- Startseite ›
- Dreigliederung ›
- Bücher & Aufsätze ›
- Details
Trennung von Arbeit und Einkommen?
Anthroposophische Perspektiven zu einer zentralen Gegenwartsfrage
1 - Arbeitslosigkeit - ein Anstoß zu gesellschaftlicher Selbsterkenntnis?
Wir können, wenn wir unseren Blick auf die menschliche Gesellschaft richten, versuchen, diese als eine Lebensform menschlicher Individuen auf ihrem jeweiligen Wege zur Individualität hin zu verstehen [1]. Die Gesellschaft fordert und fordert - so gesehen - dann auf der einen Seite die Entwicklung zur menschlichen Persönlichkeit, sie engt diese andererseits aber auch ein und hemmt sie, so scheint es. Sie wird zum einen zum Felde der Herausforderung des Schicksals durch den Menschen und erscheint ihm zum anderen wiederum als eine schicksals(zu)fügende, Unerbittlichkeiten setzende, äußere Macht. Mensch und Gesellschaft erscheinen in ihrer Entwicklung auf jeden Fall aufeinander bezogen und miteinander verflochten zu sein, wenn sie sich auf diesem Entwicklungswege zuzeiten gegenseitig fördern, zuzeiten auch hemmen.
Dies wird in der Gegenwart von vielen Menschen und von der Gesellschaft selbst am Problem der Arbeitslosigkeit erlebt. Diese nimmt für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft nicht nur irritierende, sondern zunehmend auch existenziell bedrohliche Formen an; sie wird von Politikern zum «Problem Nr. 1» erklärt [2]. Alle Welt macht sich auf, sie zu bekämpfen: jeder mit einem anderen Konzept, das ihn aus der Reihe dieser Kämpfer herauszuheben scheint. Da werden «Arbeitsbeschaffungsprogramme» entwickelt, Kredite und Zuschüsse gewährt, die Arbeitsplätze schaffen, sichern und erhalten sollen; da wird überlegt, ob man die (zu wenige?) Arbeit durch Frühpensionierung, Arbeitszeitverkürzung, Job-sharing, Ausbildungsverlängerung etc. «besser verteilen», d. h. den Mangel besser verwalten könne und ob es nicht besser (und möglich) sei, das Problem durch Repatriierung ausländischer Arbeitnehmer wenigstens bis hinter die deutsche oder die Grenze der Europäischen Gemeinschaft zu verlagern - und so weiter. Die Auflistung aller dieser Lösungen ließe sich (beliebig) verlängern.
Ein drohendes Gewitter scheint aufzuziehen. «Die Bundesrepublik steht am Vorabend eines sozialen Konfliktes», stellt «Die Zeit» fest. Man sieht das Unheil kommen und beeilt sich, als derjenige zu erscheinen, der es rechtzeitig erkannt hat und über wirksame Mittel zur Abhilfe verfügt; denn Wahl oder Wiederwahl einer Regierung und ähnliche politische Schicksale von einzelnen und Gruppen hängen an diesem Erscheinungsbild. Da die Öffentlichkeit die Wirksamkeit der Programme («Ver-Sprechungen») kaum beurteilen kann, entscheidet der politische Eindruck, den man zu erzielen vermag. Durchsetzen wird sich, das war beim Wettlauf von Hase und Igel schon so, wer das (jeweilige) Ende des Wettlaufes überlebt. Diese «Fähigkeit» scheint die Qualifikation unserer Tage für die (bessere) Zukunft zu sein.
Doch so verschieden die Standpunkte, Meinungen, Programme auch sind - eines wird von keiner Seite angezweifelt: daß Einkommen nur als Gegenleistung für (nichtselbständige) Arbeit gewährt werden kann, daß Arbeit bezahlt (eingekauft) werden muß. Dieser Grundsatz darf nur von «Nebenerscheinungen» umgangen werden, die man theoretisch noch unter diesen (alten) Grundsatz subsumieren kann - als (unternehmerisch kalkulierte) Lohnfortzahlung etwa, als Versicherungsentgelt im Falle von Krankheit oder Arbeitslosigkeit, mit anderen Worten: solange dies alles als «Fortsetzung des (normalen) Arbeitsverhältnisses (und -entgeltes) mit anderen Mitteln» im Sinne solcher Clausewitzschen Logik erscheint. Die womöglich doch zentrale Frage, ob denn der Grundsatz der Arbeitsvergütung selbst in Frage zu stellen sei, wird nicht gestellt, darf- wie es scheinen will - nicht gestellt werden. Denn zu viele Unsicherheiten brächen damit auf. Woher erhielten wir neue Grundsätze, wenn es diesen alten und bewährten Grundsatz nicht mehr gibt? Woran sollten wir uns orientieren, wenn dieser sichere nicht mehr gilt? Wie soll die Wirtschaft denn kalkulieren, wenn sie den Preis dieses wichtigen «Produktionsfaktors» nicht kennt? Ja: wer würde denn noch Menschen zur Arbeit motivieren können, wer würde denn überhaupt noch arbeiten wollen, wenn er nicht für sich zu vorher ausgemachten Bedingungen verdienen, seine «Arbeitskraft verkaufen» könnte?
Alle «Sozialpartner» (Arbeitgeber, Angestellte oder Arbeiter) leben doch von diesem Grundsatz des Arbeitsentgeltes als oberster Regel der Einkommensbildung und damit der sozialen Ordnung. Auf diesem Boden «gründet» der Großteil unserer gesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften bauen als Tarifpartner gleicherweise auf ihm auf, die öffentliche und private Versicherungswirtschaft knüpft - für die Altersversorgung «nach getaner Arbeit» - daran an; unsere hierarchische Führungsorganisation lebt davon, den Arbeitnehmer für das Linsengericht des Arbeitsentgelts «weisungsabhängig» zu halten; die staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik bis ins Steuerrecht hinein knüpft an diese Grundtatsache an. Der ungeheure, hier investierte gute Glaube muß doch geschützt werden! Wer diese Grundsätze anzweifelt, muß ein Wirrkopf oder - falls er doch zurechnungsfähig sein sollte - ein Revolutionär sein. Man sollte vor ihm auf der Hut sein.
Wenn aber, trotz allem, gerade hier - bei dem Grundsatz der Arbeitsvergütung - der Punkt läge, um den es ginge, ohne den das Problem der Arbeitslosigkeit nicht gelöst werden könnte? Wenn gerade in dieser gewohnten und üblichen, gerechten, ja «geheiligten» Art der Verknüpfung von Arbeit und Einkommen das Problem liegen würde? - dann ... ja, dann wäre ein entschiedenes Umdenken vieler Selbstverständlichkeiten von Grund auf, von der Wurzel her (radikal) nötig, dann wäre nicht nur ein sozialwissenschaftlicher Neuansatz, sondern ein umfangreicher Prozeß gesellschaftlicher Selbsterkenntnis, ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis im großen nötig.
Und eben dieses muß vom hier versuchten anthroposophischen Ansatz aus geltend gemacht werden. Anthroposophie wird von Rudolf Steiner als ein Erkenntnis-Weg beschrieben, der in der Form kontrollierter, stufenweise vom leiblich bedingten Wahrnehmen unabhängig werdender menschlicher Bewußtseinserweiterung problemorientierte Lösungswege erschließt. Auf einem solchen Wege, der von einzelnen Menschen nur jeweils selbst gegangen werden kann, können keine vorhersehbaren Fertiglösungen erwartet werden. Anthroposophische Erkenntnisse sind politisch nicht zu vermarkten. Sie sind nur für diejenigen nützlich und verwertbar, die sie sich selber erarbeiten, d. h. die den Weg, «diese Straße voll Beschwerden», der immer zugleich ein Weg der Selbsterkenntnis sein muß, selbst beschreiten. Für ihn wird man weder gewählt noch wiedergewählt - und braucht deshalb auch nicht die mit letzterem verbundenen Rücksichten zu nehmen. Dafür haben anthroposophische Erkenntnisse aber in geistigem Sinne «Hand und Fuß», d. h. sie sind nicht vorgegeben oder programmatisch fordernd, sie stellen vielmehr tatsächliche Schritte und erreichbare Wegetappen individueller, auf einem konkreten Weg befindlicher Menschen dar.
In diesem Sinne soll im folgenden in der Auseinandersetzung mit der Frage der Arbeitslosigkeit bzw. der Beziehung von Arbeit und Einkommen ein Gedankenweg beschritten werden, der eine Reihe von Ausgangserkenntnissen zu diesem Fragenkreis so durchschreitet, daß sich daraus eigene Erkenntnis- und Willenswege für den Leser ergeben können. Werden diese beschritten, so können sie zu persönlicher und gesellschaftlicher Selbsterkenntnis führen, die auch das Tor für konkrete Lösungen zu öffnen vermag. Dazu möchte das folgende als Beitrag aus anthroposophischer Sicht verstanden werden.
2. Arbeitslosigkeit - ein weltwirtschaftliches Phänomen
Die Arbeitslosigkeit scheint ein Phänomen der ganzen - zumindest der sog. «zivilisierten» - Menschheit zu sein. 2,5 Millionen Arbeitslose in der Bundesrepublik Deutschland sind nahezu noch ein «gutes Ergebnis» im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, zu den USA und den übrigen Staaten der westlichen Welt, die alle im Grundsatz der Bezahlung der Arbeit als einer Grundstütze der sozialen Ordnung huldigen. Auch die Arbeiter- und Bauernstaaten des Ostens sind auf diesen Grundsatz festgelegt; sie kaschieren lediglich die sozialen Folgen dieses Grundsatzes, indem sie die Löhne staatlich verordnen, d. h. nach dem Maße des ihnen wirtschaftlich vertretbar Erscheinenden festsetzen, und auf dieser Weise für den Preis der Frei/zeit den Mangel gleichmäßiger verteilen.
Die zunehmend staaten-übergreifenden Wirtschaftsgebiete in Ost und West (Europäische Gemeinschaft, EFTA, COMECON) lassen einzelstaatliche Regierungsmaßnahmen immer wirkungsloser erscheinen. Man muß sich zu internationalen Wirtschaftsgipfeln aller Art treffen, um der Probleme in ihrer weltwirtschaftlichen Verstrickung überhaupt ansichtig zu werden. Daß die dabei erzielten Resultate so dürftig sind, überrascht im Grunde nicht, weil sich die falschen Leute - nämlich die Politiker und nicht die wirtschaftlich Entscheidenden - treffen. Politiker müssen aber notgedrungen auf wahltaktische (Schein-)Erfolge drängen, um selber - als Person, nicht als Typ - auf der politischen Bühne zu überleben. Sie müssen aber auf wirtschaftlichem Felde erfolglos sein, weil sie auf einem Lebensgebiet herrschen wollen, auf dem sie nur dienen können, wenn sie die rechtlichen Voraussetzungen für wirtschaftlich sinnvolles Handeln schaffen.
