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„Ihr habt die Eigentumsfrage noch vor euch“
Dank an Rolf Henrich
Quelle
Zeitschrift „Info3“
Juni 1989
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Bibliographische Notiz
In Scharen kommen in diesem Frühjahr polnische Frauen und Männer mit Taschen voller kleiner Habseligkeiten nach Berlin-West, um an Wochenenden auf Trödelmärkten einige DM zu ertauschen. Zu Tausenden stehen sie in Reih und Glied auf dem Parkplatz vor der Philharmonie, in der Abend für Abend das West-Berliner Kulturvolk Zigtausende für den Kunstgenuss mit staatlicher Förderung umsetzt, um für ein paar Mark Kristallvasen, Taschenlampen, Bernsteinketten, russischen Sekt und Schnaps und Würste feilzubieten. Nach anfänglichem Argwohn und Widerstand von Zoll, Polizei und Handel hat sich momentan ein Stillhalteabkommen diesen Besuchern gegenüber ergeben. Es sind die Menschen, deren Land im September vor fünfzig Jahren von deutscher Wehrmacht überfallen und niedergemacht wurde. Der Befehl hierzu kam aus dieser Stadt.
Der Ostblock ist in Bewegung gekommen, nicht nur durch den Generalsekretär namens Michail G., der die Nato-Strategen mit immer neuen Abrüstungsschritten in Verlegenheit bringt: Studentenbewegung in Rot-China; Ungarn baut Stück für Stück den Eisernen Vorhang nach Österreich ab; in Polen wird die Gewerkschaft Solidarność wieder zugelassen. Und die Deutsche Demokratische Republik? Diese Frage stellen sich viele, zumal im kommenden Jahr der erste Mann der dortigen Parteiherrschaft wechselt. Und selbst in dem Roman „Die Troika“, in dem der ehemalige Spionagechef der DDR, Markus Wolf, die Geschichte dreier Jugendgefährten aufzeichnet, die in ihren späteren Jahren in drei verschiedenen politischen Systemen leben und arbeiten, lässt sich das Gewicht dieser Frage zwischen den Zeilen und Seiten aufspüren: Wohin?
Fährt man von Berlin aus ein bis zwei Stunden in Richtung Polen, liegt fast auf der Grenze das Städtchen Eisenhüttenstadt. Hier lebt und arbeitet der Rechtsanwalt Rolf Henrich, 45 Jahre alt, langjähriges Mitglied der SED, deren Bezirkssekretär er lange war. Nach dem Vorabdruck seiner Kritik am „Versagen des real existierenden Sozialismus“ im März diesen Jahres im „Spiegel“-Magazin und dem Erscheinen des Buches „Der vormundschaftliche Staat“ im April, hat ihn die Partei mit Berufsverbot belegt. Weitere Strafen, obwohl vom Autor einkalkuliert, blieben bisher aus. Seitdem ist Henrich wie einst Rudolf Bahro ein von westlichen Medien begehrter Gesprächspartner und gilt neben Bärbel Bohley als prominentester Regime-Kritiker. Der Frage „Wohin“ widmet Henrich den vierten Teil des Buches, fünfzig Seiten, nach zweihundertfünfzig Seiten messerscharfer und fundierter Kritik am Staatssozialismus, Besinnung auf die Wurzeln der Ost-West-Spaltung und der Frage nach einem mitteleuropäischen Sozialismus. Und in diesem „Wohin“ bezieht er sich sehr zur Verblüffung, aber wohl auch zum Leidwesen der Journaille auf die um 1917 von Steiner entdeckte und beschriebene Gliederung der Sozialstrukturen, nach der die Gesellschaften der Moderne hinstreben.
Aber dieser „schwache Abgang“ („Der Spiegel“) ist dem Autor äußerst wichtig. So knapp diese Skizze ausfällt, so durchgearbeitet wirkt sie und durch und durch der Praxis abgelesen: etwa in der Entwicklung des Eigentumsbegriffes zu einem operativen Eigentum an den Produktionsmitteln oder in der Frage der kollektiven (nicht staatlichen!) Verwaltung des Mehrwertes oder in der Beschreibung der Bedingungen für ein freies Geistesleben. Ja, die Prägnanz, mit der Henrich Grundgedanken der Steinerschen Skizze „Kernpunkte der sozialen Frage“ (1919) umschmiedet (Eisenhüttenstadt?), löst in dem ungläubigen West-Leser die Hoffnung aus, es könne aus dem stagnierenden VEB-Sozialismus tatsächlich so etwas wie ein gegliederter Sozialismus herauswachsen... Und wurde nicht 1919-21 in Mitteleuropa um die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen in einen „geisteswissenschaftlichen Sozialismus“ gerungen, in der Dreigliederungsbewegung?
Rolf Henrich erkühnt sich, dies weiter zu denken, und zwar mit sehr großer sozialwissenschaftlicher Liebe zum Detail.
Die Musikalität zweier Menschen in beiden Hälften dieser Stadt hat es mir ermöglicht, Henrich in einem kleinen Kreis von Menschen in der DDR zu treffen. Und in diesem Kreis lebte sehr viel Entschlossenheit, Phantasie, aber auch Heiterkeit. Mir wurde einen Abend lang deutlicher, wie der Gedanke „Was habe ich davon!“, der im Westen alles politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben überformt, wie ein Fluch über der Entwicklung diesseits des Eisernen Vorhangs liegt. Ja, sie erleben dort schmerzlich, auf wie viele äußere Freiheiten und Möglichkeiten sie zu verzichten haben, und sie wissen doch umso deutlicher, dass sie die Chance haben, sich die innere Freiheit wirklich zu erringen, und so gehen sie miteinander um. Ja, sie finden es fast komisch, dass einige Unentwegte im Westen angesichts der Parteienherrschaft und der ziemlich ungebrochenen privaten Macht über Produktionsvermögen und Grund und Boden noch auf die Dreigliederung hoffen.
Vielleicht können wir in diesem Moment die Hand, die Henrich zum Dialog ausgestreckt hat, ergreifen, und auf unsere Weise die Denkbarriere „Eiserner Vorhang“ abtragen.
Literaturangabe
Rolf Henrich, Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus, Reinbek 1985 (Rowohlt Verlag)