Meditativ erarbeitete Menschenkunde und soziale Dreigliederung

01.01.1978

Quelle
Zeitschrift „Das Goetheanum“
57. Jahrgang, Nr.2/1978, S.9–11

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Bibliographische Notiz

In demselben Jahre, in dem Rudolf Steiner seine Vorträge zur Neugestaltung des sozialen Organismus durch eine Gliederung in drei eigenständig zusammenwirkende Bereiche zu veröffentlichen begann, öffnete auch die Freie Waldorfschule in Stuttgart ihre Pforten. Die in ihr entwickelte Erziehungskunst hat seither eine wachsende Anerkennung und Ausbreitung erfahren. Lässt sich im Hinblick auf das durch soziale Dreigliederung Gewollte in einem ähnlichen Sinne von einer neuen sozialen Kunst sprechen, wie Rudolf Steiner von dem in der Waldorfschule Gewollten als von einer neuen Erziehungskunst sprach?

Die in der Waldorfschulbewegung gepflegte Unterrichtspraxis macht es sich zur Aufgabe, den in der Natur des heranwachsenden Menschen verborgen lebenden Kräften einen ihnen gemässen Weg in die Erdenwelt zu bahnen. Dabei ist es nun für den Zusammenhang der vorliegenden Ausführungen von besonderer Bedeutung, dass das Fundament dieser Erziehungskunst nicht aus diesen oder jenen Regeln oder Prinzipien des Unterrichtens besteht, sondern aus einer Menschenkunde des werdenden Menschen, die, meditativ vom Lehrer verarbeitet, diesen in ein pädagogisch fruchtbares Verhältnis zu den in seinen Schülern noch schlummernden Anlagen und Fähigkeiten bringt. [*]

Liesse sich auch für die auf sozialem Felde zu entwickelnde Praxis eine Menschenkunde auffinden, deren meditative Er-

arbeitung diesen Bemühungen ebenso zugrunde gelegt werden kann, wie die Menschenkunde des werdenden Menschen den Bemühungen auf pädagogischem Felde? Gibt es einen Weg zur dreigliedrigen Gestaltung des sozialen Organismus, auf dem der Mensch danach strebt, sich durch eine meditativ zu erarbeitende Menschenkunde für die von der jeweils konkreten sozialen Situation erforderten Gestaltungsintuitionen erst reif zu machen? Die folgenden Gedanken möchten zu einer Antwort auf diese Fragen beitragen.

In dem Beitrag Wie wir durch unsere !Menschennatur mit anderen Menschen verbunden sind (Nr. 26/1977 dieser Wochenschrift) wurde ausgeführt, wie der Mensch durch seine un-, mittelbare Menschennatur selbst auf dreimal verschiedene Weise – als ein fähiges, als ein bedürftiges und als ein mündiges Wesén – zu anderen Menschen in Beziehung tritt. Dabei sind wir z. B. als «Fähigkeitswesen» nicht nur zumeist mit ganz anderen Menschen verbunden denn als «Bedarfswesen», sondern diese Verbundenheit ist vor allem vollständig anderem Art. Und wieder in anderer Art sind wir als «mündige» Wesen mit anderen Menschen verbunden. Stellen wir uns diese Verschiedenartigkeit nochmals vor Augen.

Was uns als Fähigkeitswesen mit anderen Menschen zusammenführt, stellt sich beispielsweise in der beruflichen oder ausserberuflichen Zusammenarbeit dar. Gewiss, in der industriellen Arbeit anders als etwa beim Aufbau eines Kindergartens oder der Mitwirkung in einem Blasorchester. Immer aber sind wir, um unsere Fähigkeiten. unsere Begabungen, unsere Kräfte dabei für das menschliche Leben fruchtbar werden zu lassen, auf das Zusammenwirken mit den Kräften und Fähigkeiten anderer angewiesen.

Dieser in dem Menschen als einem befähigten Wesen gründenden, in der gemeinsamen Arbeit sich auslebenden Menschenbeziehung steht eine solche gegenüber, die im Menschen als einem Bedarfswesen begründet ist. Alles, was sich vom einfachsten, sogenannten «materiellen» Bedarf wie Nahrung, Kleidung und Wohnung bis zum Bedürfnis nach seelisch-geistiger Anregung auf wissenschaftlichem, künstlerischem und religiösem Felde am Menschen beobachten lässt, kommt hier in Betracht. Diese Art der Menschenbeziehung lebt sich in der gegenseitigen Befriedigung dieser Bedürfnisse, in der Deckung dieses Bedarfes aus.