So sind die politischen Kräfte nicht in der Lage, der weltwirtschaftlichen Ausbreitung des Problems der Arbeitslosigkeit wirksam entgegenzusteuern. Dieses wird vielmehr über alle politischen Grenzen hinweg, wie wir ständig erleben, z. B. durch Importe aus «Billig-Ländern», weiterverbreitet. Es geschieht dies im Gefolge des Exportes westlicher Lebensart, die wir - ihren wirklichen sozialen Wert oft verkennend - «Entwicklungshilfe» (zu was?) nennen. Durch die missionarische Verbreitung unserer westlichen, leistungsbezogenen materiellen Lebensart mit ihrem Grundsatz der Arbeitsvergütung erzeugen wir ständig fortschreitend noch in den fernsten Weltgegenden jenen ego-bezogenen Wirtschaftsstil, der uns dann als Billig-Konkurrenz das Problem der Arbeitslosigkeit zurückbringt. Im Bereich der Textilwirtschaft und in anderen Bereichen einfacher Fertigungen begann dieser Prozeß und setzt sich derzeit über den Schiffsbau in die hochtechnische Fertigung fort. Wir empfinden diesen Rückbezug nun leicht als Angriff- und erleben wohl nur die notwendigen Folgen unseres eigenen Handelns oder: die unbewußten und verdrängten Seiten unserer (unzureichenden) Sozialität. Selbsterkenntnis - persönlicher und sozialer Art - wäre gefordert. Aber: sind wir bereit und fähig zu ihr?
Auf den hier angesprochenen Zusammenhang hat Rudolf Steiner bereits im Jahre 1905 hingewiesen. Er entwickelte damals einen funktionellen (nicht personenbezogenen) Begriff der Ausbeutung - im Gegensatz zu Karl Marx. Er definiert dabei nicht «den Ausbeuter» (als Ziel unseres Hasses), sondern zeigt, daß Ausbeutung immer dann vorliegt, wenn ich mir die Arbeitsergebnisse anderer Menschen zu Bedingungen verschaffe, die diesen keinen zureichenden Entwicklungsraum wirtschaftlicher Art zubilligen. In diesem Sinne ist jeder, der sich Arbeitsergebnisse anderer zu günstig verschafft, der «günstig einkauft», an der Ausbeutung beteiligt -auch wenn er selbst «arm» ist. Mit anderen Worten: wir beteiligen uns alle - gewollt oder ungewollt - an der Ausbeutung im kleinen und großen (Nord-Süd-Gefälle in der Menschheit z. B.). Wir können aus dieser Beteiligung als einzelne auch gar nicht so ohne weiteres aussteigen, weil sich dem einzelnen der konkrete Sachzusammenhang erkenntnismäßig entzieht. Nur einer im größeren Rahmen zu begründenden, assoziativen, die Sachgegebenheiten überhaupt erst in den Blick bekommenden sozialen Erkenntnisform - einer «sozialen Bewußtseinserweiterung» - wäre diese soziale Selbsterkenntnis und ein daraus folgendes Urteil «zur Sache» möglich. Ohne dieses nehmen wir alle an der Ausbeutung menschlicher Lebensverhältnisse anderer teil - und werden folglich auch von deren Folgen getroffen.
Weltwirtschaft bedeutet eben in der Gegenwart nicht nur, auf die Tatsachen internationaler Verflechtungen - über den Weg staatlicher Dumping-Preise selbstverständlich auch mit den Ländern und Menschen des Ostblocks - hinzuschauen und die gegenseitigen Verkettungen im wirtschaftlichen Einzel-Handeln zu berücksichtigen, es bedeutet auch, auf das qualitativ neue Phänomen des menschheitlich sich schließenden Wirtschaftsgebietes [7] aufmerksam zu werden und seine Folgen ins Auge zu fassen. Waren die sozialen Folgen wirtschaftlichen Handelns aus regionalen und volkswirtschaftlichen Einzelgebieten durch das mit der Erschließung neuer Märkte - in den Stufen: Außenhandel, Kolonien, Welthandel, Weltwirtschaft - verbundene Wachstum, dessen Zusatzertrag jeweils zur Befriedigung der kritischen Punkte eingesetzt werden konnte, in Grenzen zu halten oder bedingt lösbar, so stoßen wir in der Gegenwart durch die Ausbildung der Weltwirtschaft als in sich geschlossenem Wirtschaftsgebiet (Menschheitswirtschaft) an qualitativ neue Grenzen. Diese bewirken den bereits gekennzeichneten Re-Import der eigenen ungelösten, ins Wirtschaftliche durchgepausten geistig-sozialen Probleme der zivilisierten Menschheit. In der Verschärfung der sozialen Auseinandersetzung bei fehlendem Wirtschaftswachstum - «Null-Wachstum» [8] pflegt man es zu nennen - ist es auch bei uns bereits bemerkt worden.
Die Menschheit konfrontiert sich zunehmend durch die qualitativ - in geschichtlicher Sicht - neuen Fakten der Menschheitswirtschaft (Weltwirtschaft) mit den zunächst verdrängten Folgen ihres eigenen Handelns, d. h. mit sich selbst. Eine neue, die verdrängten Folgen ins Auge fassende, bewußtseinserweiternde Erkenntnisform dieser Sachverhalte wird nötig [9]. Ist der Grundsatz des Eigennutzes noch der Garant wirtschaftlichen Erfolges im ganzen - wie das bisherige Glaubensbekenntnis der Nationalökonomie und ihres gedachten «homo oeconomicus» seit den Tagen von Adam Smith und J. St. Mill dies uns vermitteln wollte? Und wenn dies nicht mehr der Fall ist: können wir uns dann diesen Grundsatz im Arbeitsleben auf die Dauer weiter leisten? Liegt nicht im «Verkauf» der Arbeit zu möglichst hohem Preis bei niedrigstmöglicher Gegenleistung ein Grundübel erster Ordnung, das die weltweite Arbeitslosigkeit immer erneut heraufbeschwören muß? Dieser Frage werden wir uns stellen müssen.
3. Rudolf Steiners Ansatz und das Erbe von Adam Smith
Durch die vom menschlichen Geist entwickelten modernen Produktionsmethoden - wir nennen sie «technischen Fortschritt» - ist die weltweite Arbeitsteilung, die weltwirtschaftliche Zusammenarbeit der Menschheit entstanden. Diese Arbeitsteilung - darauf macht Rudolf Steiner mit besonderer Betonung aufmerksam - tendiert nicht nur zu dem geschilderten Phänomen der Menschheitswirtschaft, sondern für den einzelnen Menschen dahin, daß alles von ihm Erarbeitete für andere Menschen bestimmt ist und der «Sache nach» ihnen auch zufließt und daß er selber wiederum von den Arbeitsergebnissen anderer lebt. Diese Tendenz ist - den Tatsachen nach - in den von der Menschheit in den letzten Jahrhunderten entwickelten Arbeitsmethoden veranlagt; Effektivität und wirtschaftlicher Ertrag, der letztlich unsere Wohlfahrt bestimmt, ergeben sich aus ihr. Die Arbeitsteilung verbilligt die Warenproduktion - und wo ihr entgegengehandelt wird: in allen Selbstversorgungsmaßnahmen, da tritt eine mögliche Verbilligung, eine mögliche Wohlstandsanhebung nicht ein. Je mehr es dem produzierenden Menschen bei seiner Arbeit gelingt, dem Bedarf des andern gerecht zu werden, ihm zu dienen, desto höher ist die Bedarfsbefriedigung als Ziel des Wirtschaftens, desto höher ist der sachliche Arbeitsertrag. Die moderne Wirtschaft ist daher «(darauf angewiesen, den Egoismus mit Stumpf und Stiel auszurotten», sagt Rudolf Steiner und warnt vor dem Mißverständnis, daß dies als Idealismus oder als moralische Forderung verstanden werden könnte; denn: «nicht ein Gott, nicht ein sittliches Gesetz, nicht ein Instinkt fordert im modernen wirtschaftlichen Leben den Altruismus im Arbeiten, im Erzeugen der Güter, sondern einfach die moderne Arbeitsteilung»".
Und obwohl dieser Sachverhalt eindeutig und unbestreitbar ist, leben wir in unserem Verhalten und Bewußtsein so, als ob jeder für sich selbst arbeite, als ob jeder den größtmöglichen Ertrag seiner Arbeit für sich erhalten möchte oder gar könnte. Dies gilt insbesondere für den Lohnarbeiter, von dem Rudolf Steiner sagt: «Im Grunde genommen ist jeder Lohnempfänger im gewöhnlichen Sinne heute noch ein Selbstversorger. Er ist derjenige, der so viel hingibt, als er erwerben will, der gar nicht so viel an den sozialen Organismus hingeben kann, als er zu geben in der Lage ist, weil er nur so viel hingeben will, als er erwerben will.» Und daraus folgt für ihn die Frage: «Wie bringen wir aus dem volkswirtschaftlichen Prozeß heraus die Arbeit auf Erwerb? Wie stellen wir diejenigen, die heute noch bloß Erwerbende sind, so in den volkswirtschaftlichen Prozeß hinein, daß sie nicht Erwerbende, sondern aus der sozialen Notwendigkeit heraus Arbeitende sind?» [12]
Dieser Denkansatz hatte Steiner schon im Jahre 1906 dazu geführt festzustellen, daß «zwei Dinge» getrennt werden müssen im sozialen Leben, wenn der menschlichen Wohlfahrt nicht entgegengehandelt werden soll: eine Arbeit leisten und ein Einkommen beziehen [13]. Und er faßt seine Ausführungen in einem «Sozialen Hauptgesetz» zusammen, das er so formuliert:
«Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.»
Mit diesem Gesetz hatte Rudolf Steiner einen sozial beobachtbaren Wirkungszusammenhang erkenntnismäßig dargestellt, keine moralische Forderung erhoben. Er sagt lediglich: je mehr diese Gesetzmäßigkeit beachtet wird - das gilt wie ein Gesetz der Mechanik in einer technischen Anwendung -, desto günstiger wird dies für die soziale Wohlfahrt sein. Mit anderen Worten: je weniger unter der Bedingung gearbeitet wird, daß die Arbeit bezahlt wird, je mehr Arbeit und Einkommen als zwei unterschiedliche Phänomene gesehen und in ihrer Behandlung bewußt getrennt gehandhabt werden, desto größer ist «das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen».
Vom Wortlaut her ganz ähnlich, in der Sache aber diametral entgegengesetzt hat sich dazu der «Vater der klassischen Nationalökonomie», Adam Smith, vor jetzt zweihundert Jahren in seinem Buche «Der Wohlstand der Nationen» («Wealth of Nations») geäußert [14]. Für ihn sind Eigenliebe und Selbstinteresse die Antriebskräfte allen wirtschaftlichen Handelns, die im Rahmen der von der Gesellschaft gesetzten Standards und Regeln wie: Konkurrenz, positives Recht, ethische Regeln, Regeln des Mitgefühls (Gewissens), d. h. in von außen durch Regeln «gebändigten» Formen des Egoismus, das Gemeinwohl unter unbewußt-unerkannter Mitwirkung der «invisible hand» zwangsläufig herbeiführen. Auf diesen von Smith formulierten Grundsätzen des von außen – wie Wasserkraft in einer Turbine - gebändigten Selbstinteresses als gedachter Quelle des Gemeinwohls beruht seit 200 Jahren ein wesentlicher Teil unserer nationalökonomischen Wissenschaft und ein Großteil der politischen Praxis; ja, in unseren Tagen glaubt man sogar von einer «weltweiten Renaissance» der Ideen des Adam Smith sprechen zu können, weil sie von Nationalökonomen wie Paul S. Samuelson und S. Hollander «überprüft, gerechtfertigt und verteidigt» worden - Steht dies nicht alles unseren aufgeworfenen Fragen wie ein Fels entgegen? Widerspricht dies nicht alles dem Ansatze Rudolf Steiners von Grund auf?
