Direkte Demokratie und Dreigliederung
Antwort an Rainer Rappmann

01.08.2003

Einleitung

Wenn Rainer Rappmann von dem argenThal sich zu Wort meldet, darf man nicht erwarten, dass ausgerechnet aus diesem Teil der Landschaft – wer sie kennt, wird es bestätigen – der Sonne Licht den Tag erhelle ... Feucht und nebelig ist’s. Nur wenige Strahlen durchbrechen das Düstere der bewaldeten Tiefe. Nifelheimig mutet’s an. Der Fluss und die Brücke liegen meisten im Schatten dichten Waldes

Was mit diesem vergleichenden Bilde angedeutet ist, könnte seinen Inhalten nach – das zu besprechende Thema betreffend – vom "Berge" her sehr wohl durchlichtet, vollständig aufgeklärt werden. Was ja seit langem in mehreren Publikationen auch geschieht, von denen man einige z. B. jetzt auch im Netz unter www.volksentscheid.WillensBekundung.net (Erkenntnisgrundlagen und zeitgeschichtliche Zusamenhänge) findet. Darin werden aus den Gesichtspunkten der anthroposophischen Sozialwissenschaft u. a. auch jene Einwände geprüft, die Sylvain Coiplet vorgebracht hat und gegen die sich - wie ich meine zurecht - auch Rappmann wendet. Jede/r Interessierte kann die Texte studieren und sich sein Urteil bilden.

Was aber nicht übergangen werden kann, sind die – entweder aus Unwissenheit oder wider besseres Wissen – von Rappmann aufgestellten Behauptungen und Einordnungen über geschichtliche Tatbestände und über das Werk und Wirken einiger von ihm genannter Personen. Da ich auch zu diesen zähle, mag es mir erlaubt werden, diesbezüglich (im einzelnen dokumentierbare) Korrekturen anzubringen (Näheres bei oben geannter URL).

I.

1. Wilhelm Schmundt (* 1898), Peter Schilinski (*1916) und Joseph Beuys (*1921) im Hinblick darauf, dass sie Steiners "Arbeit" nicht nur "aufgegriffen", sondern "weiterentwickelt" hätten, als "jugendbewegte Zeitgenossen" zu bezeichnen, ist albern. Schmundt mag als Soldat nach dem I. Weltkrieg mit Ausläufern von Jugendbwegungen in Berührung gewesen sein, doch sein Weg zu Steiner hatte andere Wurzeln. Und Peter Schilinski war, als er 1945, fast dreißigjährig, auf Steiners "Kernpunkte" stieß, alles andere als "jugendbewegt" – er stand am Abgrund und Steiners Schrift hat ihm, wie er selbst schildert, buchstäblich das Leben gerettet, weil er bei ihm einen Weg der gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklung, einen Ausweg aus der Krise fand. Und Beuys, mehrmals abgeschossener Jagdflieger im II. Weltkrieg: War er, als er den letzten Absturz überlebt hatte, ein "jugendbewegter Zeitgenosse"?

2. Und worin eigentlich sollen Schilinski und Beuys Steiners Arbeit "weiterentwickelt" haben? Seine Bestrebungen wohl. Aber in geistiger Hinsicht – auch was die Dreigliederungs-Idee betrifft: Worin bitte? Schilinski war reiner Interpret Steiners, Beuys war ein origineller Anreger; was in seinem Wirken - ideell und projektiv - über Steiner hinausging, hat er von älteren und jüngeren Weggefährten aufgegriffen. Bei Schmundt verhält es sich schon anders. Er hat die Ansätze Steiners zur Dreigliederung ideenwissenschaftlich unter bestimmten Aspekten einer "Elementarlehre des sozialen Organismus" phänomenologisch (goetheanistisch) vertieft und weitergeführt.

3. Rappmanns Reden fehlt in allem der solide Ernst. Gags und ähnliches sind seine Sache, das hält ihn über Wasser – und natürlich die Anleihen bei denen, über die er redet. Ich verfolge sein Tun seit er nach Achberg kam (hier auch Beuys kennenlernte und sich ihm, den Braten ahnend, an die Westentaschen hing um nicht zu sagen auf den Hut setzte ...); irgend eine eigene Idee im geistigen Sinn, den Dreigliederungsimpuls betreffend, ist mir bei ihm noch nie begegnet; er lebt – geistig – aus zweiter Hand; hauptsächlich von den Brosamen, die bei den "Symposien" von Beuys, an denen er teilnahm, vom Tische fielen oder aus anderen Änlassen mit Beuys, in der Mehrzahl solchen, die auf Initiative des Verfassers stattfanden. Alles gut und erfolgreich vermarktet. Tüchtig Rainer!

