Sozial und unsozial
Versuch zur Bestimmung der Grundphänomene einer Rechtswissenschaft

01.01.1977

Quelle
Zeitschrift «Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus»
18. Jahrgang, Heft 28 [29] (Sonderheft), Januar 1977, S. 2–35
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung

«Wenn man einen offenen Sinn dafür hat, den Menschen im Zusammenhang mit dem Weltenganzen anzuschauen, dann werden in uns auch diejenigen Gedanken erweckt, welche in die ethische, in die juristische Weltbetrachtung hineinführen, die in Wirklichkeit die höchste sein soll ... »

Rudolf Steiner (GA 181/2)

  1. Was ist sozial?
  2. Das Antisoziale
  3. Das Asoziale
  4. Vom Wesen des Sozialen
  5. Das Recht zwischen Wirtschafts- und Geistesleben
  6. Recht und Gesetz
  7. Mensch und Gesellschaft

I. Was ist sozial?

Über die soziale Frage zu sprechen ist heute schon beinahe alter Zopf. In unserem modernen Wohlfahrtsstaat sorgen Sozialgesetze dafür, dass die Unbilden des Lebens (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität) den Bürger nicht um das tägliche Brot bringen und für die Grenzfälle – für die Leute, die unter die Räder zu kommen drohen, für die nicht oder weniger Anpassungsfähigen (die sogenannten Asozialen) – haben wir spezielle Fürsorgeämter. Das, was im 19. Jahrhundert als soziale Frage drohend in das Bewusstsein der Menschheit rückte, bezieht sich heute, so darf man wohl die allgemeine Meinung wiedergeben, eigentlich nur noch auf die Entwicklungsländer. Die Massenmedien trichtern es uns auch alltäglich ein: das Elend ist weit weg; bei uns ist alles in bester Ordnung ; und sollten sich wirklich einmal Unstimmigkeiten unüberhörbar gemacht haben, dann geht es um Gastarbeiter, um einzelne Kriminelle oder um ein paar von Moskau oder Peking bezahlte Burschen, die man ganz hart anpacken soll.

In der Fachpresse allerdings, die manchmal bis in die Spalten unserer Tageszeitungen durchklingt, wird die Situation anders beurteilt – und folgerichtig werden die ‹Intellektuellen›, die es besser wissen wollen als der gesunde Bürgerverstand, in den Sensationsblättern verunglimpft. In Amerika kam der Name eggheads für Roosevelts Experten und anschliessend für alle Gelehrten in Schwang, allerdings nur insofern sie nicht den optimistischen und patriotischen Standpunkt vertreten. In den Niederlanden hat das Sensationsblatt Nr. 1, De Telegraaf, die Bezeichnung ‹Doktorand der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften› als Schimpfwort eingebürgert und in anderen westlichen Ländern dürfte es kaum anders sein.

Man spricht laut über eine soziale Marktwirtschaft, über ein soziales Erziehungssystem usw. Aber dieses Wort ‹sozial› ändert nichts an der Wirklichkeit. Im Gegenteil. Je mehr man von unserem sonnigen Sozialklima träumt, desto unzufriedener und ausgestossener muss man sich ja fühlen, weil man sich der allgemeinen Glückseligkeit keineswegs teilhaftig fühlt. Dann wird es nur zu verständlich, dass man das versprochene Glück in sich selber sucht und zwar in dem, was man an Lustgefühlen aus seinem Leib herauspressen kann: Sex, Sensation, Macht. Die Tragik ist nur – wie jeder Psychologe weiss und wie jeder Mensch immer wieder erfahren muss – dass danach die Einsamkeit und die Leere umso bedrückender sind. Je nach Veranlagung wird man dann zum aggressiven Spiessbürger, zum regelmässigen Besucher des Psychiaters oder zum Süchtigen, der in seinem Wahn die Gesellschaft und sich selbst endlich los wird.

Sollte die soziale Frage vielleicht doch noch nicht ganz gelöst sein? Sollte sich die Problematik etwa nur ein wenig verschoben haben? Könnte es sein, dass an die Stelle des sichtbaren Kapitalisten, der den Arbeiter ausbeutete und dessen Kinder in Hunger und Krankheit trieb, ein unsichtbarer Ausbeuter getreten ist, der ständig unsere Nasen beleidigt, unsere Ohren betäubt, uns das Wasser wegnimmt, um dafür eine undefinierbare Flüssigkeit durch die Leitungen zu pressen, der die Luft und den Boden vergiftet, der der Nahrung den Geschmack nimmt und unseren Vergnügungen die Freude? Wer hat denn heute noch wirklich Kontakt zu seinen Mitmenschen? Da hilft auch der amerikanische geschäftstüchtige Makler nicht, der ‹Häuser mit passendem Freundeskreis› anbietet. Die Briefschreiber der Romantik, die auf jede Gefühlsschattierung des andern tief eingingen, mögen uns lächerlich

