Ist die Dreigliederungsidee begraben?

Zum Verständnis eines 20-jährigen Instituts-Impulses

Quelle
Zeitschrift „Rundbrief der Bücherei für Geisteswissenschaft und Soziale Frage“
Nr. 19, August 1982

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Bibliographische Notiz

Für die meisten Zeitgenossen ist die Idee der Dreigliederung, wie sie Rudolf Steiner für den sozialen Organismus der Gegenwart und Zukunft entdeckte, eine Unbekannte. Der überwiegende Teil der Anthroposophen kümmert sich nach wie vor nicht um sie, weil sie „politisch gescheitert“ sei. Für einen kleinen Kreis von Gegenwartsmenschen, die sich mit dem Studium der Geisteswissenschaft befassen, ist sie wegen ihrer lebenspraktischen und sozialen Konsequenzen hingegen der Angelpunkt der Anthroposophie. Aus diesem Kreis stammten wohl auch diejenigen, die im Februar 1963 in Berlin eine Institution ins Leben riefen, die sich mit der Ausarbeitung und Darlegung dieser Idee forschend und lehrend auseinandersetzen sollte: das Institut für soziale Gegenwartsfragen e.V. Was ist daraus geworden?

Wie schon im vergangenen Jahr (1.-3. Mai 1981) hat das Institut, das seit 1975 in Freiburg arbeitet, seine tätigen Mitarbeiter und Förderer zu seminaristischer Arbeit und Aussprachen eingeladen (17.-20.Juni 1982). In diesem Jahr war der Teil der gemeinsamen Beratungen, der sich mit der Zukunft der Institutsarbeit befasste, besonders ausführlich und intensiv. Hierzu waren den Teilnehmern zur Vorbereitung die Fallstudie 13 und das Heft „Bausteine einer sozialen Zukunft 3/82“ in die Hand gegeben worden.

Eine Frage, die aus den letztjährigen Diskussionen mit herübergenommen wurde und auch diesmal wieder anklang: aufhören oder weitermachen? Kann in der gegenwärtigen Lage Europas und der Erde überhaupt noch etwas in Freiheit für die Gesundung des sozialen Organismus getan werden, nachdem die Chancen für eine Neuorientierung der sozialen Strukturen 1917, 1919-21 und 1945 vertan worden sind?

Eine teilweise Antwort auf diese Frage lag bereits in der Gründung des Instituts 1963, hervorgegangen aus der Gruppe 58 in Berlin, eingekeilt zwischen den ideologischen Blöcken und Herrschaftssystemen. So war es folgerichtig, dass eines der ersten Themen, die das Institut anpackte, die Frage der Verfügungsberechtigung über Produktionsmittel (einschließlich Grund und Boden) war. Die erste Veröffentlichung: „Das Eigentum an den Produktionsmitteln“ (Vorwort: Folkert Wilken, Verfasser: Hans-Georg Schweppenhäuser, Berlin 1963) führt aus, was in Steiners Buch „Die Kernpunkte der soziale Frage...“(1919) gedrängt in wenigen Passagen zur sozialen Zirkulation der Produktionsmittel gesagt ist, und verifiziert es an der heutigen Zeitlage.

Die Tragweite dieser neuen Gedanken zur Eigentumsfrage und damit zur Überwindung des Lohnverhältnisses wird von weiteren Kreisen erst noch entdeckt werden. Von hier ausgehend richteten sich die Arbeiten folgerichtig auf die assoziative Wirtschaftsordnung und die dreigliedrige Geldordnung. Dazu gesellten sich die sozialwissenschaftliche Schriftenreihe „Das soziale Rätsel“ mit inzwischen 14 Heften methodologischen und geschichtlichen Inhalts sowie bis jetzt 13 Fallstudien. Die Veröffentlichungen stehen fast ausnahmslos unter der Autorenschaft Schweppenhäusers.