Was liegt - anthroposophisch gesehen - mit den Thesen des Adam Smith eigentlich vor? Folgen wir der Darstellung Rudolf Steiners [1], so beschreibt Adam Smith in seiner sozialen Grundthese einen Zustand, der menschheitsgeschichtlich gerade abgelaufen war. Steiner weist darauf hin, daß in der Menschheit die Fragen der sozialen Eingliederung und der Behandlung der Arbeit erst mit der Verselbständigung des Rechtes aus der Einbindung in das sozial wirksame religiöse Gebot relevant werden: «Sie können erst dann vom Recht sprechen, wenn sich das Recht sondert vom Gebot. In ältesten Zeiten ist das Gebot ein einheitliches. Es enthält zugleich alles, was rechtens ist. Dann wird das Gebot immer wieder zurückgezogen auf das bloß seelische Leben und das Recht macht sich geltend mit Bezug auf das äußere Leben.» Und er fährt fort: «Nun hat das eine ganz bestimmte Folge. Sehen Sie, solange die religiösen Impulse für das gesamte soziale Leben der Menschheit maßgebend sind, solange schadet der Egoismus nichts. Das ist eine außerordentlich wichtige Sache für das Verständnis auch der sozialen, volkswirtschaftlichen Prozesse. Der Mensch mag noch so egoistisch sein: wenn die religiöse Organisation, wie sie z. B. in bestimmten Gebieten des alten Orients ganz streng war, wenn die religiöse Organisation so ist, daß der Mensch trotz seines Egoismus sich eben in fruchtbarer Weise hineingliedert in das soziale Leben, dann schadet der Egoismus nicht; aber er fängt an im Völkerleben eine Rolle zu spielen in dem Augenblick, wo das Recht und die Arbeit sich heraussondern aus den anderen sozialen Impulsen, sozialen Strömungen. Daher strebt - ich möchte sagen - unbewußt der Menschheitsgeist in der Zeit, während Arbeit und Recht sich eben emanzipieren, danach, fertig zu werden mit dem menschlichen Egoismus, der sich nun regt und der in einer gewissen Weise hineingegliedert werden muß in das soziale Leben. Dieses Streben gipfelt dann einfach in der modernen Demokratie, in dem Sinn für Gleichheit der Menschen, dafür, daß jeder seinen Einfluß hat darauf, das Recht festzustellen und auch seine Arbeit festzustellen.»
Dieser Entwicklung des Rechtes korrespondiert - als soziales Gegengewicht - die Entwicklung der Arbeitsteilung mit ihrer größeren wirtschaftlichen Produktivität und ihrer immer stärker hervortretenden Tendenz zur Weltwirtschaft und den damit zusammenhängenden, dargestellten Problemen. Wer Adam Smith in diesem Kontext zu verstehen versucht, kann erkennen, daß Smith einen früheren sozialen Menschheitszustand richtig formuliert - und ihn nur fälschlich als Gesetz der Gegenwart sieht. Er hat noch nicht die fundamentale Bedeutung der Arbeitsteilung in dem hier geltend gemachten Sinne und mit ihr die zunehmende Tendenz zum faktischen Altruismus aus der wirtschaftlichen Sachgesetzlichkeit heraus genügend bemerkt. An diese Sachgesetzlichkeit der Arbeitsteilung mit ihrer Tendenz zur Überwindung der Lohnarbeit als einem Selbstversorgungsrelikt eben dieser vergangenen Menschheitsepoche knüpft Rudolf Steiner an und deckt die entwicklungsgeschichtliche Tendenz zur Überwindung dieses arbeitsteilungsfeindlichen Restes der Selbstversorgungswirtschaft in der entstehenden weltwirtschaftlichen Menschheitswirtschaft auf.
Könnte man sich in diesem Sinne auch mit den menschheitsgeschichtlich überholten Thesen des Adam Smith versöhnen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die Auswirkung dieser überkommenen Anschauung noch heute in weitem Umfange die nötige soziale Entwicklung hindert, indem sie ein sachlich hinter den Tatsachen zurückgebliebenes soziales Bewußtsein für zeitgerecht erklärt und im Ergebnis den Menschen bedeutet, daß sie keine Anstrengung auf sich zu nehmen brauchen, um auch in ihrem Bewußtsein die Gegenwart der arbeitsteiligen Menschheitswirtschaft zu erreichen. «Bleibt in Eurem Bewußtsein, wo ihr seid», ist damit die Losung des Adam Smith und seiner Nachfolger, die der Gegenwart geistig nicht gerecht wird, sondern sie mit einem schweren sozialen Erbe belastet. Smith und seine Folger setzen auf die soziale Trägheitskraft fortrollenden Verhaltens. Rudolf Steiner dagegen fordert soziale Anstrengung und Bewußtseinsentwicklung von uns. Und wir können bemerken: Während die alte Bewußtseinsform in uns die Bereitschaft erzeugt, die Arbeitslosigkeit als systemgerechtes unvermeidliches Schicksal hinzunehmen, schafft die andere womöglich die Bedingungen, Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf durch soziale Entwicklungsschritte zu überwinden. Sie schafft Bewußtsein für gegebene soziale Tatsachen - die Arbeitsteilung z. B. - und fordert damit Einsichten, die zu sozialen Verhaltensänderungen führen können und dadurch konkret die Welt zu ändern beginnen, wenn sie willentlich ergriffen werden.
4. Arbeitslosigkeit als gesellschaftlicher Widersinn
Während uns einerseits in der Gegenwart der ungeheure Fortschritt der Menschheit in den letzten Jahrzehnten undJahrhunderten auf allen Lebensgebieten oft erstaunen macht und unsere Bewunderung fordert, so werden dem kritischen Blick auf der anderen Seite doch zunehmend auch Erbschaften und soziale Versäumnisse bewußt, die sich diesem Fortschritt gegenüber als unverständlich erscheinende Paradoxien erweisen und uns das Fürchten lehren können. In einer Zeit ungeheuren Produktivitätszuwachses leiten wir einen Großteil dieses Potentials, dessen anderweitige gerechte Verteilung uns schwer fallt, in das gegenseitige Wettrüsten der Weltmachtblöcke, um den (deren?) «Frieden zu sichern». Gleichzeitig verfügen wir nicht über die sozialen Mittel, die wachsenden Menschheitsspannungen zwischen arm und reich, zwischen Nord und Süd wenigstens in dem Ausmaß zu mildern, welches zumindest Hungersnöte und ökologische Katastrophen in vielen Weltteilen verhindert. Andererseits haben wir es in der Raumfahrt z. B. «bis an die Sterne weit» gebracht. Das Tempo des technischen Fortschrittes macht zunehmend Menschen überflüssig, weil sich ihr Einsatz wirtschaftlich nicht mehr lohnt. Vor den zu engen Kriterien wirtschaftlicher Erfolgsmaximierung versagt der Mensch selbst angesichts der «Fähigkeiten» der von ihm erbauten Maschinen und technischen Einrichtungen. Menschen, die bis gestern noch glaubten, in wirtschaftlich unverletzlichen Großunternehmen einen festen Arbeitsplatz zu haben, stehen im reiferen Lebensalter oder in der Blüte ihrer Jahre plötzlich auf der Straße und sehen und fühlen sich aus den sozialen Zusammenhängen ausgeschlossen. Sie verstehen die Welt nicht mehr und wissen ihr Schicksal weder zu deuten noch zu wenden [17]. Sie gehören zum «alten Eisen», für das ein «Recycling» nicht vorgesehen scheint. Junge Menschen fragen sich: «Sind wir nutzlos?»" Auf den Universitäten bereiten sich Zehntausende dieser jungen Menschen, deren persönliches Studium aus öffentlichen Mitteln mit Jahresbeträgen zwischen 12 000,- und 70 000,- DM mitfinanziert wird, auf die Arbeitslosigkeit als Berufsanfang vor. Schulabgänger finden einen Ausbildungsplatz nur schwer oder gar nicht. Trotzdem fehlen in den Schulen Lehrer und an den Hochschulen Professoren.
Man kann sie nicht einstellen, weil die üblich gewordenen Regeln ihrer Beschäftigung sie bei beamtenmäßiger Sicherung auf die Dauer unbezahlbar macht und weil man damit rechnen muß, daß sie ihre erworbenen Rechte zu einer Zeit geltend machen werden, in der sie sich wegen des erkennbaren Rückganges der Schüler- und Studentenzahlen in Schule und Hochschule zum Jahrhundertende anderen Aufgaben zuwenden müßten. Weil unter diesem Gesichtspunkt die Lehrkräfte unbezahlbar sind, erhält die junge Generation nicht die Ausbildung, die ihren Fähigkeiten angemessen erscheint. Wozu auch? Sie werden eines Tages ja doch den Maschinen unterlegen sein! Und die Investitionsentscheidungen für letztere sind längst gefallen. - Ähnliches, wie für das Bildungswesen, ist für das mit diesem zusammenhängende Aufgabengebiet der sozialen Integration von Randgruppen und von Ausländerkindern festzustellen.
Zur gleichen Zeit, in der wir dies alles handhaben und seinen fehlenden Sinn erkennen müssen, finanzieren wir mit Milliardenbeträgen, die mehrfach reichen würden, die zuvor dargestellten Mängel weitgehend zu beheben, ein Heer von Arbeitslosen, das ständig anzuwachsen droht. Diese Menschen erhalten eine versicherungsartige Vergütung dafür, daß sie nachweislich keine Arbeit gefunden haben und nichts ökonomisch Relevantes leisten. Welche Kräfte bleiben da ungenutzt, obwohl auf anderen Gebieten vieles an ökologischen und sozialen Aufgaben ungelöst bleibt, obwohl unsere Gesellschaft hier dringend Initiativen ergreifen müßte! Aber eine Arbeitslosenvergütung kann man eben nur erhalten, wenn man tatsächlich nichts «Normales», «Ordentliches» tut, wenn man keiner «geregelten Arbeit» nachgeht. Wie sollten die Menschen anders lernen, sich wieder eine «normale Arbeit» zu suchen, wie sollten sie lernen, auch primitivere Dinge zu tun als die, für die sie ausgebildet sind? Unser «Ordnungssystem» muß schon erhalten bleiben - und wenn es viel Geld kostet. Die Verteidigung unserer Grundsätze ist eben weltanschaulicher Natur, und Weltanschauung hat immer (viel) Geld gekostet.
Wie lange aber können wir auf diesen Altären opfern? Führen die ungenutzten, sozial zurückgestauten Kräfte der Arbeits- und Aussichtslosen nicht zu sozialen Krebsgeschwüren, die über Wucherungen und Metastasen zum Tod dieses sozialen Systems führen müssen [19]? Wie lange werden wir uns diese systematische Entmutigung vor allem unserer Jugend noch leisten können? Die Nutzung der vom «ordentlichen System» nicht mehr beanspruchten Kräfte in den Bereichen der Schattenwirtschaft scheint sozial noch die günstigere Lösung zu sein. Aber auch diese soll jetzt «sozial geächtet» werden, weil sie dem alten System widerspricht.
