Akkumulation des Kapitals und Arbeitswillige ohne Aufgabe
Probleme, Fragen, Aspekte

01.01.1984

1. Brachliegende Produktionsmöglichkeiten

Seit Beginn der ersten industriellen Revolution vor fast 200 Jahren war bis in die Mitte unseres Jahrhunderts der Zustand erheblicher Unterbeschäftigung die Regel, die nur durch die Zwangsverhältnisse der großen Kriege außer Kraft gesetzt wurde. Desungeachtet spricht J. M. Keynes 1 von der «ungeheuren Regelwidrigkeit der Arbeitslosigkeit in einer Welt voller Bedürfnisse». Ja, er ging so weit (mitten in einer Phase katastrophaler weltweiter Rezession) Vollbeschäftigung nicht nur als denkbar, sondern auch als den gegebenen Zustand einer sinnvoll geordneten Wirtschaft darzustellen.

Wir können hier davon absehen, daß jenes von Keynes entwickelte wirtschaftspolitische Instrumentarium, das der Erreichung der Vollbeschäftigung dienen sollte, umstritten ist; er selbst betrachtete seine Entwürfe nur als Versuch. Wichtiger erscheint uns die Frage: Woher nahm der realistische Verfasser der «Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes» trotz der gegenteilig auftretenden Erfahrung von anderthalb Jahrhunderten den Mut, Arbeitswilligkeit ohne Rest in die wirtschaftliche Produktivität voll integrieren zu können? Offenbar gehen alle keynesianischen Grundgedanken davon aus, daß, solange noch ungedeckter Bedarf an Gütern vorliegt und gleichzeitig Arbeitswilligkeit und unternehmerische Fähigkeiten brachliegen, in dem Fluß von Geld und Kapital störende Fehldispositionen vorliegen. In der Schule des J. M. Keynes sind Produktionsbereitschaft und wirtschaftlicher Bedarf die zwei Königskinder, die nur deshalb nicht zusammen kommen können, weil der bornierte Geiz und die mikroökonomische Kurzsichtigkeit der Kapitaleigner es nicht gestatten 2.

Hier setzen alle unorthodoxen Gedankengänge John Maynards an, und er erweist sich dabei als ein neuer Menenius Agrippa, dem es darum geht, daß alle Einzelorgane sich in den Dienst am Gesamtorganismus einordnen, damit der Sinn des Wirtschaftens sich ungestört erfüllt: Die optimale Versorgung aller Bewohner des geschlossenen Wirtschaftsgebietes mit den lebensnotwendigen und lebenserleichternden Gütern und Leistungen.

2. Das Problem der Interdependenz

Von allen Einrichtungen und Vereinbarungen im Interesse weltwirtschaftlicher Produktivität, Zirkulation und Bedarfsdeckung, welche Keynes 1944 in Bretton Woods anstrebte, scheiterten die wesentlichen am Einspruch der USA. Immerhin entstanden durch seine Aktivität u. a. die Weltbank und der Internationale Währungsfonds.

In der derzeitigen weltwirtschaftlichen Krise zeigt es sich nun, daß die Funktionsträger solcher von Keynes inaugurierten Institutionen gar nicht anders können, als nach unorthodoxen Lösungen zu suchen. So sind seit einiger Zeit die Äußerungen des Weltbankpräsidenten Alden W. Clausen beachtenswert: 30-40 Prozent aller Industriestaatenexporte gingen bisher in die Dritte Welt. Dieser Strom droht zu versiegen, da die Verschuldung durch historisch einmalig hohe Zinsen in den Entwicklungsländern zur Zahlungsunfähigkeit geführt hat. Hinzu kommt, daß der weltweit um sich greifende Protektionismus den Export der Entwicklungsländer am härtesten trifft. Dort ist inzwischen bei ohnehin geringem Einkommensniveau eine solche Unterbeschäftigung entstanden, daß in vielen Bereichen der elementare Lebensunterhalt in Frage gestellt ist. Die Geschäftsbanken der Industriestaaten, die in Konsortien bisher in die Dritte Welt Darlehen gaben, haben versucht mit Hilfe der Weltbank und ihrer Tochtereinrichtungen Umschuldungen vorzunehmen, sehen sich aber vor der Tatsache, daß ihre Forderungen letztendlich illusionär sind, und sie werden deshalb wohl weiterhin keine neuen Darlehen dorthin transferieren. Entwicklungshilfen, die von den Regierungen der reichen Länder bisher in die ärmsten Bereiche der dritten Welt als Schenkungen gegangen sind, werden immer spärlicher; denn auch die Industriestaaten sind extrem verschuldet. Trotz all dieser krisenhaften Positionen sagt Clausen: «Die Kapitalstrome in die Entwicklungsländer müssen weiterhin in ausreichendem Maße strömen.»

Soll das heißen,

a) daß eine solonische Schuldentilgung vorgenommen werden muß in einem Ausmaß, wie sie Keynes nach dem Ersten Weltkrieg für die untereinander verschuldeten Siegerstaaten gefordert hat3, und

b) daß aus den hohen Durchschnittseinkommen der reichen Länder eine Art langanhaltender Lastenausgleich in die verarmten Bereiche der dritten Welt gehen muß?

3. Bedeutung und Beweggrund des Produzierens

«Die Bedeutung der Produktion liegt in dem Konsum, den sie ermöglicht», sagt Joan Robinson4; doch fährt sie fort: «Nach den kapitalistischen Regeln ist der Großteil der Produktion für den Verkauf und nicht für den Verbrauch bestimmt. Die Triebkraft jedes einzelnen ist das Streben nach Geld, und in Verfolgung dieses Zieles erzeugt er als Nebenprodukt einen Strom von Gütern und Dienstleistungen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse

Eine Wirtschaft, in der die Produktionsprozesse nicht letzten Endes Konsumgüter liefern, wäre nicht lebensfähig, so daß wir für die ganze Volkswirtschaft ruhig annehmen können, die Bedeutung aber nicht der Beweggrund - der Produktion liege im Konsum.»

Würde sich die wirtschaftende Gemeinschaft eines Landes in einem verbindlichen Sozialvertrag dazu entschließen, die wirtschaftlichen Leistungen und Erträgnisse ohne Rest der optimalen Versorgung der Gesamtbevölkerung zur Verfügung zu stellen, dann wäre zwar die Bedeutung der Produktion erfüllt und es brauchte auch der Arbeitswillige nicht ohne Beschäftigung zu sein; der Beweggrund jedoch aus dem heraus produziert wird, wäre dann aus seinen privatwirtschaftlichen Angeln gehoben.