Seite 2

erscheinen – aber wie soll man soziologisch einen ‹sensitivity training› beurteilen? Hat man je die Langeweile erlebt von jungen Menschen, die zusammensitzen und – schweigen? Ab und zu fällt dann ein Wort, ohne Zusammenhang, ohne Inhalt oft, das etwas wie eine Seelenstimmung wiedergibt – so wie z.B. Vögel ihre Stimmen nuancieren je nachdem sie Nahrung gefunden haben, paarungsbedürftig sind oder die Katze herumschleichen sehen. Ist es nicht bedeutungsvoll, dass die immer wieder geforderte ‹Diskussion› wirklich ein Auseinanderschneiden ist, d.h. dass jeder seine Meinung sagt, ohne auf die des andern einzugehen? Weiss nicht jeder Lehrer, dass es von Jahr zu Jahr schwieriger wird, Gedanken zu übertragen? Dass die Aufnahmefähigkeit für das, was der Mitmensch äussert, beinahe den Nullpunkt erreicht hat? Könnte man nicht fast Heimweh bekommen nach dem proletarischen Solidaritätsgefühl, nicht sozial zwar, weil es dem Klassen kampf entsprang, aber doch wenigstens tröstend im Elend?

Damit sind wir aber im Kern der sozialen Frage. Denn was ist denn eigentlich sozial? – Wir kennen sie alle, die schon etwas alternde Dame, die immer bereit ist, die Kinder zu hüten, in der Küche zu helfen, die Blumen zu giessen. Vielleicht tut sie es wirklich, weil ihre hilfsbereite Seele ein menschliches Bedürfnis entdeckt; vielleicht aber auch, weil sie selber ein Bedürfnis hat: nach Wärme, nach Anerkennung. – Ich habe einen guten Bekannten, der für sehr sozial gilt und der die aussergewöhnliche Eigenschaft besitzt, ziemlich ehrlich zu sein. So sagte er mir einmal: «Ich will gerne von jedem nett gefunden werden und danach benehme ich mich». Das ist natürlich gar nichts Unanständiges. Im Gegenteil. Nur sollte man es nicht mit sozial verwechseln.

Und dann kennen wir gewiss auch den anderen Kauz. Er weiss in jeder Situation Rat und gibt ihn, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Durchweg tut er es ungefragt und ohne sich erst nach der genauen Sachlage bei dem Ratbedürftigen zu erkundigen. Sollen wir ihn, der so königlich mit seinen Geistesgaben streut, sozial nennen? Bestimmt nicht.

Was endlich ist dann doch ‹sozial›? Theoretisch ist das wohl zu sagen, ziemlich einfach sogar: sozial ist, die Not des Mitmenschen zum Motiv seines Handelns machen, wobei es gleichgültig ist, ob es um eine geistige oder physische Not geht. Aber gibt es so etwas überhaupt? Lehrt uns nicht der Sozialdarwinismus, dass des Menschen einziges Motiv (persönlicher oder Gruppen-) Egoismus ist? Und baut nicht gerade darauf die Politologie ihren Staatsgedanken, der unsere Egoismen in Schranken halten muss?

Nun ist dieser wissenschaftliche Standpunkt nur all zu verständlich, fördert doch die Psychologie eigentlich kaum etwas anderes als Egoismus und Machtstreben zutage. Das tägliche Leben widerspricht diesem Ergebnis keineswegs. In dem für die Sozialwissenschaft grundlegenden Vortrag ‹Soziale und antisoziale Triebe im Menschen›* erklärt Steiner dies so, dass im Zeitalter der Entwicklung des selbstbewussten Ichs «der Mensch, insofern er nicht zur Hellsichtigkeit aufsteigt, eigentlich nur von sozialen Trieben durchsetzt ist, wenn er schläft». «Und nur das was fortwirkt aus dem Schlaf in das Wachen hinein, wirkt ins Wachen als sozialer Trieb». Im Lichte dieser Tatsache wäre es eine Illusion, viel Soziales im Gesellschaftsleben zu erwarten. «Die Liebe zum Mitmenschen», so fährt Steiner denn auch sehr realistisch fort, «ist zumeist eine furchtbar egoistische Liebe. Gar mancher unterstützt von dem, was er erst, man kann sagen erbeutet, in patriarchalischer Weise seine Mitmenschen, um sich dadurch ein Objekt zu schaffen für seine Selbstliebe, weil er sich da recht innerlich wärmen kann in dem Gedanken: Du tust

* Rudolf Steiner in Bern am 12. Dezember 1918, GA186/7

Seite 3

das, du tust das. Man kommt nicht darauf, wie ein grosser Teil der sogenannten Wohltätigkeitsliebe maskierte Selbstliebe ist.»

Die Frage, wie man sozial sein kann, beantwortet sich denn auch in der Richtung, dass zwei Bedingungen zugrunde liegen: – einerseits muss ich dem andern Menschen die Möglichkeit geben, sich in mir auszusprechen. Steiner beschreibt das in demselben Vortrag als einen Prozess, in dem der andere mich einschläfert, somit eigentlich mich einen Augenblick ganz ausfüllt ; – andererseits muss es mir gegeben sein, aus dem, wie sich der andere in mir ausspricht, mir bewusst zu machen, was er nun wirklich will, d.h. hinter seiner Wunschnatur die Entwicklungsfrage seines Selbsts zu hören.

