Gedanken zum Grundeinkommen

01.06.1987

Quelle
Zeitschrift „Lazarus“
5. Jahrgang, Heft 2, Johanni 1987 S. 22–24
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung

Im Sozialdarwinismus erscheint der Mensch als eine Maschine, die Arbeit leistet und die so lange gespeist werden muß, bis sie verschlissen ist. Der „input“ ist die Verabreichung von (Rechten auf) Speise: der Lohn. Leider wurde dieses deutliche Bild von den Wucherungen des Sozialstaates verdeckt. Wesentlich denkt man heute nämlich kaum anders, wenigstens da, wo die Entscheidungen fallen. Man realisiert selten, daß Lohn in seiner heutigen Form erst mit der industriellen Revolution entstand, wenn es ihn auch als Randerscheinung schon früher gab. Durchweg aber gehörte der arbeitende Mensch zu einer (Groß-)Familie, die für sein Gesamtwohl verantwortlich war.

Arbeit ist seiner Art nach ein sozialer Begriff, womit ich meine, daß man von Arbeit nur sprechen sollte, wenn man die Bedürfnisse anderer befriedigt. Wenn jemand sein eigenes Bett macht, ist er tätig; er arbeitet dann genau so wenig, als wenn er ißt oder spazierengeht. Diese Beschäftigungen mit „Arbeit“ anzudeuten, ist genau so ein Metaphor wie das Schlagen des Herzens oder die Verdauung als Schwerarbeit zu bezeichnen.

Daß Arbeit ein sozialer Begriff ist, bedeutet aber noch nicht, daß sie auch auf sozialer Motivation beruht, das heißt um des anderen willen geleistet wird. Üblich ist, daß der andere nur das Mittel ist, um sich selbst zu bereichern. Wir nennen das das Lohn- oder Gehaltsystem. Es ist in doppelter Hinsicht unsozial. Erstens will man am Abnehmer verdienen und nicht ihm und seinen Bedürfnissen dienen. [1] Und zweitens gibt ihm der Lohnbezahler („Arbeitgeber“) eine Abfindungssumme (die übrigens genau so gut zu niedrig wie zu hoch sein kann!), behandelt ihn also als ein Objekt, das man einstellt, wenn man es braucht und das man abstößt, wenn man es nicht mehr nötig hat (oder wenn es nicht genügend leistet); wie eine Maschine also – siehe oben. Der Mensch als Objekt, das ist, wenn wir Euphemismen vermeiden wollen, der Sklave. Es ist dann strukturell nicht weiter interessant, ob der Ausgeschiedene aus den Händen des Sklavenhalters oder von Dritten sein Gnadenbrot in der Form einer Rente bezieht. Es gibt ja auch Tierpensionen, worin zum Beispiel alte Rennpferde bis zu ihrem Tod weitergefüttert werden.

Die beiden unsozialen Faktoren sind keineswegs voneinander unabhängig. Die Tatsache, daß der Mensch als Objekt behandelt und zur Lohnarbeit gezwungen wird, bringt ihn in die Situation, für diesen Lohn statt für andere arbeiten zu müssen. Wer wird es ihm verübeln, wenn er dann seine Haut so teuer wie möglich verkauft? Es setzt jene Spirale ein, die uns eigentlich erst seit dem zweiten Weltkrieg bekannt ist: der Lohngeber will für den gegebenen Lohn so viel wie möglich Arbeit haben; der Lohnempfänger will für den gegebenen Lohn so wenig wie möglich leisten. Beide benehmen sich in liberaler Sicht marktkonform. Doch je überspitzter der gegenseitige Egoismus ist, desto lohnender werden Maschinen.

Kann man aus diesem Teufelskreis aussteigen? Gewiß, aber nur prinzipiell. Der Wirtschaftsliberalismus trägt nämlich die Kraft in sich, sein eigenes System bis ins Extrem zu treiben (Technokratie). Jeder Kompromiß mit dem Wirtschaftsegoismus entstellt altruistische Ansätze im egoistischen Sinne. Steiner drückt das so aus: „Wer für sich arbeitet, muß allmählich dem Egoismus verfallen. Nur wer ganz für den anderen arbeitet, kann nach und nach ein unegoistischer Arbeiter werden“ („Geisteswissenschaft und soziale Frage“, Dornach/Schweiz 1952, Seite 36). Damit ist die Forderung an jene gestellt, die ein sozialer Mensch werden wollen, solche Einrichtungen zu schaffen, die es den Zusammenwirkenden verunmöglichen, für sich selbst zu arbeiten. Das bedeutet Trennung von Arbeit und Einkommen. Wir sind im Bereich des sozialen Hauptgesetzes.