Demgegenüber fordert die oben zitierte Studentin ein grundsätzliches Umdenken: «Wir befinden uns in einem Stadium, in dem sich die Auffassungen über Arbeitszeit und -weise ändern müssen. Es ist erforderlich geworden, dem Menschen neue Tätigkeitsgebiete zu verschaffen, damit er seine Tage sinnvoll gestalten kann.» [20] Es wäre unbillig von uns, von einem jungen Menschen auch die Lösung des Problems zu erwarten, welches er als eine paradoxe Lebenssituation ohne Ziel und Ausweg vorfindet. Wir müssen zunächst feststellen, daß unser soziales System in einer Lage, in der viele wesentliche Menschheitsaufgaben ungetan bleiben, um der Aufrechterhaltung der bestehenden sozialen Ordnung willen auf ein Heer vorhandener, arbeitswilliger Kräfte - insbesondere unserer Arbeitslosen und der arbeitslos werdenden Jugendlichen - verzichtet und ihnen damitjede wesentliche Ermutigung für die Zukunft versagt. Dieser Widersinn ergibt sich, weil diese Menschen dem Wettlauf mit den von uns selbst geschaffenen Maschinen und technischen Systemen nicht gewachsen sind und daher um der Wirtschaftlichkeit des alten Systems willen - in seinen zu klein gedachten wirtschaftlichen Einheiten und Maßstäben - geopfert werden. Um der erwarteten Ertragssteigerung in bestimmten Bereichen willen wird Armut und Not in anderen Bereichen in Kauf genommen und erzeugt; die Folge ist: die sozialen Spannungen verschärfen sich. Mit anderen Worten: die Menschheit weiß mit der von ihr selbst bewirkten Ertragssteigerung nichts anzufangen; sie hat kein Ziel, das sich menschheitlich rechtfertigen ließe; ihre technische Produktivität wirkt selbstzerstörend. Muß sie dies tun?
Wozu bringen wir diese Opfer und warum? Kann die militärische und soziale Selbstzerstörung ein Ziel sein? Kann Ansammlung und Maximierung des Erfolges bei wenigen auf Kosten anderer zu einem Fortschritt führen? Tanzen wir um ein goldenes Kalb, das sich unversehens in einen Wolf - und keinen goldenen! - zu wandeln beginnt? Verstehen wir die menschliche Ich-Entwicklung immer noch so, daß «groß» ist, wer viele andere beherrscht? Haben wir den Sinn der menschlichen Ich-Entwicklung vielleicht mißverstanden? Kann das alte Phänomen des Herrschers heute nicht in ein «helfendes» Führen übergehen unter Anerkennung der IchEntwicklung aller? Ist nicht der wahre Herrscher vergangener Zeiten nur ein eingeweihter, weiser Mensch gewesen, der auf dem Wege zur Ich-Entwicklung hin seinen Volksangehörigen nur Schritte voraus war und damit die Richtung angab? Sind wir nicht heute alle, wie Goethe formuliert hat, «pilgernd Könige zum Ziele»? Was heißt es heute, auf diesem Wege «voraus» zu sein ? [21]
Wir sind heute in der Menschheitsgeschichte an dem Punkte angelangt, wo der Ich-Entwicklung neue Ziele gezeigt werden müssen und gezeigt werden können. Denn sobald wir den Blick von der äußeren auf die innere Entwicklung des Ich lenken, sehen wir, daß reich nicht der ist, der vieles von anderen erhält, sondern der, der seine eigenen Fähigkeiten soweit entwickeln konnte, daß er anderen vieles zu geben vermag. Für die künftige Etappe der Ich-Entwicklung, zur selbstlosen Selbstverwirklichung, zum höheren Selbst, hin gilt: wer gibt, wird reicher. Aus dieser neubegründbaren Sicht der Ich-Entwicklung muß es eine Möglichkeit geben, alle vorhandenen Kräfte der Menschheit für deren weiteren Entwicklungsgang einzusetzen. Wird unser Erfindungsreichtum und unser technischer Fortschritt eingesetzt, um den tatsächlichen Bedürfnissen anderer Menschen zu dienen - nicht dem eogistischen Selbstinteresse -, so braucht er nicht selbstzerstörerisch in die sozialen Verhältnisse einzugreifen.
Heute muß sich noch, wer auf diesen neuen Ansatz baut, als Außenseiter behandeln lassen, der sein Handeln rechtfertigen muß, weil sich dessen soziales Erscheinungsbild in der Gesellschaft (bei der Sozialversicherung, beim Finanzamt und vielen anderen Einrichtungen) bei der Frage nach dem Arbeitsverdienst nicht recht einordnen läßt. Diese Einrichtungen stützen daher das alte, noch nicht ein neues Handelnsverständnis. Ist nicht auch eine Zeit denkbar, in der dieses Handeln als normal und das andere als «außergewöhnlich» gilt? Und: haben sich nicht schon viele auf diesen Weg gemacht? Ist es nicht an der Zeit und möglich, daß wir mit ihnen gemeinsame Sache machen?
5. Arbeitslosigkeit: im Kern eine Verteilungsfrage
Unser bisheriger Gedankengang hat uns dazu geführt zu erkennen, daß sich die Menschheit durch ihre in den technischen Fortschritt hinein sich niederschlagende geistige Entwicklung in eine widersinnige soziale Lage gebracht hat, die uns daran hindert, diesen Fortschritt im möglichen Ausmaß fruchtbar zu machen. Wir sind echte Zauberlehrlinge: die von uns geschaffenen Produktionsmittel sind leistungsfähiger als wir selbst geworden, überflügeln und überfluten uns mit ihren Arbeitsergebnissen und drängen die Menschen aus ihren gewachsenen sozialökonomischen Zusammenhängen heraus. Der Meister, der das «Seids gewesen» wirksam rufen könnte, fehlt. Die geschilderte Entwicklung droht vielmehr in unserem Volke und über die Welt hin die sozialen Gegensätze zu verschärfen, wenn es nicht gelingt, diese erhöhte Fähigkeit zur Produktion von Gütern und Diensten auch tatsächlich in den Dienst der Menschen zu stellen. Die derzeitige Lage ergibt das Bild einer Menschheit, die nicht weiß, wozu sie ihre eigenen Produktionsmöglichkeiten geschaffen hat, und die nicht sinnvoll darüber zu entscheiden vermag, was sie letztlich mit ihnen anfangen will. Sie hat - bewußt - keine wirklichen Ziele, auf die sie sich hinentwikkelt; sie begnügt sich mit dem «Zwischenziel» einer Ertragssteigerung um der Ertragssteigerung willen, letztlich menschheitlich mit einer «Ertragssteigerung ohne Gebrauch» - «von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt und rings umher liegt schöne grüne Weide»". Unser bisheriges Verteilungssystem, das Güter und Dienste im wesentlichen nach Maßgabe der Mitwirkung am Produktionsprozeß verteilte, hat sich als nicht zureichend erwiesen, um mit den sozialen Folgen des selbstgeschaffenen technischen Fortschrittes fertigzuwerden. Sind wir am Ende? - oder wo geht der Weg weiter?
Ein bedeutendes, in Europa kaum zur Kenntnis genommenes Dokument für Kenntnis und Erkenntnis dieser Zusammenhänge ist im Jahre 1964 in den USA erschienen und als Manifest Präsident Johnson und den Parteien des amerikanischen Kongresses überreicht worden. Verfasser dieses Manifestes war ein «Ad Hoc Commitee on the Triple Revolution», in dem sich angesehene Wissenschaftler (darunter G. Myrdal, B. Seligman, Erich Fromm, Linus Pauling) mit Gewerkschaftlern, Publizisten und Vertretern von Studentenorganisationen zusammengetan hatten. Es ist in deutscher Übersetzung im Herbst 1966 in der Zeitschrift «Atomzeitalter» erschienen`. Das Manifest geht «von der Voraussetzung aus, daß die Menschheit an einem historischen Wendepunkt steht, der eine grundsätzliche Überprüfung der bestehenden Wertungssysteme und Institutionen erforderlich macht». Es sieht das Problem in der bestehenden «sozialen Ordnung mit ihrer traditionellen Verknüpfung von Berufsarbeit und Arbeitseinkommen»; und sagt weiter: «Das Arbeitsverhältnis ist also der allgemeine Mechanismus, durch den die ökonomischen Mittel verteilt werden. Denjenigen, die keine Arbeit haben, steht nur ein Minimaleinkommen zur Verfügung, das für das Lebensnotwendige kaum ausreicht und seine Empfänger zu Minimalkonsumenten macht. Das hat zum Ergebnis, daß die Güter und Dienstleistungen, nach denen ein Bedarf bei diesem konsumbehinderten Bevölkerungsteil besteht und die bei entsprechenden Einkommen auch gekauft würden, gar nicht erst produziert werden. Dies wiederum kostet andere Arbeiter ihren Arbeitsplatz und vermindert deren Einkommen und Verbrauch... Das gegenwärtige Wirtschaftssystem ermutigt nur dort zu wirtschaftlicher Tätigkeit, wo private Gewinne zu erwarten sind und vernachlässigt diejenigen Vorkehrungen, die den Charakter und den materiellen Wohlstand unserer Lebensumstände steigern könnten. Entsprechend war bisher das staatliche Handeln mehr auf das Funktionieren des Produktionsprozesses als auf die Wohlfahrt der Bevölkerung ausgerichtet... Wir brauchen ein neues Selbstverständnis... Wir sind.. . der Überzeugung, daß dieses industrielle Produktionssystem überhaupt nicht mehr lebensfähig ist.»
Die Verfasser des Manifestes erwarten demgegenüber, daß man für die Zukunftsgestaltung von der Einsicht ausgeht, «daß unsere Nation sich auf dem Wege in eine Gesellschaftsordnung befindet, in der die Produktion von Gütern und Leistungen nicht der einzige und vielleicht nicht einmal der wichtigste Mechanismus der Einkommensverteilung ist... Die Uberflußwirtschaft kann allen Bürgern Wohlstand und wirtschaftliche Sicherheit gewähren - unabhängig davon, ob sie einer Arbeit im üblichen Sinne nachgehen. Gesellschaftlicher Reichtum, der von Automaten statt von Menschen produziert wird, bleibt dennoch Reichtum. Wir bestehen daher auf der Forderung, daß die Gesellschaft durch geeignete Institutionen in Recht und Verwaltung sich ohne Einschränkung dem Ziel widmet, jedem Individuum und jeder Familie ein angemessenes Einkommen als einen Rechtsanspruch zu gewähren. Wir glauben, daß ein solcher Verteilungsmechanismus für die neue ökonomische, soziale und politische Ordnung, die sich in diesem Lande herausbildet, entscheidend ist. Wir betrachten dies als die einzige Politik, mit deren Hilfe «jener Teil» der Bevölkerung, der schon jetzt oder in naher Zukunft arbeitslos und deshalb verarmt ist, in die Uberflußgesellschaft einbezogen werden kann. Das uneingeschränkte Recht auf Einkommen würde dabei den Platz jenes Flickwerkes von Wohlfahrtsmaßnahmen einnehmen, das von der Arbeitslosenversicherung bis zur Armenunterstützung reicht und bloß sicherstellen will, daß kein Bürger oder Bewohner der USA tatsächlich wegen Hungers zugrunde geht.» Form und Inhalt des Dokumentes lassen an Deutlichkeit für unseren Zusammenhang nichts zu wünschen übrig, es ist leider nur in Europa als ein wichtiger Erkenntnisschritt für die soziale Entwicklung zu wenig bekannt geworden [24]. Es bestätigt auf seine Weise den geisteswissenschaftlichen Ansatz Rudolf Steiners durch die Beobachtung der sozialen und ökonomischen Phänomene in den USA zu Beginn der 60er Jahre dieses Jahrhunderts. Es enthebt uns aber nicht von der Aufgabe, neue Maßstäbe der Einkommensbildung selbst zu entwickeln und auszugestalten.