Weder seine Zusammenarbeit mit anderen noch seine Bedarfsbefriedigung durch andere überlässt der Mensch jedoch dem Zufall. Als mündiges Wesen vereinbart er viel mehr die wechselseitigen Rechte und Pflichten, die damit verbunden sind, was sich einerseits in Arbeitsverträgen, Lieferverträgen usw. niederschlägt, andererseits dazu führt das menschliche Leben durch Gesetze, von der Strassen verkehrsordnung bis zum Völkerrecht, zu gestalten.

Wie die volle Vielfalt der Farbenwelt sich in gewisser Hinsicht auf die Einfachheit dreier Grundfarben zurückführen lässt, so stellt sich uns auf diesem Wege die ganze Vielgestalt der sozialen Welt als das mannigfaltige Muster eines Gewebes dar, das aus drei grundsätzlich verschiedenen Arten sozialer Beziehungen gewoben ist. Jede von ihnen ist in einer anderen Seite der Menschennatur begründet. Wie wir noch sehen werden, wird der soziale Organismus durch diese drei Seiten der Menschennatur bzw. durch die in ihnen verankerter drei Arten von Menschenbeziehungen verborgen zu einer Gliederung in drei verschiedene soziale Lebensbereiche veranlagt. Und wie es die Aufgabe der anthroposophisch orientierten Erziehungskunst ist, das im Kinde verborgen Veranlagte durch den pädagogischen Prozess offenbar zu machen, so ist es auch die Aufgabe der sozialen Dreigliederung, das im sozialen Organismus zunächst als Anlage Verborgene durch sozial-künstlerische Gestaltungsprozesse sichtbar werden zu lassen.

Für diese verborgene «Anlage» des sozialen Organismus zur Dreigliederung ist es von Interesse, dass sie in der Gliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist urständet, aber – und dies muss sorgfältig beachtet werden – so, dass dabei stets der ganze Mensch in Betracht kommt. Denn in jeder der drei angezeigten Seiten -der Menschennatur tritt jeweils der ganze Mensch vor uns hin:

  • Insofern der Menschengeist das seelische und geistige Wesen des Menschen als «Werkzeug» gebraucht, um tätig in das Erdenleben einzugreifen, steht der Mensch als Fähigkeitswesen vor uns.
  • Insofern dagegen sein geistiges und seelisches Wesen in die «Bedürftigkeit» des Menschenleibes einbezogen ist, wird er uns als Bedarfswesen anschaubar.
  • Und insofern die selbständige Menschenseele aus sich heraus das Leben im Zusammenhang mit dem «ordnen» möchte, was auf diese Weise aus dem Wesen des Geistes wie des Leibes erfliesst, erkennen wir ihn als mündiges Wesen an.

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Ein anderer Ansatz wurde in dem Beitrag Menschenbegegnung als soziales Urphänomen (Nr. 38/1976 dieser Wochenschrift) gesucht. Er führte nicht zur Erfassung des Menschenwesens nach Leib, Seele und Geist in der angedeuteten Dynamik, sondern schaute auf die differenzierten Rhythmen hin, die sich aus der Erfassung des Menschen nach den vier Wesensgliedern, dem physischen Leibe. dem Atherleibe. dem Astralleib und dem Ich ergeben. Geburt und Tod, Wachen und Schlafen. Antisozialität und Sazialität erschienen uns im Bilde einer dreifachen Atembewegung.

Blicken wir zunächst auf den rhythmischen Wechsel zwischen Inkarnation und Exkarnation im Sinne der wiederholten Erdenleben. «Lunge» ist hier der dem irdischen Vererbungsstrom entstammende physische Leib; «Atemluft» das individuelle, im Inkarnationsstrom zur geistig-seelisch-ätherischen Einheit sich bildende und im Exkarnationsstrom sich entbildende Menschenwesen. Dieser lange, alles Menschenleben durchwebende Rhythmus des wiederholten Erdendaseins wird jedoch innerhalb der Spanne, die unser gewöhnliches Bewusstsein umgreift, von einem kürzeren Rhythmus durchzogen: dem zwischen Schlafen und Wachen. Was wir ais Aufwachen und Einschlafen durchmachen, lässt uns in anderem Sinne «Atemwesen» sein als Inkarnation und Exkarnation. Der Lunge entspricht hier der auch während des Schlafes vom Ätherleib durchdrungene physische Leib: der ein- und ausströmenden Atemluft jedoch Astralleib und Ich, insofern diese sich aus dem belebten Leibe herausheben und wieder in ihn eintauchen.