Vor dem radikalen Gedanken, alles Wirtschaften gemeinnützig zu machen, schrecken wir zurück, weil wir annehmen, daß eine solche sozioökonomische Struktur nur durch sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft, mindestens aber durch sozialstaatliche totale Umverteilung möglich sei. Machiavellis Formel: «Der Mensch tut das Gute nur unter Zwang» 5 spricht dem ökonomischen Menschen die Fähigkeit ab, aus freiem Entschluß als Produzierender nur im Interesse der Gemeinschaft tätig zu sein, und verweist das gesamtwirtschaftliche Anliegen an die politische Macht, den Staat. Selbst der Neoliberalismus, der den Antrieb jeder wirtschaftlichen Aktivität in dem privatwirtschaftlichen Nutzen sieht, rief nach den staatlich eingesetzten «Ordnungsprinzipien», die ein ungezügeltes Laissez-faire per Strafrecht unterbinden sollten.

Wenn aber der wirtschaftlich Tätige nur durch privatwirtschaftlichen Vorteil zu motivieren ist, wo bleibt dann der zur Untätigkeit verurteilte Arbeitswillige, der vergeblich danach fragt, was für ihn zu tun übrig sei?

4. Handwerkliche Arbeitsteilung, kapitalistische Industrieproduktion, Sozialpolitik

Wir machen im folgenden den Versuch, in einigen historischen Skizzen uns dem vorliegenden Problem kritisch zu nähern:

a) Der Westen des Römerreichs hatte am Ende der Völkerwanderung den Großteil seiner wirtschaftlichen Grundlagen verloren; der einzelne Freie oder Abhängige im Reich der Merowinger war wirtschaftlich weitgehend auf sich zurückgeworfen, die Summe der dortigen einst blühenden, wirtschaftlichen Produktion war zu einem Rest primitiver ländlicher Aktivität zusammengeschrumpft. Nur ein schwacher Austausch ergänzte ein wenig das, was man unter Mühen im engen Lebensraum an Ernährung, Bekleidung, einfacher häuslicher Ausstattung usf. erarbeiten konnte.

Damals entstanden die ersten arbeitsteiligen Zusammenschlüsse in kleinen Gemeinden aus dem Bewußtsein, daß mehr Produktivität zustande kommt, wenn der einzelne sich spezialisiert und jeder sein Spezialprodukt in die Gemeinschaft einbringt.

Es ist wahrscheinlich, daß die Arbeitsteiligkeit, die in den Benediktinerklöstern die Regel war, bei der Begründung der mittelalterlichen Kommunen als Modell gewirkt hatte. Unter den handwerklichen Erzeugnissen der Mönche war manches hochentwickelt und gediegen und wurde so zum Vorbild der mittelalterlich-handwerklichen Arbeit. In den Arbeitervorträgen weist Rudolf Steiner daraufhin, daß die Benediktinerregel, die jedem Mönch eine dienende Funktion für das leibliche Wohl der anderen Klosterbewohner zuteilte, erstmalig im christlichen Sinne die subalterne Stellung des körperlich Arbeitenden überwunden hat.

In der Tat, der Handwerker in der mittelalterlichen Stadt entwickelte ein erstesfreies Selbstgefühl, in welchem das tätige Dienen in der Gemeinschaft keine Unterordnung und der wirtschaftliche Erfolg keine Überordnung bedeutete. Arbeitsteilige Produktion hatte es in älteren Kulturen bereits gegeben; sie war aber «von oben» organisiert. Das Besondere, das in den Städten des Mittelalters vorlag, war, daß hier in freiem Zusammenschluß, sozusagen von «unten her», die arbeitsteilige Sozialstruktur entstand und daß unter dem Gesichtspunkt der Gemeinnützigkeit kein konkurrierendes Gerangel aufkam.

Es blieb jedoch die friedliche Tätigkeit der füreinander Produzierenden in den mittelalterlichen Stadtgemeinden nicht ungestört. Denn die Kommunen waren eingebettet in größere Machtgebilde, in denen immer wieder gewalttätige Umwälzungen vor sich gingen. Stadtmauern boten bisweilen, jedoch nicht immer, den nötigen Schutz. Innerhalb der Städte spielten Handelshäuser oft eine störende Rolle gegenüber den auf Stetigkeit des Produzierens bedachten Handwerkern, weil das Metallgeld, wenn es zeitweilig in den Truhen des Kaufmanns dem Umlauf entzogen wurde, als verknapptes Tauschmittel die Erzeugnisse im Preis drückte, also billiger machte und dem Händler schließlich ermöglichte, z. B. die Stapel der inzwischen hergestellten Tuche für weniger Münzen als sonst aufzukaufen.

Das Geld der Templer hat zeitweilig das ungestörte Zirkulieren der Zahlungsmittel, wie es in einer arbeitsteiligen Wirtschaft nötig ist, gefordert und das Aufblühen der städtischen Wirtschaft begünstigt. Doch verlor schlagartig die französische Stadtwirtschaft ihr frisches Leben, als sich Philipp der Schöne der Templergelder bemächtigte und sich zusätzlich durch Münzverschlechterung Vorteile verschaffte. Die von Freiwirten oft gepriesenen Brakteaten, die wegen des drohenden Wertverfalls rasch von Hand zu Hand gingen, gewährten dem Münzherrn eine immer häufiger genutzte Gelegenheit, bei jeder Münzverrufung sich gehörig zuungunsten der Bevölkerung zu bereichern. Brakteaten begrenzten die wirtschaftliche Zirkulation auf engstem Raum; sie sind nachweislich nicht die Grundlage blühenden Wohlstands gewesen 6.

