fabrizieren; aber er sollte nur nicht meinen, daß er dadurch billiger zurechtkomme, sondern er wird ihm teurer zu stehen kommen. Er kommt ihm teurer zu stehen in seiner Gesamtbilanz nach einiger Zeit." (A. a. O., S. 52)

Diese scheinbar offene Aporie konnte bisher nicht gelöst werden und erwies sich immer wieder als mehr oder minder größerer oder kleinerer Stolperstein bei der Beschäftigung mit dem Nationalökonomischen Kurs. Wie ist dieses Beispiel zu sehen? In der Regel wird es als Beschreibung einer allgemeinen Tendenz gewertet, dernach ein Arbeiten gegen die Arbeitsteilung allgemein wirtschaftlich hemmend wirkt. Aber diesem widerspricht die Behauptung Steiners, daß dieser Effekt als reale Teuerung in der Bilanz auftaucht. Müssen wir also tatsächlich leise in den Argwohn mit einstimmen, Steiner "habe sich hier in seiner Abstraktheit verfangen." ? (Waage, S. 145)

Zunächst einmal müssen wir festhalten, daß Steiner selbst das Schneiderbeispiel eher unwichtig war, als er es am 26. Juli 1922 im 3. Vortrag des Nationalökonomischen Kurses einführt. Tatsächlich ging es ihm um etwas anderes. Zuvor beschrieb Steiner das Heraufkommen der sogenannten Arbeitsteilung und der sich hieraus ergebenden gesellschaftlichen Konsequenz des Altruismus. Mit dem eher in Parenthese behandelten Schneiderbeispiel leitete Steiner zu dem über, was sein eigentliches Anliegen war – der Lohnarbeit. Das Schneiderbeispiel diente hier also nur zur Illustration der Lohnarbeit, die auf einer höheren Ebene den gegen die Arbeitsteilung arbeitenden Schneider darstellt.

Das Publikum war es, welches sich an diesem Beispiel aufhing; was man ihm wahrlich nicht verübeln kann, da es sich einerseits um Studenten der Nationalökonomie handelte, die bisher eine doch etwas abweichende Meinung lernten, andererseits diese Behauptung auch sonst dem ersten Eindruck nach eher aporetisch erscheint. So ging Steiner zu Beginn des nächsten Vortrages am nächsten Tag noch genauer auf das Schneiderbeispiel ein. Freilich, um eher für mehr Verwirrung als für Klarheit zu sorgen. Wie das Beispiel weiterhin in den Köpfen gärte, ist daran erkennbar, daß in der 3. Seminarbesprechung vom 2. August nochmal die Frage zum Schneiderbeispiel aufkommt. Aber auch hier wird wieder die Frage so beantwortet, daß mit dem bisherigen Denken uns diese Antwort ungreifbar bleibt.

Wie ist nun das Schneiderbeispiel zu verstehen? Zunächst müssen wir zu einen besseren Verständnis der Arbeitsteilung, so wie sie Rudolf Steiner einführt, gelangen, um das Beispiel zu beleuchten. Im dritten Vortrag schildert Steiner, wie sich in einem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess Arbeit und Recht von der religiösen Organisation emanzipierten. Dadurch aber erhielt etwas im Wirtschaftsleben eine völlig neue Bedeutung – die Arbeitsteilung.

Steiner verwendet den hierfür in der Wirtschaftswissenschaft gebräuchlichen Begriff, gebraucht aber parallel zu diesem den stimmigeren der Arbeitsgliederung (z. B. S. 55). Tatsächlich wird auch nur aus einer Sichtweise die Arbeit geteilt. Aus einer anderen Sichtweise wird die Arbeit überhaupt erst zusammengeführt. Deutlich wird dies an Steiners Beispiel des Fuhrmanns, welches er im nächsten Vortrag beschreibt, der mit seinen Wagen die Bergleute zum Bergwerk fährt. Zuvor befand sich der Bergmann mit seiner Arbeit gewissermaßen in einem naturhaft-geistigen Zusammenhang zur Naturgrundlage. (Ich will nicht sagen ungeistig, denn jede Arbeit ist im Ursprung geistig organisiert.) In einem "realen Abstraktionsprozess" wird diese Arbeit zergliedert und neu organisiert.

