Nachruf auf Wilhelm Schmundt

01.09.1992

Quelle
Zeitschrift „Lazarus“
10. Jahrgang, 1992, Heft 3, Michaeli 1992, S. 43
Bibliographische Notiz

Am 23. April starb Wilhelm Schmundt, den man wahrscheinlich den bekanntesten der lebenden Dreigliederer nennen durfte, auch wenn es in seinen letzten Lebensjahren still um ihn geworden war. – Für eine biographische Skizze weiß ich leider zu wenig von ihm, darum beschränke ich mich auf Aphoristisches zu dem, was ihn als Dreigliederer auszeichnete.

Ich hatte Schmundt zuerst durch sein Buch „Der soziale Organismus in seiner Freiheitsgestalt“ (Dornach 1968), das bald die Dreigliederer in zwei Lager trennen würde, kennengelernt. Dann fiel mir der aristokratische alte Herr auf, der bei der Wiederbelebung der Dreigliederungsbewegung im Jahre 1972 dabei war. In Ellecom lernte ich ihn 1973 persönlich kennen und erfuhr mit Erstaunen, wie sich sein geschlossenes – darunter mitverstanden: unzugängliches – System des Wirtschaftsgeschehens präsentierte. Ich erlebte ihn später in Diskussionen mit seinem besten Feind, Hans Georg Schweppenhäuser, wo er unter den oft groben Angriffen immer gleich entgegenkommend und freundlich blieb. – Dann traf man ihn wieder bei den Versammlungen zu einem Neubeginn der sozialwissenschaftlichen Sektion. Es knallte, als Schmundts wirtschaftliches Bild vorgetragen wurde: Sofort meldete sich jemand mit dem Antrag, auf diesen „Unsinn“ nicht weiter einzugehen; und ebenso unmittelbar stand ein früherer Schüler von ihm auf – man erzählt sich, daß seine Schüler auf der hannoveranischen Waldorfschule ihn verehrten –, um diesen Angriff auf seinen Meister zu verurteilen. – Es war zu oft das Schicksal des friedfertigen Schmundt, zu emotioneller Polarisierung herauszufordern. – Den Saal verlassend, sprach er zu mir: „Ja, das mußte einmal geschehen“, und bis heute weiß ich nicht, ob er damit die Konfrontation meinte, oder daß seine Theorie in den heiligen Hallen des Goetheanums erklingt. – Schließlich steht auch noch das Bild des beinahe Neunzigjährigen vor mir, der ohne sichbare Ermüdungserscheinungen einen Gastvortrag von eineinhalb Stunden vor Studenten der niederländischen Ausbildung von Dreigliederern hielt. Beim Abschied – sagte er zu mir, daß dies nun wirklich das Ende seines öffentlichen Auftretens sei; er würde zu müde.

Wer heute über das Funktionieren des Wirtschaftslebens schreiben will, egal ob es aus akademischer Orthodoxie oder aus der Dreigliederung heraus geschieht, kann sich auf zwei einander scheinbar ausschließende Wege begeben. Man kann von den wirtschaftlichen Tatsachen ausgehen und probieren, in das Tohuwabohu Ordnung zu bringen. Dann ergibt sich aber, daß die Wirklichkeit sich unseren begrifflichen Möglichkeiten entzieht, es sei denn, man stopft die Tatsachen in ein – meist unbewußtes – System (Paradigma). Man kann auch von einem Urbild harmonischer Wirtschaftskreisläufe ausgehen, wobei dann Abweichungen menschlichem Versagen zugerechnet werden, wie zum Beispiel im Marxismus. Im Reich der Naturwissenschaft, wo man sich außerhalb des menschlichen Versagens befindet und nur die Frage, ob man die Urphänomene richtig erfaßt hat, zur Debatte steht, wird dieser Weg im Goetheanismus gegangen. Goethe konnte nach der Entdeckung der Urpflanze sagen, daß er nun die Elemente in der Hand hätte, noch nicht bestehende, aber lebensfähige Pflanzen zu ersinnen.

Es ist kaum verwunderlich, daß Schmundt, Naturwissenschaftler und Goetheanist von seiner Ausbildung und seinem Beruf (Waidorflehrer) her, auch für die Dreigliederung den goetheanistischen, den platonischen (wie man ihn auch nennen könnte) Ansatz nahm. Daraus ergab sich ein überraschend neuer Zugang zum Gleichgewicht wirtschaftlicher Kräfte. Beläßt man sie in ihrem Zum-Ausdruck-kommen-wollen, dann erscheint die Wirklichkeit, worin sich ja alle Spuren des Urphänomens befinden, als in dessen Richtung in Bewegung seiend. Will man die Wirklichkeit aber danach einrichten, dann darf man sich nicht der Wirklichkeit des die Wirtschaft bewegenden Menschen verschließen, der in unserer Zeit eben ein unsoziales Wesen ist. Nicht wie die Pflanze tragen ihn die selbstregsamen Kräfte zur Harmonie. Darum wird man ihn, um dem Urbild Gestalt zu geben, zwingen müssen.

Schmundt, dessen liebenswürdiger Charakter niemals etwas Negatives in einem Menschen sehen wollte, hat wohl deshalb den „Störfaktor“ niemals betrachten wollen. Ich erinnere mich noch eines lebhaften Gesprächs nach einem Vortrag von ihm. Ich konnte ihn schließlich zu einem Schritt zurück veranlassen – aber nur, um mich am nächsten Morgen strahlend zu begrüßen: „Ich habe mir heute Nacht unsere Kontroverse noch einmal zurechtgelegt. Wenn man die Dinge ins Rechte denkt, stimmt mein Bild doch.“ – Gewiß, auf Bildniveau stimmt es. Dessen Wert sollte man bei aller berechtigten Kritik nicht aus dem Auge verlieren.