4. Mein Hauptwiderspruch dagegen gilt aber direkten Erfindungen, Unwahrheiten, um nicht zu sagen Lügen, die Rappmann kolportiert. Dass er ein "falscher Fünziger" ist, wie man sagt, weiß man ja, seit er 1989 in einem Sonderdruck des "Aufruf zur Alternative", den er, historisch völlig deplaziert, in großer Anzahl in der untergehenden DDR verbreiten ließ, die am Ende des Textes zuerst genannte Achberger Adresse der Free International Universitäty eliminierte, so dass der Arbeitszusammenhang Beuys/Heidt, aus dem der Aufruf entstanden ist, nicht mehr erkennbar war. Beispiel für die Fälschung eines historischen Dokumentes! Was motiviert einen, der solches tut? Welcher schlechte Daimon führt ihm da die Feder?

Nun treibt er das Spiel der Geschichtsfälschung auch auf den Seiten des "Instituts für soziale Dreigliederung". Dem muss, zumal vonseiten des von den Unwahrheiten am meisten Betroffenen, widersprochen werden.

II.

1. Ich beschränke mich auf das Beispiel, an dem Rappmann seine Behauptung illustriert, die drei von ihm genannten Anthroposophen Schmundt, Schilinski und Beuys - letzter ist übrigens über den Verfasser Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft geworden - hätten "Steiner in den Jahrzehnten der 50er, 60er und 70er Jahre auf die Höhe der Zeit gehoben", also auf das "Beispiel der Direkten Demokratie".

Die anmaßende Äußerung: "Steiner auf die Höhe der Zeit gehoben" zu haben - übrigens auch eine der Wendungen, die ihm aus der oberflächlichen Lektüre meiner Schriften im Unterbewusstsein haften blieb - ist frivol. Steiner hat es wahrlich nicht nötig, auf eine "Höhe" gehoben zu werden, auch nicht auf die "der Zeit". Er ist dieser Zeit weit voraus, hat den Zeitgenossen für Jahrhunderte die Entwicklungsaufgaben Aufgaben gestellt – individuell wie gessamtgesellschaftlich! Demgegenüber sind auch die Genannten um ihre Mission bemühten Schüler des wirklich  "Großen".

Er, kein anderer, war geistig der Größte im 20. Jahrhundert. Das wird offenbar werden – freilich nicht durch "Spektakels" von der Art der ZDF-Masche ("Unsere Größten"), für die Rappmann und die Beuysianer ihren Meister protegieren – nach alter Sektenmaier.

2. Was dann folgt, ist reinste Geschichtsklitterung Rappmännischer Güte. Zunächst: Rudolf Steiner war durchaus nicht der Ansicht, man könne "keine Parteivertreter mehr wählen", wie R. indirekt nahelegt aus einer angeblich "logischen Konsequenz" des Grundsatzes der "Gleichheit vor dem Gesetz". Dass Peter Schilinski zu dieser Deutung kam, war seine Sache, aus der er dann eine "Initiative gegen die Wiederbewaffnung durch Volksabstimmung" generierte. Was Rainer Rappmann behauptet (= nicht mehr wählen), steht wissenschaftlich im Zusammenhang mit der Klärung der Legitimationsfrage in der Demokratie; sie duldet keine antiparlamentarischen Ressentiments [Näheres dazu bei  www.volksentscheid.willensbekundung.net in dem Text: Das Verhältnis von Wahl- und Abstimmungsrecht als Kern der Legitimationsfrage (PDF)]. Bei Peter Schilinski ging es um all das nicht. Sondern um den schlichten, weder historisch noch systematisch von ihm weitergehend erörterten Gedanken der "Volksabstimmung über Grundrechte", wie er es jahrelang propagierte.