Für das Verständnis sozialer Prozesse ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass die anthroposophische Menschenkunde noch einen dritten solchen «Atemrhythmus» kennt. Bei ihm lässt sich das ganze, aus dem physischen, ätherischen und astralischen Leibe bestehende Hüllenwesen des Menschen mit der Lunge vergleichen, mit der ein- und ausgeatmeten Luft aber allein sein Ich-Wesen. Ausströmend verbindet sich dabei das Menschen-Ich mit der Welt; einströmend sucht es festen Halt in der eigenen Hüllenorganisation. Dieser Charakter ist es, den der Mensch nun auch in das Zusammenleben mit anderen Menschen hineinträgt. Indem er sich seinen Mitmenschen öffnet, kommt er als Eigenwesen von sich los; indem er sich auf sich selber zurückzieht, verschliesst er sich seinen Mitmenschen gegenüber. Er ist insofern zugleich ein soziales als auch. ein antisoziales Wesen. Genauer: Sozialität und Antisozialität wechseln miteinander ab. wobei augenfällig ist, dass dieser Rhythmus nicht nur ungleich rascher verläuft als die beiden anderen, sondern - und das ist für die weitere Betrachtung von entscheidender Wichtigkeit - er unterliegt in weit höherem Masse als sie dem bewussten Wollen des Menschen.

Wie aber - diese Frage stellt sich, wenn man die beiden hier nochmals skizzierten Grundgedanken des anthroposophischen Menschenbildes zusammenschaut - greift dieser Rhythmus von Sozialität und Antisozialität in das oben gekennzeichnete Gewebe dreimal verschiedener Menschenbeziehungen ein?

Blicken wir zunächst auf die Entfaltung der Antisozialität. Indem das Ich-Wesen, sich zusammenziehend, die eigene astralische Organisation ergreift, wird das von dieser Organisation entzündete Bewusstsein zum Selbstbewusstsein gesteigert. Daher kann es nicht ausbleiben, dass in einer Zeit, in der es die Aufgabe des Menschen ist, die auf sich gestellte Persönlichkeit auszubilden, dieser Tendenz eine besondere Bedeutung zukommt. Damit aber steht zugleich im Vordergrund, was mit dem eigenen Einkommen, der eigenen rechtlichen Position, der eigenen Karriere usw. verknüpft ist, während die entsprechenden Angelegenheiten aller oder doch fast aller anderen Menschen in den Hintergrund gedrängt werden.

Für das oben aufgezeigte, in der dreifachen Menschennatur selber begründete Gewebe sozialer Beziehungen bedeutet das Eingreifen dieser antisozialen Tendenz daher eine fortschreitende Schwächung seiner lebendigen Tragfähigkeit. Was sich beispielsweise als selbständige Zusammenarbeit einer Gruppe von Menschen entfalten sollte, verliert etwa durch die Bindung an bürokratische Durchführungsbestimmungen an Verantwortlichkeit und Leistungskraft. Was als Vereinbarung die gegenseitigen Rechte und Pflichten gestalten sollte, erhält durch vorwaltende Antisozialität einen gar nicht mehr auf Ausgleich von Interessen bedachten Charakter, sondern einen solchen, der auf die Ausbildung von Machtpositionen abzielt, die jedoch für den anderen Partner notwendigerweise Zwangspositionen darstellen. Oder was etwa als Warenangebot der Befriedigung von Bedürfnissen anderer dienen sollte, richtet sich auf diese Weise immer weniger nach dem, was tatsächlich gebraucht wird, sondern danach, womit sich der grössere finanzielle Gewinn machen lässt.

Ein anderes ist jedoch der Mensch, der die auf sich selbst gestellte Persönlichkeit sucht, und ein anderes der, der sie in sich gefunden hat. Letzterer kann die so erworbene Selbständigkeit dazu gebrauchen, sich dem anderen Menschen wiederum bewusst zuzuwenden. Sozialität entsteht dann als freie Leistung des seiner selbst inne gewordenen Menschenich. Wie ergreift diese entgegengesetzte Ich-Bewegung das soziale Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsfeld?