Ebenso wie ich im gedanklichen Abstraktionsprozess die rot blühende Eigenschaft von der konkreten Blume und die rot aussehende Eigenschaft vom dinglichen Felsen abstrahiere und zum Begriff der Röte synthetisiere, so zergliedere ich auch den Arbeitsprozess in seine Elemente und fasse vernunftgemäß zusammen. Nicht nur in dem in Form gebrachten Begriff des Arbeitsweges, sondern auch gleich weiter in der in Form gebrachten Einrichtung bzw. Maschine "Bewältigung des Arbeitsweges".

Nun wird auch deutlich, wieso laut Steiner die Arbeitsgliederung erst die gegenwärtige Bedeutung gewann, als sich die naturhaft-religiöse Bestimmung des Arbeitszusammenhanges auflöste. Denn nun erst war der Leerraum geschaffen, in welcher der erwachende individuelle menschliche Geist die Menschen in ihrem Arbeitszusammenhang ergreifen und neu ordnen konnte.

Diese Arbeitsgliederung durch den menschlichen Geist, man könnte auch sagen, die Vergeistigung der Arbeit durch das zunächst niedere Ich, verursacht volkswirtschaftlich eine Wertsteigerung, die sich in der Verbilligung der Produkte äussert. Idealtypisch wäre eine solche Wirtschaft, in welcher jeder nur für den anderen arbeitet. Wenn alles an individueller Eigenheit im Wirtschaften untergegangen ist, dann besitzt der menschliche Geist die größtmögliche Freiheit, das Wirtschaftsleben zu gestalten. Wenn alles ausgeschlossen wird, was noch an selbstversorgender Tätigkeit als Effekt in Warenproduktion, Warenkonsumtion und Warenzirkulation hineinspielt, dann würde nicht nur die größtmögliche arbeitsgliedrige Effizienz erreicht werden. Auch der wahre Preis könnte durch die vollständige Zirkulation, durch den vollständigen Vergleich von Werten, bestimmt werden. Nicht aus moralischen, sondern aus rein wirtschaftlichen Gründen kommt man also dazu, den Egoismus unterdrücken zu müssen.

Mehrfach betont Steiner, daß der Altruismus hier als eine rein wirtschaftliche Forderung zu begreifen ist: "Indem die moderne Arbeitsteilung heraufgekommen ist, ist die Volkswirtschaft in bezug auf das Wirtschaften darauf angewiesen, den Egoismus mit Stumpf und Stiel auszurotten. Bitte, verstehen Sie das nicht ethisch, sondern rein wirtschaftlich! Wirtschaftlich ist der Egoismus unmöglich." (S. 46)

Allerdings ist dieses Heraufkommen der Anforderung an den Menschen nicht so rein technisch zu sehen, wie es hier scheinbar beschrieben wird. Was für ein wichtiges Moment die Arbeitsgliederung bei Steiner ist, wird schon aus dem Umstand deutlich, daß bereits 1905, also lange vor der später einsetzenden Vortragstätigkeit zur Sozialen Frage und Dreigliederung, Rudolf Steiner in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Lucifer-Gnosis" einen Aufsatz zur Arbeitsgliederung veröffentlichte.