Will man die Quintessenz seiner Ausarbeitungen fassen, so sind sie vielleicht in folgender Passage enthalten, die man in „Bausteine für eine soziale Zukunft“ Heft 3/82 von Schweppenhäuser findet: „Es ist ja immer nur derselbe einfache Gedankengang, der für das soziale Bewusstsein eine umwälzende Bedeutung hat: Man müsste zuerst die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln so ändern, dass das damit gegebene Verfügungsrecht, Sach- und Fachkenntnisse in sozialer Richtung in Bewegung bringt und soziale Erfahrungen und soziale Betätigungen damit verbunden werden können. Dann folgt von selbst der zweite Schritt: Wo jetzt individualistisch orientierte und handelnde Verbände sind, werden dann Assoziationen entstehen, sobald dieser assoziative Gedanke unter den veränderten Eigentumsverhältnissen auftaucht. Und er muss dann von selbst auftauchen. Selbst die Geldordnung kann danach „organische Vernunft“ dank ihrer Dreiheit der Geldkategorien annehmen, ohne dass es dafür dann großer wissenschaftlicher Anstrengungen und äußerer Veränderungen bedarf. Es darf nur wie im Falle der Produktionsmittel auch keine Vererbbarkeit von Kapital nach einer bestimmten Zeit mehr geben und damit keine Akkumulation von reinem Finanzkapital. Das ist alles!“

Ist das nicht utopistisches Denken reinsten Wassers? Also genau dasjenige, wovor Steiner noch 1919 in der Vorrede und Einleitung zum 41.-80. Tausend der „Kernpunkte“ warnte: „Man kann annehmen, irgend jemand wäre im Besitze einer vollkommenen theoretischen ‚Lösung‘ der sozialen Frage, und er könnte dennoch etwas ganz Unpraktisches glauben, wenn er der Menschheit diese von ihm ausgedachte ,Lösung` anbieten wollte. Denn wir leben nicht mehr in der Zeit, in welcher man glauben soll, auf diese Art im öffentlichen Leben wirken zu können. Die Seelenverfassung der Menschen ist nicht so, dass sie für das öffentliche Leben etwa einmal sagen könnten: Da seht einen, der versteht, welche sozialen Einrichtungen nötig sind; wie er es meint, so wollen wir es machen. In dieser Art wollen die Menschen Ideen über das soziale Leben gar nicht an sich herankommen lassen.“

Ich muss gestehen, dass mir diese Gefahr utopistischen bzw. programmatischen Verstehens von Schweppenhäusers Forschungsbeiträgen in den Jahren meiner Institutszugehörigkeit sehr oft begegnete. Aber nur scheinbar herrschen die im Zusammenhang mit der Institutsarbeit veröffentlichten „Lösungen“ vor. Als solche fertigen Einrichtungen müssen sie demjenigen erscheinen, der seine Denkungsart im Erfassen des Ganzen noch nicht bis ins konkrete Einzelne vorantreiben kann. Das noch unverwandelte, punktuelle Beobachtungsvermögen neigt dazu, inhaltliche Bemerkungen aus dem Zusammenhang ihrer Entstehung und Hinweisung zu reißen und die in ihnen verborgenen Übungsmöglichkeiten umzukehren.

Vielleicht kann dies veranschaulicht werden an einer Bemerkung Rudolf Steiners während des internationalen Kongresses in Wien im Juni 1922, wo er am 11.6.22 darauf eingeht, wie er erleben musste, wie seine Schrift zur sozialen Frage im Grund missverstanden worden sei. „So hat man namentlich vielfach dasjenige, was ich eigentlich nur zur Illustration der Hauptsache gegeben habe, für die Hauptsache selbst genommen. Ich musste, indem ich versuchte darzustellen, wie die Menschheit zu einem sozialen Denken, Fühlen und auch Wollen kommen können, dies zum Beispiel daran illustrieren, wie möglicherweise die Kapitalzirkulation so umgewandelt werden könnte, dass sie von vielen Menschen nicht in der Weise drückend empfunden werde, wie dies in der Gegenwart vielfach der Fall ist. Ich musste das eine oder andere über Preisbildung, über den Wert der Arbeit und dergleichen sagen. Aber dies eigentlich nur zu Illustration.“ (Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit, GA 83)