Welche anderen Maßstäbe für die Verteilung des Sozialproduktes kommen aber in Betracht, wenn der bisher gültige Maßstab der Leistung oder dessen, was man dafür ausgegeben hat, aufgegeben wird ? [25] Es liegt nahe, dabei zunächst statt von der Arbeitsleitung vom Bedarf auszugehen. Man kann dies in zwei grundsätzlich verschiedenen Weisen tun.
Eine oft erörterte und wohl auch teilweise praktizierte Form wäre, daß in Unternehmen oder anderen Menschengruppen jedes Mitglied der Gruppe seinen Bedarf bei dieser Gemeinschaft geltend macht und entsprechende Einkommensmittel aus einem gemeinsam verfügbaren «Einkommenstopf» entnimmt. Derartige Handhabungen werden immer wieder geschildert26. Es kann aber zweifelhaft sein, ob in dieser Vorstellung die geforderte soziale Wende gegenüber dem überkommenen Arbeitsentgelt nach dem Maßstab der Leistung liegt, weil beide Weisen der Einkommensbildung darauf beruhen, daß der einzelne selbst für sich etwas fordert. In der Geltendmachung des Eigenbedarfs liegt daher noch kein wesentlicher Schritt gegenüber der Stufe der Arbeit auf Erwerb: beides hat Selbstversorgungscharakter. Dieser Weg soll daher nicht weiter erörtert werden.
Schließlich ist es aber auch noch möglich, daß in entsprechenden Unternehmen oder anderen Gruppen zusammengeschlossene, zusammenarbeitende Menschen den Bedarf der jeweils anderen sehen und in der Gemeinschaft geltend machen. Sie tun dies dann einmal in Ansehung der verfügbaren Mittel («Einkommenstopf») und zum andern in Ansehung der eingesetzten Fähigkeiten und (relativen) Bedürfnisse des einzelnen, einschließlich seiner Angehörigen im Verhältnis zu Fähigkeiten und Bedürfnissen der anderen Mitglieder der Gemeinschaft und ihrer mitzuversorgenden Angehörigen. Sie haben dabei die Fortsetzung der Sozialgemeinschaft für die nächste Zukunftsperiode im Auge; sie verteilen das Verfügbare nur nicht mehr nach den Maßstäben der abgelaufenen Periode (mit ihrem angeblich «gerechten» Leistungsmaßstab). So erhält die Einkommensumessung in Unternehmen oder in Teilgruppen solcher einen zukunftsbezogenen Charakter.
Auf dieses grundsätzlich neue Element hatte schon Rudolf Steiner hingewiesen, wenn er 1919 oder im Nationalökonomischen Kurs 1922 im Zusammenhang mit der Frage der richtigen Preisbildung in der Wirtschaft ausspricht, daß auch die Preisbildung letztlich ein Element der Einkommensbildung ist und daß dem einzelnen immer das als Einkommen (oder Gegenwert) zukommen muß, was ihn instand setzt, sich in der nächsten Zukunftsperiode wieder sinnvoll und produktiv in die menschliche Gemeinschaft und Gesellschaft einzufügen. Es kommt mit diesem neuen Element aber eigentlich nichts anderes als die einfache Grundtatsache zum Ausdruck, daß die Menschheit immer aufgrund der aus der Vergangenheit verfügbaren Mittel und Leistungen ihr Leben in die Zukunft hinein gestalten und regeln muß. Dies geschieht rational, wenn die nächste Zukunft und das, was in ihr geschehen soll, zum Maßstab der Verteilung oder Handlung wird (wie bei der unternehmerischen Investitionsentscheidung) und nicht das, was in der vorausgegangenen Epoche geschah (wie bei der «Entlohnung für geleistete Dienste»). Eine humane und rationale Wirtschaftsform muß darauf abheben, daß die Kräfte und Möglichkeiten aller Menschen für das soziale Leben voll eingesetzt werden und daß sie alle anteilig für die nächste Zukunftsperiode das erhalten, was sie zur bestmöglichen Mitwirkung an dieser zukünftigen Arbeits- und Lebensperiode instand setzt [27].
Für die nächste Zukunftsperiode - das ist allen Unternehmern bekannt - ist immer vom Ertrag der vorangegangenen Epoche auszugehen. Dieser jeweils gegebene Gesamtertrag aus der Vergangenheit muß im Unternehmen zukunftsorientiert in die Investitions- und Verbrauchsquote geteilt werden. Mit dieser Aufteilung wird zugleich über den Zukunftsbezug des Unternehmens oder der Menschengruppe entschieden, der vor allem in den Investitionsmaßnahmen erkennbar wird. Immer steht aber für die Einkommensbildung nur der angefallene Ertrag der Vergangenheit abzüglich der Investitionsquote zur Verfügung, so daß sich der von Rudolf Steiner im sozialen Hauptgesetz angesprochene Maßstab der Ertragsteilung bei genauerer Betrachtung der Tatsachen von selbst ergibt. Ertragsteilung in der Form der Zumessung des Möglichen zum Bedarf der anderen: das ist schließlich die rationellste Art der Einkommensverteilung, die die volle Entfaltung der menschlichen Wirkenskräfte für die Gemeinschaft erlaubt und die Kräfte aller Beteiligten zum Einsatz zu bringen vermag, ohne Restgruppen minderen Ranges und minderen Rechtes zu schaffen.
Über das einzelne Unternehmen oder die einzelne Menschengruppe hinaus muß dieser Grundsatz auch seine gesamtwirtschaftliche Beachtung und Form finden. Die unternehmensübergreifenden sozialen Organe, die diese Aufgabe zu leisten haben, hat Rudolf Steiner Assoziationen genannt [28]. Sie haben die Aufgabe, die gesamtwirtschaftliche Preisgestaltung in dem Sinne zu beeinflussen, daß den einzelnen durch sie verbundenen Unternehmen solange auskömmliche Preise für ihre Produkte gewährt werden, wie diese Produkte bedarfsgerecht sind, d. h. entsprechende Abnehmer finden. Finden sie diese nicht mehr, d. h. produziert ein Unternehmen am Bedarf vorbei, so muß es entweder eine neue Aufgabe finden oder liquidiert werden. Dies darf gesamtwirtschaftlich aber nur so geschehen, daß den davon betroffenen Menschen neue Aufgaben zugewiesen und ihre Einkommenszumessung in anderer Weise gesichert wird. Mit anderen Worten: die Assoziationen übernehmen die Aufgabe mit, die heute von der Arbeitslosenversicherung (mit gesamtwirtschaftlich unproduktivem Effekt) geleistet wird. Sie sorgen für Arbeit und Einkommen. (Man kann auch sagen, daß die Arbeitslosenversicherung heute bereits eine Teilaufgabe der erforderlichen Assoziationen auf unglückliche und unvollkommene Art wahrnimmt.)
Unseres Ermessens wäre auch in einer solchen Ordnung jeder Mensch gehalten im Rahmen altersmäßiger und anderer gesetzlicher Grenzen eine von der Sozialität anerkannte Tätigkeit auszuüben, in der er sich für die Gesellschaft nützlich macht. Zu diesen nützlichen Aufgaben gehören dann selbstverständlich auch die Aufgaben des Bildungs- und Kulturwesens, die auf assoziativer Basis unter Entlastung des derzeitigen Finanzierungsweges über die Steuer ebenfalls von der Sozialität mitgetragen werden müssen. Das assoziativ entwickelte soziale Urteil wird sie nicht als unproduktiv im gesellschaftlichen Zusammenhang erleben, weil durch sie jeweils die neuen, belebenden produktiven Kräfte in Gesellschaft und Wirtschaft hereinkommen, die ein zukunftsbezogenes gesellschaftliches Leben nicht entbehren kann [29].
Wichtig für den hier angesprochenen Zusammenhang ist, daß sich mit der erforderlichen Änderung der Verteilungsregeln einer Gesellschaft das Problem der Arbeitslosigkeit auflöst, das ja in Wirklichkeit ein Problem unzweckmäßiger Einkommensbildung war. Menschheit und Erde haben genügend Aufgaben für alle Menschen zu vergeben; wir können und dürfen dabei auf niemanden verzichten.
6. Arbeit, Einkommen und menschliche Entwicklung
Der bisherige Gedankengang hat uns gezeigt, daß das Thema «Arbeitslosigkeit» als ein Anstoß zu gesellschaftlicher Selbsterkenntnis gesehen und genommen werden kann und daß die genaue Analyse der tatsächlichen Verhältnisse zeigt, daß es sich nicht um ein Problem der knapp gewordenen Arbeit, sondern um ein Problem der Verteilung des Arbeitsertrages unter neuen Maßstäben wirklicher Solidarität, die keinen Menschen aus der Mitwirkung an menschheitlichen Aufgaben auslassen will, handelt. Diese Sicht ergibt sich allein aus der genauen Analyse der gegenwärtig vorliegenden Tatsachen, die das Dogma der Arbeitsvergütung als unbrauchbar aufzeigen. Es hat aber noch wesentlich grundsätzlichere Seiten für das kulturelle soziale Leben als Entwicklungsklima für das menschliche Ich und für dessen Wesensverständnis selbst. Wir können unser Thema daher noch in folgende Richtungen vertiefend verfolgen.
Nachdem Rudolf Steiner im Jahre 1905 die Aufsatzreihe «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» abgeschlossen hatte, wendet er sich in der folgenden Aufsatzreihe dem Thema «Geisteswissenschaft und soziale Frage» zu. Dieses Thema scheint ihm offensichtlich der notwendige Pendelschlag zum Thema des Schulungsweges gewesen zu sein. Geistige Schulung muß zu sozialer Fruchtbarkeit gedeihen. Die Erlangung von Erkenntnissen der höheren Welten soll nicht einer höheren Selbstbefriedigung dienen; sie hat vielmehr die Entwicklung von Fähigkeiten zum Ziel, die im menschlichen Zusammenhang für andere einsetzbar werden. Die gegebene soziale Welt ist unzulänglich und voller Nöte; sie ist aber ausschließlich von Menschen geschaffen worden, von ihnen zu verantworten und zu verändern. Wer die soziale Welt zielvoll verändern will, muß ihre Gesetzmäßigkeit, muß die Geheimnisse der Menschenwesenheit kennen, die sich nur durch Studium und Schulung erschließen. Nicht der drauflos-urteilende und draufloshandelnde Mensch leistet Sinnvolles im sozialen Zusammenhang und verändert die soziale Welt in positivem Sinne, sondern der, der sich zuerst für solches Wirken fähig gemacht hat. Er kann seine selbsterworbenen Fähigkeiten nun für andere einsetzen und sie dabei, durch Erfahrungen bereichert, aufs neue entwickeln.