Bedeutsam ist dieses soziale Gesetz, welches hier formuliert wird, deshalb, weil hier ein okkulter Zusammenhang hergestellt wird. Bekanntermaßen darf im Okkultismus nichts für die eigene Person erstrebt werden, sondern immer nur für die Weiterentwicklung des Anderen. Stellt man sich selbst in den Mittelpunkt der okkulten Arbeit, so mißbraucht man die erworbenen Kräfte (Schwarze Magie). Darum sind Steiners Worte nicht so von ohnehin zu nehmen: "Für uns selber hat in Wirklichkeit unsere Arbeit nur einen Scheinwert. Nur was die anderen für uns tun, hat einen Wert; während das, was wir tun, für die anderen einen Wert haben soll. Das ist etwas, was die Technik schon erreicht hat. Nur sind wir mit unserer Moral noch nicht nachgekommen." (GA 305, S. 235f)

Vor diesem Hintergrund ist das Beispiel des Schneiders zu sehen, der einmal arbeitsteilig Kleider für andere und einmal selbstversorgend Kleider für sich herstellt. Die Figur des Schneiders taucht im Werke Steiners des öfteren auf. Wahrscheinlich übernahm Steiner bei seiner Auseinandersetzung mit Karl Marx dieses eingängige Beispiel für einen Menschen, der durch seinen Beruf im arbeitsteiligen Prozess drinnensteht. So heißt es beispielsweise in den Kernpunkten: "Ein Schneider, der sich zum Eigengebrauch einen Rock macht, setzt diesen Rock zu sich nicht in dasselbe Verhältnis wie ein Mensch, der in primitven Zuständen noch alles zu seinem Lebensunterhalte Notwendige selbst zu besorgen hat. Er macht sich den Rock, um für andere Kleider machen zu können; und der Wert des Rockes für ihn hängt ganz von den Leistungen der andern ab." (GA 23, S. 133f)

Interessanterweise wird an dieser Stelle davon ausgegangen, daß sich der Schneider offensichtlich auch die Kleider für den eigenen Bedarf anfertigt. Noch genauer heißt es in einem früher gehaltenem Vortrag vom 9. April 1919: "In Wahrheit kann man in einem sozialen Organismus ebenso wenig für sich arbeiten, wie man sich selber aufessen kann. Sie werden sagen: Wenn einer ein Schneider ist und er sich selber einen Anzug macht, dann arbeitet doch für sich. Es ist nicht wahr, wenn das in einem sozialen Organismus geschieht, in dem Arbeitsteilung ist; denn das Verhältnis, das er dadurch zwischen dem Rock und sich selber herstellt, indem er diesen Rock für sich in einem sozialen Organismus mit Arbeitsteilung herstellt, ist ein ganz anderes, als in einer primitiven Wirtschaft. [...] Man kann diesen Beweis liefern, daß wenn heute sich ein Schneider einen Rock näht, er ihn aus dem Grunde näht, damit dieser Rock seinem Mitmenschen dient, damit er für andere Menschen arbeiten kann. Der Rock ist heute für den Schneider nicht mehr zum Selbstverbrauch allein zu fabrizieren, ist nicht im egoistischen Sinne zu fabrizieren, ist Produktionsmittel." (GA 329, S. 171)

In einem Vortrag vom 12. Februar 1919, also wenig vorher, wird noch deutlicher die logische Einheit von sozialem Gesetz, dem Schneiderbeispiel und der Erwerbsarbeit: "Dieses Gesetz besteht darin, daß niemand, insofern er dem sozialen Körper, dem sozialen Organismus angehört, für sich selber in Wirklichkeit arbeitet. Wohlgemerkt, insoferne der Mensch dem sozialen Organismus angehört." "Indem ich mir einen Rock, eine Hose oder dergleichen mache, arbeite ich in Wahrheit nicht für mich, sondern ich setze mich in die Lage, weiter für andere zu arbeiten. Das ist das, was die Arbeit menschliche Arbeit als Funktion rein durch ein soziales Gesetz innerhalb des sozialen Organismus hat. Wer gegen dieses Gesetz verstößt, der arbeitet gegen den sozialen Organismus. Deshalb arbeitet man gegen den sozialen Organismus, wenn man weiter verwirklicht dasjenige, was sich im neueren geschichtlichen Leben ergeben hat, daß man den proletarischen Arbeiter von dem Erträgnis seiner Arbeitskraft leben läßt." (GA 328, S. 89, 90)

Diese eingängigen Beispiele, die an mehreren Stellen in Steiners Werk auftauchen, dürften keine weitere Erläuterungen benötigen. Insofern stellt sich die Frage, wie sie sich vom Schneiderbeispiel im Nationalökonomischen Kurs unterscheiden, daß sich dort eine solche Verwirrung ergab. Wie wird dort vorgegangen?