Was sich da auf institutioneller Ebene heute schon machen läßt, habe ich in meinem Buch „Der anthroposophische Sozialimpuls“ beschrieben. Einen sehr interessanten Ansatz für die Makro-Ebene bietet Josef Edmund Zimmermann in seinem von Keynes inspirierten Artikel in „Das soziale Hauptgesetz“ (Stuttgart 1986). Steht aber unsere Gesellschaft für solche Gedanken bereits offen?

Nun, daß es so wie jetzt nicht weitergehen kann, sollte jeder wissen. Die bewußt geschaffene Reservearmee von Arbeitslosen (die die Lohnforderungen der Arbeitenden in Schranken halten sollen), die zum Augenblickserfolg hereingeholte und jetzt unerwünscht gewordene Armee von „Gast“arbeitern, die peinlich den Unrechtscharakter unserer Staaten beweisende Asylantenschwemme, sie haben die westlichen Regierungen in ein Dauerdilemma gebracht: Unser Rechtsbewußtsein läßt nicht mehr zu, die ausrangierten Sklaven verhungern zu lassen, und unser Wirtschaftsorganismus will keine unproduktiven Leute füttern. Der „Sozial“staat, der das Unverträgliche verbinden wollte, ist gescheitert. Er erregt nur noch Ärgernis. Er hat zudem die Grenzen des Rechtsstaates bereits überschritten: Das Einkommen als Gnadenbrot bei anständigem Benehmen hat zwar ein Heer von Kontrollbeamten zu einer Stellung verholfen, die um ihr Existenzrecht Nachsuchenden aber unwürdigen und entwürdigenden Prozeduren

[Lazarus, Johanni 1987 S. 22]

ausgesetzt. Man braucht heute wirklich keinen Kohl über Nachbarländer zu verzapfen. Konzentrationslager benötigen nicht einmal Stachelzäune. Wir haben heute funktionelle KZs, über denen, wie ehemals, steht: „Arbeit macht frei“.

Und doch ist das erst die erste Hälfte des Arbeitselends. Die andere besteht aus der Schädigung von der Produktion. Es waren amerikanische Großunternehmer, die sich über „für den gegebenen Lohn so wenig wie möglich Arbeit“ Gedanken zu machen anfingen. Ihr Ziel war, selbstverständlich, Erhöhung der Arbeitsleistungen. Und kalte Berechnungen zeigten: Die wohlbezahlten, aber nicht motivierten und die Wirtschaftlichkeit der Betriebe sabotierenden Arbeiter kosten nicht nur ihren Lohn, sondern auch noch einen um vieles höheren Organisationsschaden. „Gib allen Menschen ein Einkommen, wovon sie leben können, dann kommen nur noch Leute mit Arbeitsmotivation zu uns; aus dem Mehrgewinn, der dadurch entsteht, läßt sich das Grundeinkommen leicht bezahlen.“ So breit war der Druck, daß McGovern im Jahre 1972 mit "$ 1000 pro Kopf" seinen Kampf um die Präsidentschaft führte.

Löst ein Grundeinkommen das Arbeitsproblem? Ja und nein. – Von jeher haben die Herrschenden Gefangene oder Untertanen zur Arbeit gezwungen. Sklaven, Hörige, Lohnarbeiter – der Unterschied ist in der Praxis oft gering. Wer den Mitmenschen vor die Entscheidung stellt: arbeiten oder krepieren, zwingt. Darum sind auch im „freien Westen“ die Lohnarbeiter Zwangsarbeiter. Aber stets vehementer wird der Widerstand gegen jeglichen Zwang. Der Mensch erhebt sich gegen den Druck, sich den Zielen irgendwelcher Gruppierungen unterzuordnen. Er schickt sich an, sein eigenes Schicksal zu bestimmen: sich nur noch dem zu fügen, das er für das Richtige erkannt hat. Dem kleinsten (Familie) wie dem größten (Staat) Zweckorganismus wird der Dienst gekündigt. Dazu gehört auch die Forderung, jedem Menschen, einfach auf Grund seines Daseins, eine Existenz zu bieten. – Das Recht auf Leben wird auch de facto anerkannt – nur wollen unsere Obrigkeiten, wie immer, dieses Recht, wenn es schon verliehen werden muß, mit Auflagen für ihre Gängeleien ausschlachten. Ein Grundeinkommen für jeden ist primär eine Rechtsfrage. Was die Gesamtheit erwirtschaftet, ist genug, um auch diejenigen am Leben zu erhalten, die nicht arbeiten; sogar wenn sie nicht arbeiten wollen. [2] Und weil wir das heute bereits tun, ist alles Geschrei über Unbezahlbarkeit, über drohenden Arbeitermangel, über Terror der Faulen nichts als der Wunsch der Nutznießer der Arbeiter – Unternehmer wie Gewerkschaften -, den status quo aufrecht zu erhalten.