Aus geisteswissenschaftlicher Sicht auf die Anforderungen des sozialen Lebens hinblickend, hatte Rudolf Steiner daher auf die beiden ersten sozialen Entwicklungsschritte in diesem Sinne hingewiesen: Entwickle dich selbst zu wahrhaftigem Verständnis der sozialen Welt durch geistige Schulung - ist der erste geforderte Schritt. Setze dich anschließend selbstlos für andere ein, so veränderst du die soziale Welt zum Guten und entwickelst deine eigene Wesenheit und die der anderen - so lautet sein Rat für den zweiten Schritt. «Ora et labora», hatte es im Anfang der christlichen Entwicklung in der benediktinischen Regel in diesem Sinne geheißen. Bete, entwickle dein Wesen zum geistigen Erfassen der Welt; arbeite, setze deine Kräfte im Dienste der anderen ein. Das gilt in entsprechender Form auch für uns. Unsere Zeit bedarf aber nicht mehr des Gebotes für das soziale Verhalten (etwa des Armutsgebotes); sie kann - und soll daher - das eigene Verhalten aufgrund der Einsicht in die Gesetzmäßigkeit sozialer Zusammenhänge (Soziales Hauptgesetz) selbst bestimmen.
Für die Verhältnisse von Arbeit und Einkommen bedeutet die höhere Effektivität des von uns selbst bewirkten technischen Fortschrittes, daß sich einerseits die Wohlfahrt der Gesellschaft durch die zunehmende Versorgung mit Gütern und Diensten erhöht und sich andererseits in der abnehmenden Notwendigkeit zu äußerer Arbeitsverrichtung niederschlägt. Hier liegt die Berechtigung für Arbeitszeitverkürzungen im Sinne einer abnehmenden rechtlichen Verpflichtung zur Arbeit für andere. Die Abnahme der zeitlichäußeren Arbeitsverpflichtung zur Arbeit für andere kann aber auch so verstanden werden, daß die verfügbar werdende Zeit in selbstbestimmter Weise für die angesprochene geistige Schulung und - als sinnvolle Folge daraus - für zusätzliche, aus freien Stücken geleistete «unbezahlte» Arbeit an der Sozialität dienen kann. Der gegenwärtige Zustand von Menschheit und Erde fordert immer neue, zusätzliche, frei gewollte Aktivitäten für Frieden, Ökologie und kulturelle Entwicklung zum Beispiel. Wenn immer mehr Arbeit heute von Maschinen und technischen Einrichtungen übernommen werden kann, so hat dies menschheitsgeschichtlich nur einen Sinn, wenn es nicht immer mehr zu einem sinnlosen -individualitätsvernichtenden - Freizeitbetrieb führt, sondern wenn diese Möglichkeit auch zu der entsprechenden Entwicklung der von Menschheit und Erde geforderten Fähigkeiten genutzt wird. Denn wir bedürfen ihrer dringend.
Darüber hinaus kann folgender Gedanke ins Auge gefaßt werden: die Perspektive der so angesprochenen menschlichen Entwicklung kann seit Lessings Vorbereitung [30] und seit dem Auftreten der Anthroposophie um die Idee der Reinkarnation erweitert werden. Menschliche Entwicklung findet nicht nur in einem Erdenleben statt; der Mensch begleitet vielmehr auch individuell den Gang der Menschheitsgeschichte in wiederholten Erdenleben durch die menschheitlichen Kulturstufen, den jeweiligen Lebensextrakt eines Erdenlebens als Fähigkeit und Schicksalsformung in die späteren Existenzformen mitnehmend. - Ist dies aber nicht nur ein Glaubenssatz, bestenfalls eine Hypothese? So mag es zunächst sein. Aber sind Hypothesen denn unzulässig? Wir leben notwendig für alle Lebensfragen, für die uns die eigene Erfahrung noch fehlt, mit Hypothesen. Der Glaube, daß es ein Fortleben nach dem Tode in dieser oder jener Form geben wird, daß es vielleicht eine Präexistenz gegeben hat, wie auch, daß es dies alles nicht gibt, sind Hypothesen. Dabei ist die Hypothese des menschlichen ExistenzEndes mit dem Tode noch die schlechteste, weil sie sich verständlicherweise auf keinerlei Erfahrungen über das gründen kann, was es ihrer Meinung nach eben nicht geben soll. Den Vertretern dieser Ansicht kommt es auf Erfahrung an: gut. Ist die noch fehlende Erfahrung aber ein Grund, nicht weiterzudenken? Das - hypothetische - Weiterdenken könnte doch eines Tages zu Erfahrungen führen. Denn dies ist gerade der Sinn jedes Hypothesen-Bildens als einer Methode des Erfahrung-Suchens, des Augen-Offenhaltens für neue Erfahrungen. Eine Hypothese des Augenverschließens, des Gar-nicht-erst-sehen-Wollens ist ein Widerspruch in sich und geistig nutzlos, da sie keine Erfahrung zur Sache kennt und auch keine erwartet.
Wer sich dagegen eingesteht, daß er über eigene Erfahrungen über des Menschen Existenz vor der Geburt oder nach dem Tode oder über vergangene Erdenleben nicht verfügt, der muß sich als geistig aktiver Mensch Hypothesen machen dürfen, die möglichen Hypothesen miteinander vergleichen und sie daraufhin befragen, welche Erfahrungen sie ihm vielleicht in der Zukunft zu vermitteln in der Lage sind. Denn ohne gedankliche Vorbereitung macht niemand konkrete Erfahrungen. Er vermag sich aber sehr wohl und begründeter Weise vor eigenen Erfahrungen zu fragen, welche der verschiedenen möglichen Hypothesen zu welchen unterschiedlichen sozialen Verhaltensweisen Anlaß geben (können) und welche sozialen Verhaltensweisen sie bei ihm oder anderen veranlagen.
Denkt man die menschliche Existenz als mit dem Tode beendet, so ist es z. B. konsequent, die Zeit bis dahin mit äußeren Erfolgen und mit entsprechenden Genüssen auszuschöpfen. Denkt man sich das Leben nach dem Tode als in einer jenseitigen Welt fortgesetzt, so kann es sinnvoll erscheinen, auch für diese Zeit persönliche «Vorsorge» zu treffen. Manch selbstlos erscheinende Handlung mag unter diesem Gesichtspunkt noch recht selbstsüchtig erscheinen, wenn sie auf einen «höheren Lohn» in einer anderen Welt abzielt. Beim Gedanken der wiederholten Erdenleben allerdings ist man in der Lage, sich mehr vorzunehmen. Man akzeptiert dann, daß in einem Leben nicht alles zu erreichen ist, man sieht den eigentlichen Lebensertrag in der Entwicklung unverlierbarer Fähigkeiten und ist an äußeren Erfolgen womöglich nur bedingt interessiert, denn: das Totenhemd hat keine Taschen. Äußere Umstände sind nur als Plattform geistiger und sozialer Entwicklung in mir und in anderen Menschen von Bedeutung. Aber gerade weil dem so sein kann, ist unter diesem Gesichtspunkt auch Vorsorge für Umwelt und Erde als Stätte dieser menschlichen Entwicklung angebracht, sinnvoll und gefordert.
Sieht man insbesondere menschliche Begegnungen unter dem Gesichtspunkt der Reinkarnation als Schritte auf einem gemeinsamen Entwicklungswege miteinander verbundener Menschen, womöglich als vorgeburtlich geplante Schritte und Begegnungen, so bekommt der Gesichtspunkt der Bezahlung der Arbeit noch einen weiteren, eher negativen Sinn. Er erweckt bei den Beteiligten den womöglich illusorischen Eindruck, daß die menschliche Leistung des einen für den anderen durch Geld auszugleichen sei und daß man geistig und schicksalsmäßig miteinander «quitt» sei, wenn «alles bezahlt» ist. Unter diesem Gesichtspunkt verdeckt der Grundsatz der Bezahlung der Arbeit vielleicht wesentliche Perspektiven des menschlichen Lebens und lenkt uns von den Aufgaben ab, die wir uns für dieses Leben in der Begegnung mit bestimmten anderen Menschen gestellt haben.
Auf diesen Zusammenhang macht Rudolf Steiner in Berliner Vorträgen des Jahres 1912 aufmerksam [31]. Er sagt da: «Alles äußere Leben, so wie es sich uns heute darbietet, ist aber überall ein Bild eines solchen menschlichen Zusammenhanges, der geformt und gebildet worden ist mit Ausschluß, ja, mit Verleugnung der Idee von Reinkarnation und Karma. Und gleichsam als ob man verschütten wollte alle Möglichkeiten, daß die Menschen durch die eigene Seelenentwicklung darauf kommen könnten, daß es Reinkarnation und Karma gibt, so ist dieses äußere Leben heute eingerichtet. In der Tat, es gibt zum Beispiel nichts, was so sehr feindlich gesinnt ist einer wirklichen Überzeugung von Reinkarnation und Karma als der Grundsatz des Lebens, daß man für dasjenige, was man unmittelbar als Arbeit leistet, einen der Arbeit entsprechenden Lohn, der die Arbeit geradezu bezahlt, einheimsen müsse.. . Der Gedanke müßte den Menschen nahetreten, daß in der Tat in einer Weltordnung, in der man daran denkt, Lohn und Arbeit müßten sich unmittelbar entsprechen, in der man sozusagen durch seine Arbeit dasjenige verdienen muß, was zum Leben notwendig ist, niemals eine wirkliche Grundüberzeugung von Reinkarnation und Karma gedeihen kann.» Es müsse sich aber «wie ein neuer Keim» innerhalb «unserer Weltordnung dasjenige entwickeln, was aus der Anerkennung der Idee von Reinkarnation und Karma folgen kann und muß». Denn aus dieser Anerkennung folgt für unsere Empfindung, daß wir nicht durch Zufall uns in die Welt gestellt sehen, sondern daß wir «als Ergebnis unserer früheren Inkarnation in der geistigen Welt den Willensentschluß gefaßt haben, den wir nur wieder vergessen haben.. ., uns hinzustellen an den Platz, an dem wir stehen... Wenn der Mensch dann zu der Überzeugung kommt von der Wahrheit des Karmagesetzes, kann es nicht ausbleiben, daß er . . . beginnt, Neigung, ja vielleicht sogar Liebe zu haben für den Posten der Welt, auf den er sich gestellt hat, welcher Art dieser Posten auch sein mag.»
Wie konträr zu dem zuvor Gesagten erscheinen dagegen die Praktiken unserer Gesellschaften, die insbesondere unsere jungen Menschen verhaltensmäßig in die soziale Übung der Arbeitsvergütung einbeziehen, ehe sie zu eigenem sozialen Urteil und zu eigener sozialer Entscheidung fähig sind. Wer das Alte erhalten will, muß es vor solcher individueller Urteilsfähigkeit unreflektiert und scheinbar selbstverständlich einüben lassen.