Zunächst klingt das Schneiderbeispiel ähnlich den vorhergehenden. Aber es wird radikal modifiziert, indem Rudolf Steiner nun nach dem (objektiven) Wert des für den Eigenbedarf hergestellten Produktes fragt: "Dadurch, daß die Arbeitsteilung gekommen ist, [...] dadurch stellt sich ja für die Produkte ein gewisser Wert ein und infolge des Wertes auch ein Preis. Und jetzt entsteht die Frage: Wenn zum Beispiel durch die Arbeitsteilung, die sich ja fortsetzt in der Zirkulation, im Umlauf der Produkte, wenn also durch diese in den Umlauf der Produkte hineingelaufene Arbeitsteilung die Schneiderprodukte einen gewissen Wert haben, haben dann die Produkte, die er erzeugt für sich selbst, einen gleichen volkswirtschaftlichen Wert, oder sind sie vielleicht billiger oder teurer? Das ist eine bedeutsame Frage." (GA 340, S. 40)

Zunächst ergibt sich einem die Schwierigkeit, daß hier Dinge verglichen werden, die eigentlich nicht verglichen werden können. Denn die Kleider, die der Schneider für sich herstellt, sind ja dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht am wirtschaftlichen Austauschprozess teilnehmen. Gerade aber erst dieser Austauschprozess bewirkt, daß wir den Produkten einen gewissen Wert beimessen können. Dann können wir überhaupt erst volkswirtschaftlich von Werten sprechen. Der Selbstversorger steht mit seiner Wirtschaft noch vor der eigentlichen Volkswirtschaft; er erzeugt mit seiner dem Tierreich noch ähnlichen "Spatzenwirtschaft" Produkte, die volkswirtschaftlich zunächst nicht erfasst werden können.

Rudolf Steiner argumentiert so, daß durch die Arbeitsgliederung eine Verbilligung der Produkte stattfindet. Nicht nur in der Warenproduktion, sondern auch in der Warenzirkulation. Wenn man also als Hersteller ein Produkt für den Eigenbedarf zwar arbeitsgliedrig produziert, nicht aber an der Zirkulation teilnehmen läßt, so ist dieses Produkt objektiv teurer, als ein Produkt, welches durch die Zirkulation ging. Folgt man diesem Gedankengang, so kommt man zu dem kuriosem Ergebnis, daß dann das Produkt am billigsten ist, wenn der Hersteller es sich wie alle anderen Verbraucher auch kaufen würde.

Einsichtig ist, wieso ein Produkt im Herstellungsprozess teurer wird, sobald es sich aus dem arbeitsgliedrigem Zusammenhang löst. Weniger unmittelbar einsichtig wird dies bei der Güterverteilung. Wir müssen uns also zunächst die Funktion des Handels näher vergegenwärtigen. Was leistet der Handel? Der Handel ist durch seine verbindende Eigenschaft beschrieben. Zum einen kommuniziert der Verbraucher durch ihn mit dem Hersteller und formuliert sein Bedürfnis. Zum anderen erfolgt durch ihn auch der Transport der Waren vom Hersteller zum Verbraucher zur Bedürfnisbefriedigung. Gleichzeitig findet durch ihn natürlich auch der ausgleichende Geldstrom in die Gegenrichtung statt.