In der Neuzeit scheiterten die in Freiheit gebildeten Sozialstrukturen des Mittelalters endgültig an den politischen und geldwirtschaftlichen Mächten. Was einmal als sinnvoller Zusammenschluß der Einzelaktivitäten im Interesse des Gesamtwohls verstanden werden konnte, verlor sich im Getriebe privatwirtschaftlicher Kapitalisierung und war, bevor noch die alte Gewerbeordnung aufgelöst wurde, nicht mehr recht lebensfähig.

b) Mit Hilfe der aus den überseeischen Eroberungen herbeigeschaffenen Edelmetallmengen entstand ein neuer breiter Strom umlaufenden Münzgeldes. Er ermöglichte in größerem Stil die Trennung von Kapitel und Arbeit, weil nach und nach der für den stetigen Verbrauch produzierende Handwerker in die zweite Reihe des Wirtschaftens geriet, während der Kapitaleigner in der Lage war, gewerbliche Großbetriebe einzurichten, die seriell und deshalb wohlfeil produzierten. Als dann schließlich die Produktion sich der Maschinen bediente und Massenware in raschem Tempo erzeugt werden konnte, rückten die körperlich Arbeitenden - mit einem Hungerlohn abgefunden bei unmenschlich ausgedehnter Arbeitszeit -in die unterste Stufe der sozialen Skala. Jedoch - es gab noch eine Stufe darunter: Das waren die eingangs erwähnten Massen, die bei der kapitalintensiven, Arbeitskräfte ersparenden Produktion keine geregelte Versorgung hatten und auf Almosen oder auf Mundraub verwiesen waren.

Zwar erzeugte die hochgradig arbeitsteilige industrielle Fabrikation Massengüter für den elementaren Bedarf ungezählter Abnehmer, die dem Hersteller weitgehend unbekannt bleiben mußten, von denen er aber annahm, daß sie einen seiner Produktion entsprechenden Bedarf haben. Doch lieferte der kapitalistische Fabrikant aus der Natur der Sache heraus zumeist an der Masse der Bedürftigsten vorbei an jenen Bevölkerungsteil, der über ein entsprechendes Einkommen verfügte, um den Warenpreis zu zahlen, in welchem der Arbeitslohn und die Verzinsung der investierten Kapitalien enthalten war.

Joan Robinson macht auf das elementare «Paradoxon des Kapitalismus» aufmerksam: «Jeder Unternehmer für sich genommen zieht aus einem niedrigen Reallohn einen Vorteil, bezogen auf sein eigenes Produkt. Alle Unternehmer zusammen aber werden von einer beschränkten Aufnahmefähigkeit der Warenmärkte betroffen, die aus niedrigen Reallöhnen entspringt.» 7

Wirksame Nachfrage nach den Industriegütern ist begrenzt, wenn der Industrialismus ein Massenproletariat entstehen läßt, welches gerade am Existenzminimum oder noch darunter lebt. Die Nachfrage würde steigen, wenn allgemein die Löhne angehoben werden. Die dadurch hinzukommende neue Käuferschaft würde nicht allein die erhöhten Produktionskosten, welche durch die aufgebesserten Löhne zustande kommen und sich in den Warenpreisen niederschlagen, zu zahlen haben, da gleichzeitig auch die schon vorher vorhandenen, begüterten Käufer mit am Markte auftreten. Zudem werden die Fertigungsanlagen bei Ausweitung des Marktes besser ausgelastet, so daß die Stückkosten sinken.

Hinzuzurechnen ist aber auch der Bedarf derjenigen, die keine Beschäftigung gefunden haben, und auch derjenigen, die ihres Alters oder ihrer Unfähigkeit wegen keine Arbeit leisten können. Wenn man auch diesen verhältnismäßig großen Anteil an der Gesamtbevölkerung mit einem geregelten Einkommen in die Lage versetzt, wenigstens in bescheidenem Maße zu kaufen und zu konsumieren, so bedeutet das eine weitere Ausweitung des industriellen Marktes. Und darauf ist die serielle Massenproduktion immanent angelegt.

Der Frühkapitalismus hat das erste Menschenrecht, das Recht auf Leben, das in sich einschließt, daß jeder seinen Anteil an den notwendigen Existenzmitteln erhält, übergangen, obwohl er das von seiten der neuen, gesteigert arbeitsteiligen Massenproduktion, wie zu keiner Zeit vorher, hätte leisten können. Statt dessen griff mit hektischer Betriebsamkeit jene Zeit des Laissez-faire das andere Menschenrecht auf: das Recht auf Streben nach Glück 8. Es ging der in Bewegung geratenen bürgerlichen Welt um mehr als um eine schlichte Verbesserung des persönlichen Seins; es drehte sich vielmehr alle ökonomische Aktivität darum, bald auf geschickteste Weise in den Besitz eines Dauervermögens zu gelangen, das verstanden wurde als Grundlage wirtschaftlich-finanzieller Unabhängigkeit, auf der sich auch ein persönliches Glück dauerhaft aufbauen läßt. (Sehr früh entstanden u. a. damals die ersten Generationen an Anteilrechten, welche 100 Jahre und länger als Erst- und Altaktien ihre priviligierte Position bezogen, sarkastisch in England als «Fossilien» gekennzeichnet.)

Daß auf solche Weise der Kapitaleigner ein Dauervermögen anstrebte, war nur allzu verständlich, weil er anders ein Einkommen im Alter nicht sehen konnte und weil die wirtschaftliche Existenz der eigenen Nachkommen seine Sorge war.

Die fatale sozioökonomische Verknotung dieser kapitalistischen Struktur besteht darin, daß jede Steigerung privater «wirtschaftlicher Unabhängigkeit» eine verstärkte «wirtschaftliche Abhängigkeit» für einen anderen Bevölkerungsteil nach sich zieht, d. h. daß das Einkommen der lohnabhängigen Arbeiter auf das Existenzminimum herabsinkt und darüber hinaus ein Reservoir an nichtbeschäftigten unversorgten Arbeitskräften entsteht, die bereit sind, zu Hungerlöhnen die verdingten Arbeitskräfte noch zu unterbieten.

Wir sahen, daß diese kapitalistische Struktur trotz der technischen Möglichkeit, mit Massenware allen entsprechenden Bedarf zu befriedigen, sich selbst den potentiellen Markt auf einen Rest reduzierte. Den auf diese Weise verkümmerten Binnenmarkt versuchte der Frühkapitalismus durch ständig neue Ausdehnung des Weltmarktes - wenn nötig, mit Gewalt -zu ergänzen. - Der heutige Krisenzustand stellt uns vor die letzte Grenze dieser Expansion: Der Weltmarkt wurde zu einem abgeschlossenen, nicht mehr zu erweiternden Wirtschaftsgebiet, und ein Großteil der Käuferschaft dieses Gebietes - das sind vor allem die Bewohner der Entwicklungsländer - verfügt nicht über genügend Kaufkraft, so daß die industrielle Produktion rückläufig ist.

c) Der einzelne Proletarier erlebte sich in der frühkapitalistischen Zeit ständig am Rande des Existenzminimums, und seine vielleicht noch vorhandene Gläubigkeit an das gottgewollte Sozialschicksal sank dabei ab in ein Lebensgefühl, dem Christian Morgenstern in jungen Jahren Ausdruck gab in den Worten: «In Gottes Garten spielt ein Bronn / gedankenlos das Spiel der Welt».