Aus diesem sozusagen archaischen Ansatz die Behauptung abzuleiten, "alle nachfolgenden Projekte in Sache Direkte Demokratie" seien "letztlich" auf Schilinskis Initiative gegen die Wiederbewaffung des Jahres 1951 "aufgebaut", ist schlechterdings Unsinn. Die vom Achberger Instituts für Zeitgeschichte und Dreigliederungsentwicklung ausgehende Initiative »Aktion Volksentscheid« (1983) als Startimpuls für die neue Bewegung für direkte Demokratie gründet nicht in diesem Ansatz, sondern auf einem wissenschaftlich komplexen Forschungsprojekt, in welchem die Bürgerinitiative von 1951 keinerlei Rolle spielte (Näheres dazu siehe www.volksentscheid.willensbekundung.net /informierende Texte). Rappmanns Behauptung wäre in etwa vergleichbar derjenigen, die glauben machen wollte, dass die Weltraumfahrt auf dem mittelalterlichen Transportwesen aufbaue und dieses weiterentwickele.

3. Der Wahrheit nach verhält sich die Sache folgendermaßen (ich kann das ultimativ sagen, weil ich die ganze Entwicklung seit 1966 nicht nur mitgemacht, sondern mitgeprägt habe):

Als ich Peter Schilinski 1966 kennenlernte – er 50, ich die Hälfte, als Student der politischen Philosophie, Geschichte, Kunsgeschichte und Germanistik bereits einige Jahre mit Steiners Werk befasst und mit der Dreigliederung des sozialen Organismus vertraut -, waren seine Gedanken zur "direkten Demokratie" noch ebenso archaisch wie 15 Jahre zuvor. Wir haben dann zusammengarbeitet und aus der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Oppostion (APO) heraus regional drei Republikanische Clubs gegründet, einen aus der Idee der freien Universität inspirierten Hochschulgesetzentwurf entwickelt und 1968/69 die »Demokratische Union" aufgebaut, aus deren Gruppen überregional die Anfänge einer neuen Dreigliederungsbewegung entstanden (u. a. auch die "Jugendinitiative Freie Kultur" und 1971 im Republikanischen Club Lörrach die erste große Dreigliederungstagung mit Teilnehmern vielen bisher einander nicht "grünen" Strömungen der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft - im nächsten Jahr, 2003, sind dreiunddreißig Jahre seit diesem denkwürdigen Ereignis vergangen).

Was den Punkt der "direkten Demokratie" betrifft, formulierte ich zusammen mit Schilinski Ende 1968 ein Positionspapier der drei Republikanischen Clubs Sylt/Hamburg/Lörrach, welches die Frankfurter Rundschau am 23. 1. 1969 auf einer ihrer Seiten dokumentierte (siehe www.volksentscheid.willensbekundung.net / informierende Texte /Geschichtliches).

In diesem Papier stellten wir auch den Stand unseres damaligen Verständnisses von "direkter Demokratie" gegenüber dem reinen Parteienstaat dar – schon etwas entwickelter als 1951 aber noch immer relativ rudimentär. Schilinski hat dann über diese Position mehrmals in seiner Zeitschrift "Jedermann" geschrieben. Diese kam auch zu Joseph Beuys, und, davon angeregt, gründete er die "Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung" mit dem Büro in Düsseldorf und bereitete seinen Beitrag für die fünfte documenta in Kassel vor. Auch das, was Joseph Beuys dabei vorbrachte war noch weit entfernt von einer ideenwissenschaftlich gegründeten und dreigliederungsvermittelten "Theorie" zur direkten Demokratie und es war noch ganz unberührt von den dabei wichtigen historischen Zusammenhängen (ausgehend von der Französischen Revolution 1789).

III.

1. Diese Grundlegung ergab sich - nach einem Jahrzehnt der Stille um diesen Gedanken nach 1972 - erst im Zusammenhang mit dem Neuansatz im Jahr 1983 aus meiner Initiative, ausgehend vom Kreisverband Wangen/Allg. bei den Grünen den Gedanken der direkten Demokratie an die Spitze der Programmatik zu stellen.

Auch bei den Grünen lag die Entfaltung dieses Gedankens, der 1983 bundesweit fast die Mehrheit der Kreisverbände erreicht hätte, noch ganz im Rahmen unserer Position von 1968/72. Was sich aber in der Folge fundamental änderte.