Trotzdem ist das Grundeinkommen nur der erste Schritt auf dem Wege und zwar, sollte man dabei stehenbleiben wollen, ein gefährlicher. Da, wie gesagt, das Grundeinkommen eine Rechtslösung ist, kann es, wie jede Rechtslösung, moralisch und unmoralisch genutzt werden. Und man muß wissen, daß obwohl ein Abgrund das Moralische vom Unmoralischen trennt, sie sich äußerlich oft zum Verwechseln ähneln. Gorf's „Grüner Diktator“. (Hersbruck 1980. Sehen Sie auch dazu die Buchbesprechung in diesem Heft, Redaktion) läßt das in seinem Schlußkapitel überzeugend sehen.

Nicht ein Grundeinkommen, sondern ein Existenzminimum ist dasjenige, was unsere politischen Drahtzieher erstreben. Einerseits soll es ein Heer von an der Krepiergrenze lebenden Sozialhilfeempfängern geben, das in seiner Lebensöde ganz auf die programmierenden Massenvergnügen (Fernsehen und so weiter) angewiesen sei. Das materielle Elend und die seelische Not des Ausgestoßenseins machen, daß eine genügend große Zahl dieser Menschen bereit ist, jederzeit in den Arbeitsprozeß einzusteigen und damit die privilegierte Klasse der Arbeitenden im Schach zu halten. Letztere darf zwar an der Wohlfahrt teilhaben, aber nur insoweit sie konformistisch ist. Und das Lebensniveau des Sozialhilfeempfängers soll eben so niedrig sein, daß höchstens der eine oder andere „Chaot“ aussteigt. – Auch wenn der Druck so groß werden sollte, daß man das Existenzminimum als ein Grundrecht formuliert, man es also rein formell ein Grundeinkommen nennen kann, läßt es sich ('bis auf bessere Zeiten') so niedrig halten und mit so viel Rahmenbestimmungen umgeben, daß man das Ziel, die Zweiklassengesellschaft, doch erreicht. Man hat dann das Gegenteil einer Lösung des Arbeitsproblems: eine Klasse von Parias, die nicht (für andere) arbeiten darf, und eine Klasse von Arbeitern, die in ein Anspruchsdenken programmiert wird, das sogar den Gedanken für andere zu arbeiten lächerlich erscheinen läßt.

Ein Grundeinkommen ist nur dann positiv zu werten, wenn es der erste Schritt ist, um Arbeit und Einkommen grundsätzlich zu trennen; wobei dann das Grundeinkommen ein Minimum darstellen wird, worüber hinaus aber die Gemeinschaft bestimmten Gruppen oder einzelnen, aus welchen Gründen auch immer, einen höheren Anteil am Sozialprodukt zusprechen kann. Einkommen tritt dann aus der Anspruchs- in die Zuspruchssphäre, wie es Benediktus Hardorp in seinem Beitrag in „Das soziale Hauptgesetz“ (wie oben) so richtig beschrieben hat. Dann müßte ein Grundeinkommen von Anfang an so hoch sein, daß es eine reale Alternative zu dem offiziellen Arbeitsleben darstellt – auch wenn nicht gleich eine vollständige Trennung von Arbeit und Einkommen zu realisieren ist.