Das hierzu notwendige Netzwerk kann genauso arbeitsgliedrig organisiert werden, wie es für die Produktion gilt. Es kann soweit gegliedert werden, daß ein Teil der Tätigkeit namentlich des Produzenten, aber auch des Konsumenten, herausgestellt und zusammengefasst wird. Man kann sich auf den ersten Blick die hierdurch entstandene Arbeitserleichterung nicht gleich so leicht vergegenwärtigen. Aber wenn man die Wege einbezieht, wie dies offensichtlich im Seminar getan wurde (GA 341, S. 43), so kommt man auf die gleiche Arbeitsersparnis, wie beispielsweise der Fuhrmann für die Bergwerkleute leistete. Also wirkt der Handel verbilligend auf die Produkte.

Aber nun ist es zweifelsohne der Fall, daß der Schneider zunächst einmal hauswirtschaftlich billiger dabei wegkommt, wenn er das Kleid für den Eigenbedarf dem Handel vorenthält. Steiner bezweifelt dies auch nicht. In einem bereits erwähnten, früheren Vortrag vom 29. August 1922, wo gewissermaßen wie in einer Vorübung nach dem Wert des für den Eigenbedarf hergestellten Produktes gefragt wird, heißt es: "Sogar wenn man sich den Rock selber macht, so hat er einen solchen Preis, wie er ihn haben würde, wenn er innerhalb der ganzen sozialen Ordnung von einem anderen gemacht wird. Das heißt, was den Rock ins Ökonomische hineinstellt, das ist universell, ist aus der Gemeinschaft heraus bestimmt. Es ist nur ein Scheingebilde, wenn man meint, der vom Schneider für sich selbst hergestellte Rock sei billiger. Man kann das ausrechnen mit Zahlen, da erscheint es billiger. Würde man es aber hineinstellen in eine Gesamtbilanz, so würde man sehen: Ebensowenig wie man aus der eigenen Haut fahren kann, ebensowenig kann man, indem man sich selber ein Kleidungsstück macht, das Ökonomische ändern oder ausschalten. Auch das Kleidungsstück, das man sich selbst gemacht hat, muß insgesamt bezahlt werden." (GA 305, S. 236)

Deutlich wird hier, daß nicht hauswirtschaftlich, sondern gesamtwirtschaftlich gedacht wird. Es wird nach dem objektiven, nicht nach dem subjektiven Wert der augenblicklichen, selbstbezogenen Bilanz gefragt. So heißt es an betreffender Stelle im Nationalökonomischen Kurs auch: "Es ist so, daß alles dasjenige, was der Selbsterzeugung dient, weil es nicht in die Zirkulation, der die Arbeitsteilung zugrunde liegt, eingeht, teurer ist als dasjenige, was in die Arbeitsteilung hineingeht." (GA 340, S. 45) Also nicht nach dem, was subjektiv als augenblicklicher Gewinn erscheint, sondern was eine Ware objektiv im Zusammenhang als Wert erhält, danach wird gefragt.

Schauen wir uns den Prozess genauer an. Bis zur Produktion nimmt das Kleid des Schneiders an der Verbilligung der Arbeitsgliederung teil. Was passiert nun, wenn der Schneider aufgrund seiner besonderen Stellung im Prozess den Zirkulationsvorgang verkürzt und ein Produkt als Selbstversorger konsumiert? Tatsächlich könnte man nachweisen, daß der Schneider, der an einem bestimmten Punkt der Produktion sich aufgrund seiner Tätigkeit Produkte abzweigen kann, einen Gewinn einstreicht, der zu lasten der im Warenkreislauf ihm nachgeordneten Personen geht. Denn die Preise des Händlers sind auf einen arbeitsgliedrigen Prozess hin ausgelegt. Hält ihm der Schneider als Konsument ein Produkt vor, so muß er die Kosten für seinen persönlichen Bedarf und zur Aufrechterhaltung des Vertriebnetzes auf die übrigen Waren umlagern. Was zu einem Mehr beim Schneider, hat zu einem Minder bei Händler und anderen Konsumenten geführt.