Während des ganzen Jahres 1983 arbeiteten in erster Linie der Verfasser zusammen mit Bertold Hasen-Müller im Achberger Institut für Zeitgeschichte und Dreigliederungsentwicklung an einem komplexen Forschungsprojekt zur philosophischen, anthropologischen, sozialwissenschaftlichen, historischen, systemtheretischen und verfassungsrechtlichen Durchdringung und Begründung einer Theorie der direkten Demokratie in Gestalt der dreistufigen Volksgesetzgebung.

2. Aus diesem Forschungsprojekt und seinen Ergebnissen, nicht auf einer Bürgerinitiative gegen die Wiederbewaffnung von 1951, bauten in der Folge alle außerparlamentarischen wie auch die parlamentarischen Initiativen der heutigen Regierung zur Regelung der direkten Demokratie in Deutschland - mittlerweile europaweit - auf, auch die von Rappmann namentlich erwähnten. Das alles liegt dokumentiert in zahlreichen Veröffentlichungen vor, und Rappmann weiß das. Warum fälscht er diese Geschichte trotzdem und führt seine Leser hinter’s Licht?

3. Auf weiteres in seinem Artikel will ich nicht eingehen. Zum Abschluss nur noch korrigieren, dass es niemals eine "Aktion Volksentscheid Wilfried Heidt’s", wie Rainer Rappmann behauptet, gegeben hat. Vielmehr gründete ein Initiativkreis, zu dem auch Beuys, Johannes Stüttgen, Brigitte Krenkers und Herbert Schliffka, sowie der nachmalige Bundestagsabgeordnete Gerald Häfner gehörten - Rainer Rappmann nicht, weil er sich an der Arbeit nicht beteiligte - im Sommer 1983 die "Aktion Volksentscheid" als Initiative zur Aufklärung über die Zusammenhänge der direkten Demokratie und zur Bildung des politischen "Kapitals" für eine dementsprechende Kampagne.

4. Im November 1983 wurde dann dem Bundestag eine erste Petition mit Kriterien für ein "Bundesabstimmungsgesetz" eingereicht und in der Neujahrsnummer 1/1983 wurde in der Wochenzeitung DIE ZEIT auf einer ganzen Seite eine detaillierte Begründung dieses Entwurfes (mit den geläufigsten Einwänden dagegen) publiziert und gleichzeitig damit begonnen, Zustimmungserklärungen einzusammeln.

Nach zwei Wochen waren bereits über Zehntausend davon eingegangen und der Grundstock für eine neuen Organisation für direkte Demokratie war gelegt. Im frühen Herbst, am 4. Oktober 1984, wurde die Petition im Plenum des Bundestages - unterstützt von mehr als 150 000 Zustimmungserklärungen aus der Bevölkerung - behandelt. Und natürlich abgelehnt. Dass aber – nach einem Vorlauf von 1994 – inzwischen auch die Regierungsfraktionen für die dreistufige Volksgesetzgebung eintreten und in diesem Herbst wieder mit einem neuen Gesetzentwurf (siehe www.volksentscheid.willensbekundung.de ) antreten werden, das zeigt, dass die Arbeit, so mühsam und langwierig sie ist, Früchte trägt.

IV.

Zum Schluss: Für die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Einwänden von Sylvain Coiplet sollten die Interessierten wenigstens diejenigen unserer Arbeitsergebnisse kennen, die in anthroposophischen Verlagen und Zeitschriften erschienen sind (z. T. auch als PDF auf der angegebenen Homepage verfügbar). Anregen möchte ich, auf seinen Seiten einen wissenschaftlichen Diskurs über die divergierenden Positionen zu führen. Er sei hiermit ausdrücklich dazu ermuntert.

© Wilfried Heidt. Achberg 23. August 2003


Weiterführende Links

  1. Text von Sylvain Coiplet: www.dreigliederung.de/essays/2003-01-001.html
  2. Replik von Rainer Rappmann auf Sylvain Coiplet: www.dreigliederung.de/essays/2003-04-002.html
  3. Replik von Wilfried Heidt auf Rainer Rappmann: www.dreigliederung.de/essays/2003-08-001.html
  4. Klarstellung von Sylvain Coiplet zur Diskussion: www.dreigliederung.de/essays/2003-09-001.html