Dies geschieht einmal, wenn unsere jungen Menschen - meist unter verfrühtem Abbruch ihrer Allgemeinbildung - «in die Lehre» kommen und in viel intensiverer Weise als ihre noch die Schule besuchenden oder studierenden Altersgenossen die Welt der vom Arbeitsentgelt geprägten betrieblichen Alltagspraxis erleben. Damit aber auch die studierenden jungen Menschen an dieser Lehre teilhaben können, entwickelt man derzeit für sie die Studienfinanzierung auf Darlehensbasis (vgl. Bafög etc.)". Diese Finanzierungsform der Ausbildung hat zur Folge, daß die jungen Akademiker am Ende ihres Studiums mit einer finanziellen Ausbildungsschuld erheblichen Umfanges den Eintritt in ihr Berufsleben suchen [33]. Sie müssen sich dann, wenn sie die Schuld fristgerecht tilgen wollen, für eine Tätigkeit entscheiden, die ihnen soviel «bringt», daß sie mehr haben, als sie für ihre Versorgung brauchen; denn sie müssen ja noch die Tilgungsmittel verdienen. Jede Generation finanzierte ihre Ausbildung selbst: die nachfolgende soll ebenfalls selber zusehen! Auf jeden Fall sind unsere akademischen Berufsanfänger - obwohl sie rein altersmäßig eher ein soziales Urteil haben könnten - aus den «Lebensrealitäten» heraus in die Übung des «höchstmöglichen Arbeitsentgeltes» hineingeleitet worden; auch für sie war vorgesorgt [34].
Fassen wir zusammen, was sich uns unter der in diesem Kapitel angesprochenen Thematik ergeben hat, so können wir sagen:
- Die Erkenntnis, daß es sich bei der Arbeitslosigkeit nicht um einen Mangel an Arbeit und Aufgaben, sondern um ein Verteilungsproblem der menschheitlichen Arbeitsergebnisse handelt, machte den Blick frei dafür, das Verhältnis der verfügbaren Lebenszeit jedes Menschen für sich schulende Eigenentwicklung auf der einen Seite und selbstbestimmtem Einsatz für andere auf der anderen Seite mit beweglichen Grenzen zueinander (äußerlich: Arbeitszeitverkürzung) zu sehen;
- der - zunächst hypothetische - Gedanke der wiederholten Erdenleben zeigte noch auf eine andere Weise, daß der falsch verstandene Zusammenhang von Arbeit und Arbeitsentgelt auch tiefere Lebens- und Schicksalsbeziehungen zwischen Menschen geistig (und damit erfahrungsmäßig) verdecken kann.
Insbesondere in letzterem Gedanken liegt - anthroposophisch gesehen - ein wichtiger Anlaß, den Fragen der Einkommensgestaltungen und ihrer sachgerechten Handhabung die höchste Aufmerksamkeit zu widmen und dabei nicht die sachlichen Kontraste in der frühzeitigen Einübung solcher Lebensverdeckungen in der Ausbildungs- und Studienfinanzierung zu übersehen. Sind letztere wohl bewußt angelegt?
7. Kann die Arbeitslosigkeit überwunden werden?
Die gesellschaftliche Neuorientierung in der Frage von Arbeit und Einkommen
Der bisherige Gedankengang hat dazu gedient, die aus anthroposophischer Sicht wesentlichen Ausgangserkenntnisse zur Frage der Arbeitslosigkeit, zum Gesamtthema von Arbeit und Einkommen so zu durchwandern, daß die Wurzeln dieser Frage in ihren menschlichen, wirtschaftlichen, geschichtlichen und entwicklungsbedingten Zusammenhängen deutlich werden. Wie selbstverständlich muß am Ende dieses Weges die Frage auftauchen: Wie kann die Arbeitslosigkeit nun konkret überwunden werden? Welche Maßnahmen dazu werden aus anthroposophischer Sicht vorgeschlagen? Erst wenn ein Beitrag von anthroposophischer Seite zur Verminderung der Zahl der Arbeitslosen geführt hat, wollen wir anerkennen, daß sie überhaupt einen Beitrag zu leisten in der Lage ist und sich nicht im entscheidenen Augenblick mit Achselzucken in ihre Studierstube zurückzieht, um sich wieder höheren Welten zuzuwenden.
Wer an dieser Stelle Antworten in solchem Sinne erwartet, hat den entscheidenden Punkt in sich noch nicht entdeckt. Von anthroposophischer Seite können niemals Programme mit diesen oder jenen Maßnahmen und womöglich mit einer Funktionsgarantie -wie unsere vom vergangenen Wohlstand teilweise verwöhnten Zeitgenossen dies gerne erwarten - ernstlich vorgeschlagen werden. Anthroposophie kann nur eine Hilfe sein, die in den von ihr sich angesprochen fühlenden Menschen veranlagten Entwicklungsmöglichkeiten zu entbinden. Sie rechnet damit, daß die zur Überwindung der gekennzeichneten Probleme erforderlichen Fähigkeiten und Initiativen in den Menschen unserer Tage dem Grunde nach vorhanden sind und nur der geistigen Geburt und ihrer Entwicklung harren. An solche latent vorhandene Bereitschaft, Fähigkeit und Initiative will sie anknüpfen. Der erste Schritt, der dabei zu leisten ist, ist der des eigenen Umdenkens. Dies ist sicher nicht während der Lektüre eines Aufsatzes zu leisten. Es muß zunächst die Uberlebtheit der überkommenen sozialen Denkgewohnheiten gesehen und deutlich werden, daß eine Änderung der sozialen Welt im Denken beginnen kann und beginnen muß. Mit diesem InBewegung-Bringen des eigenen Denkens kann ein Erkenntnisweg anthroposophischer Art beginnen wenn er zu wirklichen Einsichten gelangt, die Welt im Keim schon verändert hat. Denn die wirklichen Hindernisse in der sozialen Welt liegen in deren unreflektierten Traditionen, in unserem Falle an dem für viele als ganz sicher geltenden Grundsatz, daß eine Einkommenszumessung nur aus dem Arbeitsprozeß durch Bezahlung der geleisteten Arbeit heraus sinnvoll erfolgen könne. In der Kraft des Umdenkens in dieser Frage liegt zugleich der archimedische Punkt, an dem das überkommene Sozialgebäude aus den Angeln gehoben werden kann und muß - nur hier. Dieser ersten Selbstveränderung und Selbstentwicklung im Denken müssen weitere - und wohl für jeden schmerzhafte - Selbstveränderungen des Erlebens und Verhaltens folgen.
Wo aber soll man dann ansetzen? Die Antwort darauf ist leicht zu geben und schwer zu verstehen: dort, wo man im Leben steht. Jeder von uns hat seine persönliche, konkrete schicksalsmäßige Ausgangslage - und das Erlebnis der Arbeitslosigkeit kommt auf ganz verschiedene Weise auf uns zu: als Existenzangst im Hinblick auf die eigene berufliche Zukunft, als von Arbeitslosigkeit selbst unmittelbar Betroffener, als Mitbetroffener eines solchen Ereignisses in der eigenen Familie oder im persönlichen Freundeskreis, als Verantwortung für die Ausbildung junger Menschen Tragender, als um seelsorgerliche Beratung für solche Lebenslagen Gebetener, als Arbeitsplätze verantwortender Unternehmer, als solche Arbeitsplätze retten-sollender Politiker, als Verwalter dadurch ausgelöster Maßnahmen, als einfach fremde Schicksale Mitfühlender. Jeder konkrete Ausgangspunkt ist anders, gibt ein anderes Bild, gibt andere Möglichkeiten des Tätigwerdens und Helfens.
Jeder aber kann seine Erlebnissituation so verstehen lernen, daß sie nicht zufällig auf ihn zukommt, sondern daß er sie gesucht hat, weil sie eine Frage an ihn stellt, auf die er selber seine persönliche Antwort finden soll und finden will. Nur eines soll er ganz sicher nicht: die vorgefundene Situation beweinen und ihre Unveränderbarkeit betrauern - etwa mit der Geste jener scheinbaren Bescheidenheit dessen, der zu beklagen scheint, daß seine Kräfte eben für das Problem doch nicht zureichend sind. Letzteres kann uns nur solange richtig erscheinen, wie wir nicht mit der Entwicklungsfähigkeit unserer eigenen Kräfte rechnen. Aber gerade damit rechnet Anthroposophie. Mit ihr ist also eine Verständigung erst möglich, wenn man selber diese eigene Entwicklungsfähigkeit entdeckt und die daraus folgenden neuen, bisher womöglich übersehenen Wege beschreitet. Nur aus solchen Schritten ergibt sich in der Folge die Veränderung der sozialen Welt; alles andere läuft in der Regel auf ein Umschaufeln der ungelösten Probleme von dem links liegenden Haufen auf den rechten und vom rechts liegenden Haufen auf den linken hinaus. Es muß aber Wasser aus dem Felsen geschlagen werden!
Hat man so bei sich selbst die konkrete Fragestellung und den eigenen Aktivitätsquell gefunden, so öffnet einem dieser auch die Augen dafür, daß dies andere vor uns auf ihre und oftmals entschiedene Weise längst getan haben. Wenn wir uns so mit ihnen gemeinsam auf einem tätigen Wege sehen können, wird es uns erst möglich, auch von ihnen zu lernen. Unsere Gegenwartszivilisation ist so geartet, daß sie in vielem diesen Tätigkeitsquell im Menschen verschüttet. Falsche, d. h. zu frühe intellektuelle Erziehungsmethoden im Kindes- und Schulalter lassen den Menschen früh vergreisen, zum «einäugigen», unbeteiligten Zuschauer des Weltgeschehens werden, dem seine nicht geformte Aktivität in unkontrolliertem, sozial schädlichem Verhalten davonläuft. Wieviel wird nicht für die Lösung der hier angesprochenen Frage durch eine richtige Erziehung, die Lebenssicherheit und Kreativität im einzelnen Menschen veranlagt, getan? Liegt nicht in solchen Erziehungsansätzen, wie sie z. B. der Waldorfpädagogik zugrunde liegen, ein gutes und vielleicht sogar entscheidendes Stück der Vorbereitung, die Menschen später in gesellschaftlichen Situationen selbstbewußt und aus sich selbst schöpfend tätig werden läßt? Wird nicht hier die Motivation, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und ihnen gerne dienend entgegenzukommen, veranlagt? Oder kann man nicht bereits auf manche Erfahrung hinblicken, die in Freien Schulen dieser Art unter den dort Lehrenden und Mitarbeitenden bei der Verabredung ihnen angemessener Einkommensstrukturen gemacht wurden? Gibt es nicht manche Beispiele auch anderer Art in anderen Unternehmungen mit wieder ganz individuellen Ausgangspunkten für solche Maßnahmen?