In der Furcht vor der Radikalisierung der Arbeiterschaft durch den Sozialismus hat vor 100 Jahren Bismarck die ersten Sozialgesetze zum Schutz des durch Alter oder Invalidität arbeitsunfähigen Arbeiters erlassen. Wir müssen heute aus mancherlei Gründen hervorheben, daß es die konservative Obrigkeit war, die den Anfang machte mit dem sozialstaatlichen Schutzgehege, und daß sie dazu gezwungen war durch die Unrechtsverhältnisse des Frühkapitalismus, welche sie nicht behob, deren Wirkung sie nur milderte. - Die Beiträge, die für die damals eingerichteten Sozialversicherungen vom Arbeiter und vom Unternehmer gefordert wurden, waren gering. Doch genügten sie, um den Invaliden und Alten ein bescheidenes, regelmäßiges Einkommen zu verschaffen. Das war ein erstes Umverteilen nach links, und dies hatte, wenn auch in begrenztem Umfang, eine ökonomisch bemerkbare Marktausweitung zur Folge. Durch diese vom Staat angeordnete Umlagerung ging ein gewisser Prozentsatz der Produktionserträgnisse in die Hand eines Bevölkerungsteils, der bis dahin am Rande des Wirtschaftslebens gestanden hatte, und bewirkte dort, daß sich ein (zwar noch bescheidener) Markt erschloß.

66 Jahre später erst hat sich die volle ökonomische Wirkung solcher Umlagerungen, die wir als Schenkungen bezeichnen wollen, in drastischer Weise dargestellt. Der Lastenausgleich setzte 1949, ein Jahr, nach der Währungsreform, ein.

5. Der Lastenausgleichseffekt

In einer entwickelten, arbeitsteiligen Volkswirtschaft hat das erste Wort der selbständige Unternehmer.

Wenige Jahre nach der Währungsreform wandten sich die Unternehmer in der Bundesrepublik mit Plakaten an die Öffentlichkeit, um darauf aufmerksam zu machen, welche Bedeutung selbständiges Unternehmertum für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft habe. Es gelang damals, die - nicht nur bei sozialistischen Gruppen -vorhandenen Tendenzen zur Verstaatlichung der Betriebe zu dämpfen, weil allmählich ein allgemeines Verständnis aufkam, daß die notwendige frische Entschlußkraft und Phantasie desjenigen, der die Initiative hat, nicht durch bürokratische Umständlichkeiten gehemmt werden darf. Daß nach der Währungsreform trotz zerstörter und demontierter Industrieanlagen die Produktion wieder in Gang kam, Arbeitsplätze geschaffen wurden und der gewaltige Nachholbedarf verhältnismäßig rasch gedeckt werden konnte, ist in hohem Maße der Unternehmerinitiative zu verdanken. Sie setzte damals ein - ohne besondere Aussicht auf große Gewinne und auf Vermögensbildung; sie war lediglich motiviert durch das Interesse am selbständigen Handeln und am Gelingen begonnener Unternehmungen. Viele haben am Ende der vierziger Jahrer ihre Neigung zum freien Unternehmertum erst entdeckt und sich beim Improvisieren mit einfachsten Mitteln bewährt.

Der Wiederaufbau der Verkehrsverbindungen und der Import wichtiger Rohstoffe sind größtenteils durch Marshaliplangelder ermöglicht worden. Sie alle konnten ohne Rest mit Zinsen und mitsamt der nachgeforderten Schuldenreste aus der Vorkriegszeit zurückgezahlt werden (Londoner Schuldenabkommen 1953).

Dies alles hätte aber die aufbaufreudige unternehmerische Initiative nicht erfolgreich werden lassen, wenn die neuen Produkte nur auf eine verhältnismäßig versorgte Käuferschicht gestoßen wären, diejenigen nämlich, die relativ verlustlos durch die Kriegsund ersten Nachkriegsjahre gekommen waren. Mindestens ein Drittel der Gesamtbevölkerung bestand jedoch aus Vertriebenen, Flüchtlingen, Ausgebombten und Währungsgeschädigten. (Letztere waren diejenigen, die ihre Altersversorgung in Ersparnissen abgesichert hatten, die bei der Währungsreform zum größten Teil verlorengegangen waren.) Hier war der größte Bedarf, aber lagen auch die geringsten Voraussetzungen, diesen Bedarf zu realisieren.

Den Schlüssel für den Wiederaufbau der Wirtschaft fanden damals diejenigen, die das Sagen hatten, in der ein Jahr nach der Währungsreform beschlossenen Soforthilfe und in dem dazugehörigen Gesetz für Lastenausgleich, das bereits 1948 von den Militärregierungen gefordert war. Es war den Regierenden nicht bewußt, daß die Beiträge und Gelder, die durch Gesetz den Ungeschädigten über dreißig Jahre regelmäßig abgenommen wurden, um in einem Akt der Solidarität die Millionen der schwer Betroffenen mit Mitteln auszustatten, durch welche der nötige Hausrat, Kleidung, Wohnungseinrichtung, Wohnungsbau, Altersversorgung, berufliche Eingliederung ebenso ermöglicht wurde wie die Begründung selbständiger gewerblicher oder landwirtschaftlicher Unternehmungen, - daß es gerade diese Gelder waren, die den unerwarteten wirtschaftlichen Wiederaufbau ermöglichten. Jene immense Nachfrage, die durch den Lastenausgleich wirksam wurde, belebte die Produktion, finanzierte die nötige Ausweitung und Verbesserung der Fertigungsanlagen und schaffte unzähligen Arbeitswilligen den erstrebten Arbeitsplatz. Als Zwangsschenkung ging diese Jahrzehnte währende Einkommens-Umverteilung vonstatten. - Wer durch das Lastenausgleichsgesetz genötigt war, regelmäßig von seinen Einkünften abzugeben, hat dies mit Unwillen über sich ergehen lassen; er konnte aber nach einer Reihe von Jahren, wenn er willens war, sich davon überzeugen, daß auch ihm der auf diese Weise ermöglichte Wiederaufbau der Wirtschaft von Nutzen war.