Gehen wir noch einmal die angedeuteten sozialen Situationen durch: Dort, wo es sich um Befriedigung eines im anderen vorliegenden Bedarfes durch zu liefernde Waren handelt, wird dann der Mensch nicht mehr der Versuchung unterliegen, dem anderen etwas aufzudrängen, was dieser

nur beschränkt oder gar nicht brauchen kann, sondern er wird danach streben, diesen Bedarf genau kennenzulernen und seine Anstrengungen darauf richten, das Gebrauchte zu beschaffen. Oder er wird dort, wo es sich um den Abschluss von Vereinbarungen oder Verträgen handelt, nicht die darin festzufegenden Pflichten und Rechte über den Kopf seines Verhandlungspartners hinweg zu bestimmen suchen, sondern ihn dadurch als ebenbürtigen Partner anerkennen,' dass er mit ihm zusammen einen fairen Ausgleich der beiderseitigen Interessen anstrebt. Oder er wird schliesslich dort, wo es sich um den gemeinsamen Einsatz von Fähigkeiten, z.B. in der beruflichen Zusammenarbeit, handelt, es seinen .Mitarbeitern – soweit diese dazu bereit und in der Lage sind – überlassen, wie sie ihre Arbeit organisieren wollen bzw. welchen Weg sie zur Lösung der gestellten Aufgabe einschlagen wollen. Die Erfahrung zeigt, dass eine so verstandene Sozialität die lebendige Tragfähigkeit des gekennzeichneten sozialen Beziehungsgewebes fortwährend verstärkt.

Für den hier aufzuzeigenden Zusammenhang kommt dabei vor allem in Betracht, dass diese Verstärkung nicht nur dadurch geschieht, dass sich das Menschen-Ich jedesmal dem anderen Menschen zuwendet, sondern dass es dies auf

dreimal verschiedene Weise vollzieht. Denn je nach dem, ob der andere Mensch als Bedarfswesen, als mündiges Wesen oder als Fähigkeitswesen vor uns steht, sehen wir uns auch in dieser Beziehung vor eine andere Aufgabe gestellt. Die im Sinne dieser neuen Sozialität zu erbringende Ich-Leistung ist jedesmal eine andere, je nach dem, ob es sich dabei um das Gebiet der Zusammenarbeit, der rechtlichen Vereinbarung oder der Bedarfsbefriedigung handelt. Das aber heisst, dass das Menschen-Ich, wenn es bewusst an der Erneuerung der menschlichen Gesellschaft mitarbeiten will, jene über sich selbst hinausgreifende Initiative selber dreifach nach den Aufgaben gliedern muss, die durch das gesellschaftliche Leben an den Menschen herantreten.

Wer versucht, sich in die damit angezeigte dreifache «Atembewegung» des Ich einzuleben, gewinnt in der Besinnung auf das Gelingen wie das Misslingen solcher Versuche einen neuen Inhalt für jene drei Worte, die zusammen die Devise der Französischen Revolution ausmachen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Er fängt an, aus eigener Erfahrung kennenzulernen, in welchem Sinne gegenüber dem Menschen als Bedarfswesen Brüderlichkeit, gegenüber dem Menschen als mündigem Wesen Gleichheit und gegenüber dem Menschen als Fähigkeitswesen Freiheit zur sozialen Praxis werden müssen. Und er beginnt, eine erste, noch keimhafte Anschauung davon auszubilden, auf welche Weise sich das in jenen drei Seiten der Menschennatur im sozialen Organismus verborgen Veranlagte dadurch zu den drei Gliedern des gesellschaftlichen Lebens entwickeln lässt, dass jedes von ihnen von einer anderen dieser Ich-Bewegungen her seine Ausgestaltung erfährt. Denn Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit bilden, so verstanden, selber die sozial-künstlerischen Kräfte, aus denen die dreigliedrige Gestalt des sozialen Organismus entsteht.

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Lassen sich die in den beiden früher veröffentlichten Beiträgen skizzierten und hier anfänglich zusammengeführten Grundgedanken der Anthroposophie als Elemente einer Menschenkunde betrachten, die, meditativ erarbeitet, uns helfen, die von Rudolf Steiner vorgeschlagene Dreigliederung des sozialen Organismus zu entwickeln? Diese Frage kann nur durch den lebendigen Versuch beantwortet werden, solche Elemente der anthroposophischen Menschenkunde als einen Schulungsweg aufzufassen, der dazu führt, das in der menschlichen Gesellschaft zu dieser Gliederung Veranlagte zu entdecken und durch sozial-künstlerische Gestaltung im Leben dieser Gesellschaft tragfähig zu machen. Welche Erfahrungen jemand gemacht hat, der versucht, auf diesem Wege ein Stück weit voranzukommen, davon soll später berichtet werden.

Anmerkungen

[*] Vgl. dazu Rudolf Steiner: Meditativ erarbeitete Menschenkunde, 1920.