Nun weist Steiner an späterer Stelle zur Erläuterung darauf hin, daß diese Schädigung (als solche kann man volkswirtschaftlich den Effekt schon nennen) von Warenkonsumtion und Warenzirkulation als Welle sich in die Warenproduktion rückstaut und damit auch den Schneider selbst beeinträchtigt. "Wenn nämlich Arbeitsteilung wirkt, dann verbilligt sie die Produkte in der richtigen Weise; [...] billiger eben im ganzen volkswirtschaftlichen Zusammenhang. Und wenn man gegen die Arbeitsteilung arbeitet, so bewirkt man Preisdruck bei den entsprechenden Produkten. Der Preisdruck wirkt aber im volkswirtschaftlichen Prozeß zurück. Mit anderen Worten: der Schneider wird zwar bei dem einzelnen Anzug billiger zurechtkommen; aber er wird um einen ganz kleinen Posten zunächst [...], er wird in einem gewissen Sinn auf die Preise der Kleider drücken. Die werden billiger. Dann muß er die anderen auch billiger geben. Und es handelt sich dann nur um die Zeit, nach der er nachschauen kann in der Bilanz, wieviel er für die anderen Kleider weniger eingenommen hat, als er eingenommen hätte, wenn er nicht den Preis gedrückt hätte." (A. a. O., S. 52)

Was hier irritiert, ist, daß Steiner offensichtlich einen "race to the bottom" annimmt. Denn nur unter der Bedingung, daß der einmal durch externe Effekte erlangte Tiefstpreis für ein Produkt auch wirklich über einen längeren Zeitraum eingehalten wird, kann diese Aussage stimmen. Ansonsten würde sich dieser Effekt rasch wieder selbst regulieren. Beispielsweise könnte man sich vorstellen, daß der Schneider auch tatsächlich für eine gewisse Zeit die übrigen Kleider billiger abgeben könnte. Denn wenn die Preise der Waren sich wirklich danach richten würden, daß der Hersteller sich seine Bedürfnisse befriedigen kann bis zur Anfertigung eines erneut benötigten Produktes, so würde bei einer weitgehend arbeitsgliedrigen Gesellschaft des Schneiders Gewinn ja zunächst darin bestehen, daß seine Preise so kalkuliert waren, daß der Kauf eines Kleides in seine Bedürfnisse mit einbezogen war. Andererseits müßten auch die Preise wieder anziehen, denn der Verlust für den Händler durch die Selbstversorgung des Schneiders war für einen längeren Zeitraum eine einmalige Angelegenheit. So oder so müßte der Händler seine laufenden Kosten nun unabhängig vom Verhalten des Schneiders auf seine Produkte umlagern, mit dem Ergebniss, daß die durch den Schneider eingetretene Störung niveliert werden würde.

Es stellt sich auch die Frage, ob hier eine Arbeitsgliederung überhaupt angebracht wäre. Denn eine Arbeitsgliederung macht vernünftigerweise nur Sinn, wenn sie zur Arbeitsersparnis und damit zur Verbilligung führt. Wenn aber ein Schneider, wenn er die Möglichkeit hat, in Personalunion Produzent und Konsument sein kann, so würde doch ein jedes Mehr an Kommunikations-, an Transportwegen auch ein Mehr an Arbeit bedeuten. Auch Steiner ist sich diesem Umstand bewußt. "Sie könnten höchstens noch den Einwand machen – der wäre unter Umständen berechtigt –, daß Sie sagen: das wesentlich Billigere der ohne den Händler abgesetzten Waren bestünde darinnen, daß der Schneider, wenn er sich die Waren vom Händler holen muß, dann seine Wege mitrechnen muß. Da würden Sie finden, daß durch das Einfügen des Handels tatsächlich diese Wege auch billiger kommen." (GA 341, S. 43)

Laut Steiner macht es also volkswirtschaftlich betrachtet mehr Arbeit, in einem idealtypisch angenäherten Zustand der Arbeitsgliederung, wenn der Schneider sein Bedürfnis nicht über die reguläre Warenzirkulation befriedigt. Wieso sollte dem so sein?