Hier eine Übersicht über Einnahmen und Ausgaben des Lastenausgleichsfonds von 1949 bis 1969 in Milliarden DM:

Einnahmen

Ausgaben

Vermögensabgabe (einschließlich Soforthilfeabgabe) Hypothekengewinnabgabe Kreditgewinnabgabe Zuschüsse des Bundes und der Länder Wertpapierbereinigung Rückflüsse aus eigenen Mitteln Sonstige Einnahmen Kreditmittel

30,7

7,5 1,5

19,4 0,4

7,2 0,3 6,0

73,0

44

Hauptentschädigung Hausratentschädigung Sparerentschädigung Renten Berufliche Eingliederung Eingliederung durch Wohnungsbau Härtefonds Schuldendienst und sonstige Abgaben

12,4 8,7 4,0

23,7 2,1

12,2 2,8

5,0

73,0

In der gleichen Schrift" (S. 103) heißt es: «Während die meisten Ausgaben endgültig geleistet wurden, wurden die Zahlungen zur beruflichen Eingliederung, zur landwirtschaftlichen Eingliederung und zur Eingliederung durch Wohnungsbau sowie die entsprechenden Zahlungen aus dem Härtefonds - insgesamt ein Betrag von mehr als 17 Milliarden DM - darlehensweise gegeben.» Diese Darlehen wurden ohne bankübliche Sicherheiten, lediglich auf Personalkredit ausgehändigt. Darüber hinaus gab es in besonderen Fällen Ausfallsbürgschaften, welche die Ausgleichsämter den Kreditnehmern bei Banken und Sparkassen gewährten. - Über Jahre hin waren die Darlehen zinslos, später mit niedrigen Zinsen erteilt; bei verzögerter Zinszahlung wurden die noch nicht gezahlten Zinsen zur späteren Erstattung ohne Zinseszins verbucht.

6. Aneignungsgesellschaft und Anspruchsgesellschaft

Recherchen der verschiedensten Art wären notwendig, um eine genaue Übersicht über die ökonomische Wirkung des Lastenausgleichs zu gewinnen. Der rasch aufgefüllte «Juliusturm» des Bundesfinanzministers ermöglichte außergewöhnliche und erhebliche Ausgaben (Zahlungen an Israel, Wiederaufrüstung, erhöhter sozialstaatlicher Aufwand, Behördenkomplettierung, Ausbau der Verkehrswege, Kosten der stationierten Truppen der Westmächte, Entwicklungshilfe usf.). Zu berücksichtigen wäre auch das gewachsene Volksvermögen, das wahrscheinlich nur anhand der emporschnellenden Bodenpreise geschätzt werden kann. Dies Letztere jedoch war ein höchst fragwürdiger Nebeneffekt der Lastenausgleichs-Wirtschaft, über den es gründlich nachzudenken gilt.

Karl Jaspers äußerte 1966 unter dem Eindruck des jäh steigenden deutschen Wohlstandes seine moralischen Bedenken in seiner Schrift: «Wohin treibt die Bundesrepublik?», die nur kurze Zeit von der Öffentlichkeit beachtet wurde. Die ökonomischen Aspekte seiner Mahnungen gingen eindeutig in die Richtung, daß man in einer fundamentalen Vermögensentäußerung die schuldlos Verarmten jenseits der bundesdeutschen Grenzen integrieren sollte in eine menschenwürdige Versorgung.

Rückblickend auf diese Zeit schrieb Elisabeth Noelle-Neumann 11 ihren Aufsatz «Arbeit - was ist das?». Darin heißt es: «Ich wurde aufmerksam auf eigentümliche Veränderungen in der Gesellschaft ab Mitte der sechziger Jahre - wachsende Lustlosigkeit bei der Arbeit, und zwar nicht nur bei Berufstätigen mit entfremdeter Arbeit, sondern auch bei den Selbständigen und Freiberuflichen und ebenso bei den Hausfrauen.»

Was der Demoskop in der Mitte der sechziger Jahre wahrgenommen hat, wirft ein Schlaglicht auf den Strukturwandel, der sich damals vollzog. Sagt doch Noelle-Neumann nichts anderes als:

a) In einem Wirtschaftszusammenhang, in welchem die Aussicht der Selbständigen auf Vermögensbildung und auf Erlangung wirtschaftlicher Unabhängigkeit denkbar gering war, engagierten sich Unternehmer und Freiberufliche mit mehr Bereitwilligkeit und mit mehr Interesse an der Sache als später, wo die Verhältnisse in erstaunlichem Maße verzinsbares Vermögen jeder selbständigen wirtschaftlichen Initiative anboten.

b) Nachdem Vollbeschäftigung erreicht war, alljährlich der Reallohn höher als die Wachstumsquote der Gesamtproduktion stieg, - als die Arbeitszeit merklich verkürzt wurde und das soziale Sicherungsnetz sich weiter verstärkte, verlor der unselbständig Tätige einen Großteil seiner unbefangenen Arbeits- und Einsatzbereitschaft, die ihn Jahre vorher motiviert hatten, als verbesserte Arbeits- und Einkommensverhältnisse noch kaum in Sicht waren.

Eine Dissoziierung der beiden Gruppen war eingetreten, wie sie vorher nicht erwartet worden war; jedenfalls hat der Demoskop die in den 60er Jahren eingetretene Veränderung nicht als selbstverständlich hingenommen. Die Auseinandersetzungen zwischen den Tarifpartnern wurde nun härter in einem Zeitpunkt, wo in der Regierung und im Parlament noch geglaubt wurde, man könne ein goldenes Zeitalter von ständigem Wirtschaftswachstum, von Vollbeschäftigung, hohem Einkommen und positiver Außenhandelsbilanz mit wirtschaftspolitischer Steuerung aufrecht erhalten.

1949 und in den folgenden Jahren schien es noch, als sei in den meisten Betrieben eine Gemeinschaft von Unternehmertum und Arbeitswilligkeit ohne Interessenspaltung begründet worden, so daß jeder Produktionsfortschritt vornehmlich der Verbesserung der Gesamtversorgung diente. Kredite, namentlich die aus dem Lastenausgleichsfonds aufgenommenen, wurden in möglichst rascher Folge zurückgezahlt und verzinst, und Gewinne, die der Eigenfinanzierung von Erneuerungen und Ausweitungen des Betriebs dienten, wurden gewertet als innerbetriebliche Stabilisierung und weniger als verfügbares Privatvermögen. Erst allmählich kam unter den Firmengründern das Bedürfnis auf, den Betrieb als verzinsbare Kapitalanlage auszubauen, als einen vererbbaren Rückhalt.