Wer also sein Begriffsvermögen in der Abstraktion belassen will und für sein Handeln Programme sucht, der greife nicht zu Steiners Texten und denen des Instituts. Sie möchten gerade herausführen aus diesem Denkverhalten. Eine Probe aufs Exempel kann in den am Schluss dieses Briefes gegebenen Litweraturvorschlägen gesucht werden. Umzudenken, wie es die Tatsachensprache heute von jedem fordert, kann eben kein frommer Vorsatz bleiben, sondern ist Schwerarbeit. So waren sich die in Freiburg im vergangenen und in diesem Jahr Versammelten darin einig, dass nicht etwa Steiners „Kernpunkte“ neu zu schreiben seien, sondern aus der Zeitlage heraus neu zu lesen und zu verstehen. Hierfür gibt es reichlich Hilfestellungen in den Veröffentlichungen des Instituts. Besprochen wurde jedoch auch, wie die Frage der Didaktik und der Wege der Vermittlung gerade deswegen so brennt, weil die konkreten Ergebnisse leicht als Programmatik missverstanden werden können. Wohl sind verwandelte soziale Einrichtungen notwendig, nicht nur neue Gesinnungen! Jedoch ist der Weg dorthin erworbene Willensfreiheit. Folglich wendet sich das Institut nicht an den äußeren Willen, der neue Einrichtungen schaffen soll, sondern an die Einsicht der Zeitgenossen in Form von Erkenntnishilfen.

Für die hiermit angeschnittenen Fragen hat sich ein Arbeitsausschuss gebildet (Kontakt: Heidjer Reetz c/o Institut für soziale Gegenwartsfragen e.V., Prinz-Eugenstr. 16, D7800 Freiburg).)Desgleichen ist ein Ausschuss im Entstehen, der die Förderung und Zukunft des Instituts sichern soll (Kontakt: Stefan von Möller, ebenfalls über das Institut)

Literaturvorschläge

Renate Riemeck, Mitteleuropa - Bilanz eines Jahrhunderts, 2. Aufl. Freiburg 1982 (Erscheint im April 1983 als Fischer Taschenbuch 5527) (Ein unentbehrliches Buch zur historischen Würdigung des Dreigliederungsimpulses und der Folgen seiner Unterdrückung)

Hans-Georg Schweppenhäuser, Das kranke Geld, Stuttgart 1971. Restauflage stark verbilligt beim Institut erhältlich. (Erschienen im Dezember 1982 als Fischer TB 5523) (Eine gründliche sozialgeschichtliche Studie des Geldwesens und Einführung in den dreigliedrigen Geldorganismus als Voraussetzung eines freien Kulturlebens und einer sozialen Wirtschaft)

Hans-Georg Schweppenhäuser, Das Eigentum an den Produktionsmitteln. Berlin 1963. Vorwort Folkert Wilken (Eine Ausarbeitung der Eigentumsrechtssubstanz an Produktionsmitteln und Grund und Boden).

Fallstudie 13: Am Ende der Wachstumswirtschaft. Institut für soziale Gegenwartsfragen e.V. Freiburg 1982

Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und soziale Frage. 5. Aufl. Dornach 1982. (Drei Aufsätze aus den Jahren 1905/06, in denen Steiner u.a. das soziale Hauptgesetz entwickelt)

ders., Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft. Taschenbuchausgabe, Dornach 1980. (Steiner im Vorwort: „Aus der Beobachtung des Lebens heraus sind die Ideen dieser Schrift erkämpft; aus ihr heraus möchten sie auch verstanden sein.“)

ders., Nationalökonomischer Kurs. 5. Aufl., Dornach 1979 (Vierzehn Vorträge für Studenten der Nationalökonomie, 1922. Hierzu gibt es noch ein Bändchen mit sechs ergänzenden Seminarveranstaltungen.)