Einen wichtigen Hinweis, wieso dies so sein könnte, gibt uns Steiners Beschäftigung mit der von ihm so genannten "Binnenwirtschaft". Was ist die Binnenwirtschaft? Es ist zunächst nichts anderes als die Beschreibung der besonderen Auswirkungen, die eintreten, wenn ein selbstversorgerisch bzw. hauswirtschaftlich geprägtes Wirtschaftsgebiet in einen größeren arbeitsgliedrigen bzw. volkswirtschaftlichen Zusammenhang gestellt wird: "Dieser Begriff, den ich da aufstellen möchte, ist der der Binnenwirtschaft innerhalb der Volkswirtschaft. Also, wenn Wirtschaft in sich selber Wirtschaft treibt, also Tausch der Produkte in sich selber treibt, so daß also die Produkte nicht nach außen verkauft und von außen gekauft werden, sondern innerhalb der Wirtschaft selber zirkulieren – das möchte ich als Binnenwirtschaft bezeichnen gegenüber der allgemeinen Volkswirtschaft. Wo Binnenwirtschaft getrieben wird, haben wir es durchaus mit der Möglichkeit zu tun, daß nun sogar unter dem sonst volkwirtschaftlich notwendigen Preis Produkte abgegeben werden. Dadurch wird natürlich die Preisbildung innerhalb eines volkswirtschaftlichen Gebietes eine außerordentlich komplizierte Tatsachenreihe." (A. a. O., S. 126f)

Diese Binnenwirtschaft sieht Steiner besonders bei der Landwirtschaft gegeben. Dieser selbstversorgerische Hang der landwirtschaftlichen Gemeinschaft führt zu einer tendenziellen Teuerung ihrer Produkte gegenüber eines insgesamt arbeitsgliedrig organisierten Wirtschaftszusammenhangs. "Diese Tendenz wird einfach dadurch hervorgerufen, daß bei der Landwirtschaft nicht das eintreten kann, was ich vor einigen Tagen – ich möchte sagen, zur gedanklichen Schwierigkeit von einer größeren Anzahl der verehrten Zuhörer – zweimal sagen mußte: Der Selbstversorger lebt tatsächlich teuerer, also muß er für seine Produkte mehr nehmen, eigentlich muß er sie sich höher berechnen als derjenige, der seine Produkte im freien Verkehr erwirbt von anderen." Und nun kommt das wirklich Entscheidende: "In bezug auf die Gewerbe hat das einen gewissen Sinn, wenn Sie auch durch eine lange Überlegung erst vielleicht vollständig hineinfinden in diesen Sinn. In bezug auf Landwirtschaft und Forstwirtschaft hat es aber keinen Sinn." (Ebd., S. 101)

Wieso macht es bei dem einen Sinn, bei dem anderen wiederum nicht? Im Nationalökonomischen Kurs findet sich gleich nach Beantwortung des Schneiderbeispiels jener nur nebenbei geäusserte, jedoch ungeheuer wichtige Satz: "In der Landwirtschaft, wo ohnedies so viele Korrekturen des allgemeinen wirtschaftlichen Ganges stattfinden, macht es nun wirklich nicht so viel aus, ob der Bauer sein Krauthapperl aus Eigenem nimmt oder kauft." (GA 341, S. 45) Was wird hier lapidar vor einem hingestellt? Etwas, was von seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist!

Der Bauer kann deshalb weitestgehend noch Selbstversorger sein, weil eine Korrektur seiner Tätigkeit stattfindet. Was aber korrigiert hier? Es ist die Natur selbst, mit der der Bauer ganz einfach durch seine Arbeit so mannigfach verbunden ist und gar nicht anders kann, als zu ihr jene natürliche Beziehung einzugehen, welche vor der Arbeitsgliederung umfassend für die menschliche Gemeinschaft gültig war. Daß also der menschliche Geist gar nicht soweit in die Natur als Grundlage einzudringen vermag, als sie ihm hier mehr Schöpferin, denn Objekt seines Willens, entgegentritt.