Aber es ist ein anderes, ob der Unternehmer, der aus den Erträgnissen der Produktion ein angemessenes Einkommen erzielt, die in die Betriebsanlage gesteckten Leihgelder als Schuldverpflichtung behandelt, welche er durch entsprechende, im Verkaufspreis seiner Produkte einkalkulierte Quoten nach und nach verzinsen und abtragen kann oder ob die Investitionen als Anteilseigentum plaziert werden, das sich in jedem Gewinn verzinst, jedoch nicht mehr verdrängen läßt aus den Eigentumsverhältnissen.

Sobald einmal einzelne Unternehmer - es wurden bald immer mehr - ihre großgewordenen, gutgehenden Betriebe verkauften (zumeist an interessierte amerikanische Kapitalgesellschaften), wurde die im Lastenausgleich angelegte sozialökonomische Struktur allmählich paralysiert. Damals kommentierte noch die deutsche Wirtschaftspresse mit Verwunderung solche Vorgänge, insbesondere dann, wenn der bisherige Unternehmer altersmäßig noch manche Jahre beruflicher Aktivität vor sich gehabt hätte. Als Aussteigertum wurde der Wechsel empfunden.

Umverteilung der produzierten Werte auf die Seite der Renders, das entstand in den sechziger Jahre immer häufiger. Das aber bedeutet: Preissteigerung und Geldentwertung. Die beschwörende Mahnung maßzuhalten, konnte den begonnenen Prozeß nicht mehr zum Stehen bringen. Auf höhere Preise folgen höhere Lohnforderungen; und so waren alle Faktoren vorhanden, um eine permanente Inflation, genannt Lohn-Preis-Spirale, in Gang zu halten.

Was immer der Sozialstaat, durch den der Lastenausgleich erzwungen wurde, noch weiter unternahm, um durch die «Umverteilung nach links», die Massenkaufkraft zu erhalten und zu stärken, hatte noch etliche Jahre Bestand neben der Umverteilung «nach rechts» in Richtung Vermögensbildung und -mehrung - solange jedenfalls, wie ein größerer Wirtschaftsauftrieb anhielt. Dann aber kündigte sich mit den ersten Anzeichen einer Stagnation die in der Struktur des Ganzen von vornherein angelegte Krise an, welche den Sozialstaat dahin brachte, sich immer mehr bei dem bisher entstandenen Privatvermögen zu verschulden.

Doch ehe noch die Stagnation eingetreten war, mußte dem Einsichtigen klar sein, daß Verbrauch und Produktion nachJahren des stürmischen Wachstums in ein ruhigeres, stetigeres Fahrwasser einmünden müssen.

7. Die neue Krise

Die ökonomische Krise wurde erst in den 70er Jahren bewußter wahrgenommen. Sie konnte zunächst im Zusammenhang mit der Energie- und Ressourcenkrise gesehen werden. Dann aber wuchs das Verständnis dafür, daß es sich um eine komplexe, um eine das Selbstverständnis des Menschen angehende Problematik handelt, in der es geradezu um die Identität des einzelnen und der Gesamtheit geht. In vielen Äußerungen tritt das zutage. Es sei nur an die bekannte Stellungnahme des Präsidenten des Club of Rome erinnert 12.

Der notwendige umfassende Sinneswandel, von dem Aurelio Peccei spricht, trifft zugleich das Kernproblem der ökonomischen Krise: Wir können nicht angesichts wachsender Arbeitslosigkeit, vergrößerter Unterbeschäftigung und Verelendung in der dritten Welt bei gleichzeitig zum babylonischen Turm angewachsenem Privatvermögen uns aus der Affäre ziehen mit jenem makabren Wort: Bin ich denn der Hüter meines Bruders! Rückfall in selbstversorgerische Sicherung, in protektionistische Kleinwirtschaft verursacht bis in die kleinsten Privatverhältnisse immer stärkere Bewegungen in der Sorge ums Überleben: Wenn in jeder Bankfiliale bis nach Japan Goldmünzen und Goldbarren angeboten werden mit dem Hinweis, es sei notwendig, ein Zehntel des zinsbringenden Vermögens in (nicht zinsbringendem) Gold anzulegen, dann fragt sich auch der vermögenslose Bankbesucher, der sein regelmäßiges Einkommen abbucht: Ist es schon soweit? Muß man eiligst Wertobjekte besorgen, mit denen man demnächst verknappte Existenzmittel ergattern kann, mit denen man für sich den besseren Platz in der Reihe der auf Versorgung Wartenden erlangen kann?

8. Der zum Problem gewordene Reichtum

Nach den Angaben des Bonner Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 13 verfügen die bundesdeutschen Haushalte im Jahr 1983 über ein privates Nettovermögen von insgesamt DM 5,4 Billionen. Wenn man diese Summe gleichmäßig unter die 60 Millionen Bewohner der Bundesrepublik aufteilt, bedeutet das, nach Meinhard Miegel, ein privates Pro-Kopf-Nettovermögen von DM 95 000,-. Etwa drei Viertel dieses Vermögens erbringen Bodenrente oder andersartige Zinserträge. Daran hätte dann jeder gleichen Anteil. Wer jedoch soll diese Zinszahlungen aufbringen? Bei günstiger Außenhandelsbilanz mag ein Teil von draußen hereinkommen, aber im wesentlichen muß doch die Zinsschuld alle diejenigen betreffen, die auch die Zinsen vereinnahmen wollen! Zinszahler und Zinsempfänger werden auf diese Weise identisch. Nicht leicht ist das zu durchschauen, weil die Quote an Bodenrenten und Kapitalzinsen sozusagen unsichtbar in den Endverbraucherpreisen, in Mieten und Benutzergebühren mit enthalten ist. Ein an alle in gleicher Höhe aufgeteiltes zinsbringendes Dauervermögen erweist sich somit als Scheinreichtum, der lediglich dazu führt, daß eine zusätzliche Geldmenge in einem ständigen Leerlauf umzusetzen ist.