Und weiter: gibt es nicht erste Anzeichen für Gruppen von Arbeitslosen-Initiativen, die sich - zunächst im Schutze der ihnen gewährten Arbeitslosenvergütung - gemeinsam von ihnen als sinnvoll angeschauter Aufgaben, z. B. gemeinnütziger Art, widmen, um etwas Sinnvolles gemeinsam zu leisten? Wäre es nicht denkbar, daß sich solche Initiativen gezielt «vergessener» gemeinnütziger Aufgaben annehmen und dabei so sinnvoll arbeiten, daß man sie nach einiger Zeit für unentbehrlich hält und in ihrem Umkreis darüber nachzudenken beginnt, wie man diese Initiativen auf Dauer am Leben halten kann - womit sie auch einkommensmäßig in die Gesellschaft eingeordnet werden müßten und würden. Eine bezahlte Arbeit wäre solchen Gruppen ja zunächst nicht möglich, weil sie dann ihre Arbeitslosenvergütung verlieren würden, - aber unentgeltliche Arbeiten wird ihnen niemand verwehren. Es könnten sich auf diese Weise in mancher aussichtslos erscheinenden Situation Möglichkeiten finden lassen, die zugleich unsere Gesellschaft auf eine Weise, die ihr Interesse in Bewegung bringt, an solchen Vorhaben teilnehmen läßt und sie so an den Wegen solcher Initiativen mitbeteiligt. Weil es solche Ansätze gibt, kann man auf sie hinweisen. Sie werden nur dort sinnvoll gelingen, wo sie aus wirklicher Anteilnahme an den Problemen anderer und nicht aus Selbstmitleid erfolgen.
Wer in der Frage der Neugestaltung von Einkommen und Arbeit aus anthroposophischer Sicht umwälzende Änderungen großen Stils mit programmartiger Ankündigung und Begleitung erwartet, wird enttäuscht werden müssen und vielleicht im nachhinein erfahren, daß er die für Handlungen nutzbare Zeit seines Lebens mit der Trauer über deren Fehlen zugebracht hat. Die Überwindung der Schatten der Vergangenheit auf diesem Felde geht nur langsam vor sich, und das Neugestaltungsfeld wird uns nur wie durch ein Nadelöhr zugänglich. Wird es aber so erstrebt und erreicht, so kann sich vielleicht eines Tages auch die Hoffnung erfüllen, die Rudolf Steiner zu Anfang dieses Jahrhunderts im Hinblick auf das Soziale Hauptgesetz mit den Worten aussprach:
«Wo immer dieses Gesetz in die Erscheinung tritt, wo immer jemand in seinem Sinne wirkt, soweit es ihm möglich ist auf dem Platze, auf den er in der Menschengemeinschaft gestellt ist: da wird Gutes erzielt, und wenn es im einzelnen Falle auch in einem noch so geringen Maße der Fall ist. Und nur aus Einzelwirkungen, welche auf solche Art zustande kommen, setzt sich ein heilsamer sozialer Gesamtfortschritt zusammen. - Allerdings kommt es auch vor, daß in einzelnen Fällen größere Menschengemeinschaften eine besondere Anlage dazu besitzen, mit ihrer Hilfe in der angedeuteten Richtung einen größeren Erfolg auf einmal zu erzielen. Es gibt auch jetzt schon bestimmte Menschengemeinschaften, in deren Anlagen sich dergleichen vorbereitet. Sie werden es möglich machen, daß mit ihrer Hilfe die Menschheit gleichsam einen Ruck, einen Sprung in sozialer Entwicklung vollbringt... Und es gibt ja auch Mittel, größere Menschenmassen zu einem solchen Sprung, der wohl gar in absehbarer Zeit gemacht werden kann, vorzubereiten. Was aber jeder tun kann, das ist, im Sinne des obigen Gesetzes in seinem Bereiche zu wirken. Es gibt keine Stellung eines Menschen in der Welt, innerhalb welcher man das nicht kann: sie möge anscheinend noch so unbedeutend oder noch so einflußreich sein. » [35]
Jeder einzelne von uns ist damit angesprochen und auf seine tatsächlichen Möglichkeiten gewiesen. Mit jedem von uns wird - in einer ihm angemessenen Weise - gerechnet und fürjeden gibt es zu, tun. Und wer wollte sich da zurückhalten?
Anmerkungen
1 Vgl. das «soziologische Grundgesetz» bei R. Steiner: Gesammelte Aufsätze (Gesamtausgabe: GA 31), S. 255 if., oder derselbe: Die Philosophie der Freiheit (GA 4), Kap. IX.
2 So schreibt Theo Sommer - auf das Jahr 1983 zurückblickend - am 30. 12. 1983 in «Die ZEIT»: «Dies aber ist die dritte Einsicht, die uns das Jahr 1983 vermittelt hat: Niemand scheint heutzutage noch so recht zu wissen, was wir eigentlich wollen sollen. Die Dinge sind so kompliziert geworden, daß einfache Antworten sich verbieten. Die neuen Probleme sind sichtbar: die dritte technische Revolution, die Herausforderung der konjunkturellen wie der strukturellen Arbeitslosigkeit; die europäische Ohnmacht, die unbegrenzte Fortdauer des Wettrüstens. Doch hat kein Staatsmann oder Philosoph die Lösungen parat; kein einzelner ist zu sehen, der die geistige Kraft und den Willen aufbrächte, sich der Lage zu bemächtigen; im Widerstreit der organisierten Interessen wird zerredet, was die Nation -und darüber hinaus die Weltfamilie der Nationen - heute wollen müßte. Keiner vermag, die Postulate des Künftigen zu formulieren. Die Ratlosigkeit der Regierenden entspricht der der Regierten.»
3 M. Jungbluth: Durch mehr Freizeit zu mehr Arbeit - Arbeitgeber und Gewerkschaften führen den falschen Streit, «Die ZEIT» Nr. 21 vom 20. 5. 1983; vgl. auch «Die ZEIT» Nr. 36 vom 2. 9. 1983: «Wenn wir das Beschäftigungsproblem nicht lösen... » - Gespräch mit Graf Lambsdorff.
4 R. Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (GA 10).
5 Mozart: Zauberflöte.
6 Im zweiten Abschnitt des Aufsatzes «Geisteswissenschaft und soziale Frage»; in: GA 34.
7 Vgl. R. Steiner: Nationalökonomischer Kurs (GA 340), 1. und 11. Vortrag.
8 Der Ausdruck «Null-Wachstum» für das Fehlen des Wachstums zeigt auf seine Weise das unbewußte Erschrecken davor; warum sprechen wir nicht von «Null-Schrumpfung»?
9 Auf die hier angesprochenen Probleme ist der Verfasser in anderem Sachzusammenhang als dem Problem der «gesellschaftlichen Konsolidierung eingeleiteter wirtschaftlicher Entwicklungsprozesse» eingegangen. Vgl. Hardorp: Elemente einer Neubestimmung des Geldes und ihre Bedeutung für die Finanzwirtschaft der Unternehmung, Heidelberg 21971, S. 143 und 223 if.
10 Vgl. R. Steiner: Nationalökonomischer Kurs, a.a.O., 3. Vortrag.
11 Nationalökonomischer Kurs, a.a.O., 3. Vortrag.
12 R. Steiner, a.a.O. Siehe auch: Hardorp: Die Problematik des Leistungsbegriffes im Hinblick auf den Lohn, Freiburg 1954.
13 R. Steiner: Geisteswissenschaft und soziale Frage, a.a.O., 3. Aufsatz.
14 Vgl. H. C. Recktenwald: Moral, Selbstinteresse und Gemeinwohl; in: «Orientierungen» 1981, S. 23 if.; derselbe: Adam Smith, Leben und Werk, München 1976.
15 Recktenwald: Moral, Selbstinteresse. . ., a.a.O., S. 25.
16 Vgl. R. Steiner, Nationalökonomischer Kurs, a.a.O., 3. Vortrag.
17 Vgl. hierzu Hardorp: Die Waldorfschulen in den Wirren der Zeit; Berichtsheft des Bundes der Freien Waldorfschulen 1982, S. 31 if.
18 Vgl. Elisa Klappheck: Sind wir nutzlos? Eine Studentin über ihre Rolle in der Gesellschaft, in: «Die ZEIT» Nr. 22 vom 27. 5. 1983, S. 29.
19 Vgl. Christoph Lindenberg: Der okkulte Aspekt der Arbeitslosigkeit; in: «Die DREI», 4/1983, S. 253 if.
20 Elisa Klappheck, «die ZEIT», a.a.O.
21 Vgl. Hardorp: Führung ohne Hierarchie? In: Der Wirtschaftsprüfer als Unternehmensberater, Ulm 1974.
22 Goethe: Faust I, Studierzimmer. Den gleichen Zusammenhang aus monetärer Sicht hat der Verfasser dargestellt in: Elemente einer Neubestimmung des Geldes . . ., a.a.O., 5. 143 if. (vgl. auch Anmerkung 2).
23 «Ad Hoc Commitee on the Triple Revolution»: Die drei Revolutionen ein amerikanisches Manifest; in: «Atomzeitalter» 1/1966, 5. 307 if.
24 Ähnliches spricht wohl auch Dahrendorf an, wenn er eine Entkoppelung von «Produktivitätssteigerung und Realeinkommen» fordert. Vgl. R. Dahrendorf: Die Chancen der Krise, Stuttgart 1983, S. 98 if.
25 Daß auch der Leistungsbegriff keine wirklichen Maßstäbe für die Einkommensbildung hergibt, hat der Verfasser an anderer Stelle dargelegt; vgl. Hardorp: Die Problematik des Leistungsbegriffes ..., a.a.O.
26 Z. B. für die Camphill-Bewegung. 27 Vgl. R. Steiner: Arbeitslosigkeit (in: GA 36).
28 Zum Begriff der Assoziation bei Rudolf Steiner vgl. Hardorp: Elemente einer Neubestimmung des Geldes. . ., a.a.O., 5. 281 if.
29 Es bedarf ja nicht immer eines Sputnik-Schocks, um Bildungsprozesse anzustoßen; dieser war aber ein deutliches, wenn auch extrem einseitiges Beispiel des Innewerdens der angesprochenen Bezüge.
30 G. E. Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechtes, § 90 bis 100.
31 Rudolf Steiner: Wiederverkörperung und Karma und ihre Bedeutung für die Kultur der Gegenwart (GA 135), 5. 67 ff., Vortrag vom 21. 2. 1912. - Ähnlich: Entwicklungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils (GA l85a), 5. 212 if., Vortrag vom 24. Il. 1918.
32 Vgl. die Darstellung dieses Weges etwa bei H. J. Bodenhöfer, der sie kritisch würdigt, in seinem Aufsatz: Lenkung und Finanzierung der Hochschulexpansion: Probleme und Alternativen? In: «Wirtschaftspolitische Blätter» 1977, S. 91 if.
33 Nach einem Bericht der Bundesregierung ergeben sich bei einem fünfjährigen Studium etwa DM 40 000,- Ausbildungsschuld (vgl. Rhein-Neckar-Zeitung vom 20. 1. 1984, S. 13).
34 Ganz anders schildert R. Steiner die Ausbildungsförderung im Wege der Schenkung als ökonomisch sinnvoll im Nationalökonomischen Kurs, a.a.O., 9. Vortrag. Vgl. dazu auch Hardorp: Studienfinanzierung - Einkommensbildung - Soziales Hauptgesetz; in: «Beiträge zur Dreigliederung» 1977, 5. 22 if.
35 Geisteswissenschaft und soziale Frage, a.a.O., 3. Aufsatz.