Was bedeutet dies aber im Umkehrschluß? Daß es im arbeitsgliedrigen Zusammenhang der menschliche Geist ist, der nun für die notwendigen Korrekturen des menschlichen Zusammenwirkens im Wirtschaftsleben zu sorgen hat. Und was kann nur das Ziel dieses Geistes sein? Es kann gar nicht anders sein, als daß dieser menschliche Geist, sofern er bestrebt ist, das höhere Ich in seinen Handlungen sich widerspiegeln zu lassen, die größtmögliche Harmonie erzeugen will. Dies bedeutet aber, daß der Preis eines Produktes sich immer mehr seinem wahren Werte annähern soll. Dazu müssen aber immer klarere, immer transparentere Verhältnisse geschaffen werden. Jede selbstversorgerische Tendenz bedeutet aber eine Verunreinigung des arbeitsgliedrigen Zusammenhangs. Die einzelne Handlung mag für sich vielleicht nur einen kleinen Effekt, eine winzige Welle im sozialen Organismus erzeugen, in der Summe jedoch in Wechselwirkung mit anderen durch Interferenz eine beständige Trübung darstellen.

So betrachtet macht die Forderung tatsächlich Sinn, die Steiner zunächst aus einem Gedankenspiel heraus entwickelt, daß sich ein jeder Mensch seine wirtschaftlichen Bedürfnisse möglichst vollständig über den arbeitsgliedrigen Wirtschaftszusammenhang aller Menschen befriedigt, damit in größtmöglicher Reinheit Wert mit Wert verglichen werden kann. Alle sonst sich ergebenden Störungen müssten aktiv ausgeglichen werden, was, volkswirtschaftlich betrachtet, sicherlich arbeitsaufwendiger ist, als wenn der Einzelne von vornherein auf die Möglichkeit zur Selbstversorgung verzichtet.

Das Problem, welches sich noch ergibt, ist, daß dies im makroökonomischen Rahmen zwar stimmen mag, nicht aber auf der individuellen Ebene. Allerdings lassen sich Steiners Aussagen genau dahingehend interpretieren; daß also auch hauswirtschaftlich die selbstversorgende Tendenz auch für den Einzelnen in seiner Bilanz irgendwann kostspieliger sein wird. "Die Täuschung entsteht nur dadurch, daß die Quote, die sich durch einen einzigen Anzug bildet, eine außerordentlich kleine ist und es dadurch auch sehr lange dauern würde, bis in der Bilanz des Schneiders diese kleine Quote so sichtbar ist, daß er das als tatsächlich als Ausfall empfinden würde." (Ebd., S. 42) Nun, dieser scheinbare Widerspruch läßt sich nur auflösen, wenn man nach dem dahinterstehenden Menschenbild fragt. Ist es so, daß sich das niedere Ich des einzelnen Menschen dem Egoismus anheim gibt, so ist tatsächlich die Aussage Steiners falsch. Ist es aber der Fall, daß das niedere Ich bestrebt ist, das höhere Ich in sich auszubilden, so ist sie richtig. Denn für das höhere Ich ist es egal, ob ich einen Schaden mir selbst, oder nur meinem Nachbarn zufüge.

Verwendete Literatur:

Rudolf Steiner (GA 23): Die Kernpunkte der sozialen Frage. In den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1961.

Rudolf Steiner (GA 305): "Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst." Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1979.

Rudolf Steiner (GA 328): "Die soziale Frage." Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1977.

Rudolf Steiner (GA 329): "Die Befreiung des Menschenwesens als Grundlage für eine soziale Neugestaltung." Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1985.

Rudolf Steiner (GA 340): Nationalökonomischer Kurs. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1979.

Rudolf Steiner (GA 341): "Nationalökonomische Seminar." Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1986.

Peter Normann Waage: "Mensch. Markt. Macht. Rudolf Steiners Sozialimpuls im Spannungsfeld der Globalisierung." Pforte Verlag, Dornach 2003.