Von Nutzen ist die Kapitalbildung nur für denjenigen, der mehr als ein Durchschnittsvermögen besitzt. Es erhöht nicht nur sein Realeinkommen, sondern es ermöglicht ihm auch, das zinsbringende Dauervermögen weiterhin zu vermehren. Wir nannten dies eine «Umverteilung nach rechts». Sie ist aber genau das retardierende Element in einem Zusammenhang, welcher Produktion und Konsum in einer gewissen Stetigkeit aufrecht erhalten will. Sie verleitet dazu, daß Geldmengen erheblichen Umfangs sich wie vorsintflutliche Drachen über Ländergrenzen und Meere hin und her bewegen, um irgendeinen Gewinn einzuheimsen, der, weiß Gott, nichts zu tun hat mit der geringsten Realwert-Produktivität. Das aber macht es nötig, daß Zentralbanken ihre Geldmenge vermehren (auch dann, wenn das Bruttosozialprodukt nicht steigt), daß sie andererseits die Kreditmenge knapp halten, den Diskontsatz und Lombardsatz erhöhen bzw. erniedrigen (um so die allgemeinen Zinssätze zu manipulieren), - daß sie die Unruhe an den Devisenbörsen durch Kauf bzw. Verkauf von Devisen zu bändigen suchen usf. Die brutal egoistische Tendenz der Geldgeschäfte läßt sich eine Zeitlang durch Überraschungseffekte bremsen, aber schließlich werden die Zentralbank-Manipulationen berechenbar, und die Geldbewegungen nehmen weiter ihren asozialen Lauf.

Hat unser Jahrhundert keinerlei Erfahrungen und Bemühungen aufzuweisen, die über das naturhaft-selbstversorgerische Getriebe hinausweisen auf Möglichkeiten ganz anderer Art?

9. Zukunftsaspekte

Die Rechnung, die vor 200 Jahren das aufstrebende Bürgertum dem Feudaladel aufmachte, daß nämlich jeder reale Wirtschaftswert (der «Reichtum») einzig durch Arbeit und sinnvoll gegliederte Arbeit, nicht aber durch Privilegien entsteht, hätte eine solide Grundlage für ein modernes, arbeitsteiliges Wirtschaften abgeben können. Es fehlte jedoch in dieser Rechnung - so, wie sie von Adam Smith und anderen damals formuliert wurde - der Hinweis auf die Vergänglichkeit der für Verbrauch und Gebrauch erarbeiteten Realwerte. Die hortbare Edelmetalimünze verstellte den Blick für die begrenzte Lebensdauer der realen wirtschaftlichen Werte. Nur allmählich ringt sich das 20. Jahrhundert zu einer Handhabung des Geldes durch, das nicht durch einen Metallwert gedeckt ist, sondern nur auf der Basis des vorhandenen vergänglichen und wieder reproduzierten Bruttosozialprodukts seinen Zeichenwert5 und seine «Deckung» hat. Vergeblich hat j. M. Keynes in Bretton Woods die USA von der Bindung an das Gold, das «barbarische Relikt» aus einer gewalttätigen, landnehmenden Epoche, abbringen wollen. Wenn sich die wirtschaftende Gemeinschaft dahin aufschwingen will, das Bruttosozialprodukt restlos in den Dienst der Versorgung aller mit den lebensnotwendigen und lebenserleichternden Mitteln zu stellen, wird sie nicht daran vorbeikommen, dem Geld jeden Eigenwert zu nehmen und ihm nur die Möglichkeit zu lassen, als Zeichenwert in paralleler Gegenbewegung zum Warenstrom seinen Weg zu nehmen. So ist es erst das adäquate begriffliche Gegenstück zu der durch Arbeit erzeugten vergänglichen Ware. Die letzte Möglichkeit, es der Zirkulation zu entziehen durch Horten, wird die wirtschaftende Gemeinschaft dadurch aus dem Wege räumen, daß sie den Zugang zum Tauschmittel nur für den begrenzten Zeitraum eines Monats freigibt. Indem der Erlös des gesamten in diesem Monat verkauften Bruttosozialprodukts wieder die Geldmenge ergibt, die umverteilt werden muß, damit sich der einzelne, jeder nach seiner Marktfreiheit, im nächsten Monat versorgen kann, entsteht eine regelmäßige Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Dies schließt ein, daß der Teil des Monatsgeldes, welches der einzelne nicht umgesetzt hat, in einem solchen bargeldlosen Verkehr ohne Umstände am Monatsende als Spargeld verbucht wird, das sofort zur Vorfinanzierung in der Produktion Verwendung findet.

Die Krisenverhältnisse machen es immer dringlicher, die Wirtschaftsanliegen aller assoziativ zu klären. Eine totale Umverteilung des Sozialprodukts schließt alle, Produzenten und Nichtproduzenten, ein. Sie sind in einer fortgeschrittenen, umfassenden arbeitsteiligen Wirtschaft elementar im Ökonomischen voneinander abhängig. Jede Mißachtung ihrer Interdependenz führt zur Minderung der Produktionsmöglichkeiten und Versorgungsgrundlagen. Den Schlüssel zur totalen Umverteilung des aktuellen Bruttosozialprodukts, den die Gemeinschaft findet, erübrigt jenen in all den vielen Ämtern, Versicherungen, Dienststellen uferlos angewachsenen Apparat des Sozialstaates, der in komplizierten Steuern, Beiträgen, Abgaben erst die Mittel zusammenbringt, die er dann unter Abzug der Kosten umverteilt. «Man könnte sich vielleicht ausrechnen», sagt Hans Achinger6, «wieviel wirksamere Leistungen möglich wären, falls alle Teile der sozialen Sicherung von der gleichen Technik gesteuert würden.» Der Endverbraucher, dem bisher schon in allen Preisen alle direkten und indirekten Steuern, Beiträge, Abgaben und außerdem die Amortisation und die Zinsen der zur Produktion eingesetzten Kapitalien angelastet wurde, wird unter solchen Voraussetzungen leichter durchschauen, was in den Preisen anteilmäßig enthalten ist: 1. Alimentation der Produzenten, 2. Rückzahlung der zur Vorfinanzierung der Produktion eingesetzten Leihgelder, 3. Versorgung der Nichtproduzenten 7. Letzteres wird eine nicht geringe Quote sein, aber sie wird keineswegs höher liegen als das, was derzeit in der Schweiz, in der Bundesrepublik oder in den Niederlanden an Umverteilungsanteil (nach links und rechts) in Endpreisen enthalten ist.