Der Fluch, der seit der Austreibung aus dem Paradiese auf der Arbeit ruht – „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen“ – wird erst aufgehoben, wenn wir den Schicksalsspruch annehmen und ihn dahin wandeln, daß wir aus sozialem Empfinden, das heißt die Not des Mitmenschen zum Motiv unseres Handelns machend, für den andern arbeiten. Ohne einen damit verwobenen Anspruch, nur aus Liebe zum Menschenbruder. Nicht aus Freude am Geben, sondern weil wir seine Not wie die eigene empfinden.

Das geht natürlich nicht von allein. Es geht auch nicht mit Moralpredigten und noch weniger mit Zwang. Mit Lohn (Zuckerbrot) und Entlassung (Peitsche) sollte man heute keinen Menschen mehr erziehen wollen. Soziale Ziele erreicht man im Bewußtseinsseelenzeitalter, also zeitgemäß, wenn man Strukturen schafft – Verbote, so man will -, an denen man sich stößt und erwacht. So eine Struktur ist die rechtliche oder satzungsmässige Trennung von Arbeit und Einkommen. Sozial-sein ist eine Tat der Freiheit. Darum kann man niemanden zwingen, innerhalb so einer Struktur sozial zu sein. Er kann auch aus Freude an der Arbeit oder aus Langeweile arbeiten. Aber die Trennung ergibt, wie Steiner sagt, erst jenen, die das wollen, die Möglichkeit, sozial zu werden. [3]

Anmerkungen

[1] Es ist auch üblich, daß man sich in sogenannten gehobenen Berufen den Anschein gibt, um der Not des Mitmenschen willen zu arbeiten: Ärzte, Lehrer, Landwirtschaftsberater und so weiter. Rechnet man die paar Heiligen, die die Regel bestätigen, ab, dann ist es Lüge oder Selbstbetrug und

[Lazarus, Johanni 1987 S. 23]

zwar auch dann, wenn man seinen Beruf gern hat. Meist hält man die Freude an der Arbeit für ein soziales Motiv. Sie ist es nicht, auch nicht, wenn es eine edle und keine ehrsüchtige oder herrschsüchtige Freude ist. Sozial ist Arbeit erst, wenn sie ihr ausschließliches Motiv in der Not des Mitmenschen findet. Der „Schweinezyklus“ im Ansturm auf Studien für einkommensträchtige Berufe spricht eine deutliche Sprache. Und das sind keineswegs „die andern“. Es gehört zu den größten, wenn auch gängigen Illusionen, daß zum Beispiel die Sozialbegabung bei Anthroposophen in anthroposophischen Institutionen größer wäre als „draußen“.

[2] Ein Mensch, der nicht arbeiten will, ist krank. Er „kostet“ uns aber lang nicht so viel, wie die meisten anderen Kranken, nämlich nur sein Grundeinkommen. Unsere Wirtschaftsmoralisten könnten sich vielleicht einmal überlegen, wie viele seelische und körperliche Krüppel unser heutiger Arbeitsprozeß verursacht.

[2] Erst dahinter liegt das Bedürfniseinkommen. Um damit umgehen zu können, muß man nämlich schon sozial sein. Das meiste von dem, was sich heute unter diesem Namen präsentiert, ist eine raffinierte Form der Arbeitsausbeutung. „Bitte, sage mir dein Bedürfnis, bedenke aber wohl, daß Frau X alleinstehend ist und fünf Kinder hat, daß Herr Y zu Alimenten für seine beiden Ehemaligen verurteilt ist, und daß weiterhin jeder Pfennig, den du nicht forderst, unseren armen Kindern zugute kommt!“

Über den Autor Dieter Brüll

Jahrgang 1922, ehemaliger Waldorfschüler, Studium (Amsterdam) in Wirtschaftswissenschaft und Sozialen Wissenschaften, akademischer Dozent, letztlich als ordentlicher Professor für Steuerrecht (Auftrag: Steuerphilosophie und -soziologie). – Seit dem 16. Lebensjahr der sozialen Dreigliederung verschrieben und dafür vortragend, seminaristisch und schreibend tätig. Publikationen in deutscher Sprache unter anderem: einige Beiträge in „Gesellschaftsstrukturen in Bewegung“ (Achberg 1976), „Der anthroposophische Sozialimpuls“ (Schaffhausen 1984), „Gemeinschaft und Gemeinsamkeit“ (Stuttgart 1986).

Lebt in Joppe, Niederlande.

[Lazarus, Johanni 1987 S. 24]