Wie aber soll der Produzierende sein Arbeitsmotiv finden, wenn der laufende Lebensunterhalt von der Berufstätigkeit abgekoppelt ist? Ralf Dahrendorf hat vor kurzem diese Frage zur Diskussion gestellt". Er verweist auf Tätigkeiten, die keine fremdbestimmte Arbeit enthalten, und nennt z. B. darunter «repräsentative Tätigkeiten, die von einzelnen sozusagen stellvertretend für die Welt, in der sie leben, vorgenommen werden». Wir möchten behaupten, daß auch in der wirtschaftlichen Produktion, die im Interesse der Gesamtversorgung engagiert ist, in mannigfaltiger Weise solche «repräsentative Tätigkeiten» veranlagt sind. Der vertriebene ostdeutsche Unternehmer, der seinen Betrieb mit Lastenausgleichskredit ohne bankübliche Sicherheiten entriert hatte, durfte seine Aktivität in solcher Weise werten und darin seine Arbeitsmotivation finden. Die Situation des Unternehmers in der assoziativen Gesellschaft wird nicht anders sein. Rudolf Steiner charakterisiert sie, wie folgt 9: Der Unternehmer «arbeitet eigentlich nur auf der einen Seite als Schuldner, und auf der anderen Seite haftet er als geistiger Schöpfer. Es ist sogar vielleicht eines der gesündesten Verhältnisse, wir müssen das besonders berücksichtigen in der sozialen Frage, wenn ein geistiger Arbeiter für die Allgemeinheit dadurch arbeitet, daß ihm die Allgemeinheit - denn für ihn ist es die Allgemeinheit - das Geld dazu gibt». - Der Wunsch des Menschen, mit seiner Lebensarbeit wenigstens um einige Zoll hinauszuragen über den engen Zirkel der Selbstversorgung und somit in eine größere Dimension hineinzuwachsen, ist untergründig vorhanden, wenn auch oft verschüttet. Der Sozialstaat hat aus einem Unterprivilegierten vielfach einen im Anspruchsdenken befangenen Kleinbürger gemacht. E. Noelle-Neumann erinnert in dem oben erwähnten Aufsatz daran, daß dort, wo geistige Interessen erweckt wurden, die über das selbstbezogene enge Sein hinauswachsen, die betreffende Persönlichkeit in ihrem Arbeits- und Freizeitzusammenhang in einem höheren Grade sich als Mensch geltend machen kann. Das ist es offenbar, was Dahrendorf anzuregen versucht, wenn er von «repräsentativer Tätigkeit» spricht.

«Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der andern befriedigt werden.» 20 So formulierte am Anfang unseres Jahrhunderts Rudolf Steiner das «soziale Hauptgesetz»; und er fügte einige Zeilen später hinzu: «In Wirklichkeit lebt das Gesetz nur so, wie es leben soll, wenn es einer Gesamtheit von Menschen gelingt, solche Einrichtungen zu schaffen, daß niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen kann, sondern daß diese möglichst ohne Rest der Gesamtheit zugute kommen... Worauf es also ankommt, das ist, daß für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien.» Es sind Restbestände des viktorianischen Lebensgefühls, die sich solchen Einsichten gegenüber verschließen wollen, obwohl jede neue Krise und Katastrophe in unserem Jahrhundert eine immer deutlichere Sprache sprechen. Solange aber solche Einsichten noch keine Geltung haben, wollen wir uns an John Meynard Keynes halten: «Die Hälfte der Schulbuchweisheit unserer Staatsmänner beruht auf Annahmen, die zu einer Zeit einmal wahr oder halbwahr gewesen sind, nun aber von Tag zu Tag immer weniger wahr werden. Wir müssen für ein neues Zeitalter neue Weisheit erfinden. Und in der Zwischenzeit müssen wir, wenn wir irgend etwas Gutes tun wollen, unorthodox auftreten, störend, gefährlich und ungehorsam gegenüber denen, die uns zeugten.» 21

Anmerkungen

1 John Meynard Keynes: «Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder» (1930); in dem Sammelband «Politik und Wirtschaft», Tübingen 1956.

2 J. M. Keynes: «Das Ende des Laissez-faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft», München 1926.

3 J. M. Keynes: «Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrags», München 1920.

4 Joan Robinson: «Die Akkumulation des Kapitals». Ullsteinbuch Nr. 2864,S. 26.

5 Machiavelli: «Discorsi», Stuttgart 1977, 5. 19.

6 A. Luschin von Ebengreuth: «Allgemeine Münzkunde und Geldgeschichte des Mittelalters und der neueren Zeit», München/Berlin 1904.

7 Joan Robinson, a.a.O., 5. 78. Siehe dazu auch Werner Hofmann «Sozialökonomische Studientexte», Band 3, Berlin o. J., S. 281.

8 J M. Keynes: «Das Ende des Laissez-faire». München 1926.

9 Rudolf Steiner: «Nationalökonomischer Kurs», Dornach 1979, 5. 89-93, 127-130 (GA 340).

10 «20 Jahre Lastenausgleich», herausgegeben vom Präsidenten des Bundesausgleichsamtes, Bad Homburg v. d. H., August 1969, 5. 102.

11 Elisabeth Noelle-Neumann: «Arbeit - was ist das?» FAZ vom 24. Nov. 1979, S. 15.

12 Aurelio Peccei: «Die Zukunft in unserer Hand», Wien/München 1981, S. 214 if.

13 Meinhard Miegel: «Die verkannte Revolution (1)», Stuttgart 1983, S.79.

14 Meinhard Miegel a.a.O., 5. 79.

15 Rudolf Steiner: «Nationalökonomischer Kurs», Dornach 1979, 14. Vortrag, 5. 203 (GA 340).

16 Hans Achinger: «Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik», Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. 1979, 5. 61.

17 R. Steiner, a.a.O., 5. 96.

18 Heik Afheldt/Peter G. Rogge (Hrsg.): «Geht uns die Arbeit aus?», Stuttgart 1983, 5. 32 if.

19 R. Steiner, a.a.O., 5. 59.

20 R. Steiner: «Geisteswissenschaft und soziale Frage», Dornach 1968, 5. 34 f. (auch in GA 34).

21 J M. Keynes «Politik und Wirtschaft», Tübingen u. Zürich 1956, S.254.