Es sind dies Aufgaben, die in ihrem vollen Umfang erst einer künftigen Kulturepoche angehören.* Gerade deshalb müsste eine Behandlung der sozialen Frage aus dem Begriff des Sozialen heraus theoretisch und spekulativ bleiben. Um so mehr aber haben wir uns mit dem Begriff des uns so geläufigen Unsozialen auseinanderzusetzen. Dieses wird daher unser Ansatzpunkt sein und aus dem Verständnis mag vielleicht eine Ahnung erwachsen, was Sozialsein bedeuten kann. Erst in diesem Licht doch kann die soziale Frage verantwortungsvoll angegangen werden.

II. Das Antisoziale

So schwer nun das Soziale als Erfahrungstatsache nachzuweisen ist, so einfach ist das hinsichtlich des Antisozialen. Jeder Mensch muss täglich, rein aus seinem Menschsein heraus, etliche Male antisozial sein: wenn er isst, wenn er sich kleidet, wenn er sich einen schützenden Raum erwirbt, sondert er etwas aus der Fülle, die die Erde uns gibt und die für die Gesamtheit der Lebewesen da ist, für sich allein ab und vernichtet es. Wir nennen das Konsum. Das geht auf Kosten desjenigen, was für andere Lebewesen, für seine Mitmenschen zur Verfügung steht. Es ist also antisozial.

Noch kaum vor einem Jahrzehnt hätte man sich mit diesem Satz lächerlich gemacht. Heute ist er Gemeingut, oder sollte es wenigstens sein. Die Umweltverschmutzung hat uns gelehrt, dass es das, was die Nationalökonomie noch vor einigen Jahren ‹freie Güter› genannt hat, – Luft, Wasser, Raum – gar nicht gibt. Alles ist knapp und weltweit gesehen gibt es überhaupt nur sogenannte Wirtschaftsgüter. Ja, es scheint sich geradezu eine Umkehrung vollzogen zu haben. Je mehr die traditionellen Wirtschaftsgüter, wenigstens in den hochindustriellen Ländern, scheinbar im Überfluss da sind, werden die ursprünglich frei gedachten Güter knapper. So ist es dann heute wirklich so geworden, dass allein schon die Tatsache, dass der Mensch lebt und atmet, ihn in die Position bringt, dass er seinen Mitmenschen etwas wegnimmt. Sogar die Grenzfälle, ein Robinson Crusoe (von dem unsere Wirtschaftswissenschaft immer noch so gerne – aus didaktischen Gründen, wie man sich weismacht – ausgeht) oder der in der Wüste lebende Anachoret sind heute sozial relevant geworden. Dass man sich dessen – endlich – bewusst wird, gehört zu den wichtigsten sozialen Phänomenen unserer Zeit.

Kommen wir zu dem Schluss, dass der Mensch, solange er seinen alten Adam mit sich herumschleppt, einfach durch sein irdisches Menschsein also, antisozial sein muss, dann ergibt sich daraus ein Begriff des Antisozialen ohne jegliche moralische Färbung. Das Antisoziale ist eines der Grundphänomene zwischenmenschlichen Verhaltens; denn der natürliche Drang, sich am Leben zu erhalten, bekommt erst soziale Bedeutung dadurch, dass dies im Grunde immer auf Kosten

* Siehe Rudolf Steiner, Düsseldorf 15.6,1915. GA159/160

Seite 4

der Mitmenschen geschieht. Was das mit Antisozialität erkaufte Leben dann weiterhin für die Mitmenschen bedeuten kann, steht auf einem anderen Blatt.

Das Kernproblem der Wirtschaft

Mit dem Vorhergehenden haben wir uns eigentlich schon an die Kernfrage der Wirtschaft herangetastet: die Menschen, jeder einzelne mit seinen eigenen Bedürfnissen, stehen beschränkten Befriedigungsmitteln gegenüber. Geht man nun ausschliesslich von dem antisozialen Trieb im Menschen aus, dann ergibt sich folgerichtig die liberale Wirtschaftsphilosophie, die offen oder verhüllt der westlichen Wirtschaftswissenschaft zugrunde liegt: weil der Mensch ein anti-soziales Wesen ist, versucht er sich ein möglichst grosses Stück aus dem (wirtschaftlichen) Kuchen zu schneiden*; jede realistische ökonomische Theorie muss von dieser Grundtatsache ausgehen, wenn sie nicht in wirklichkeitsfremde Konstruktionen verfallen will. Das führt dann zu einem Kampfmodell, wobei der einzelne für seine eigenen und vorgegebenen Bedürfnisse sorgt und sich dabei der Kollektivität aller anderen Menschen gegenübergestellt sieht. Der atomistische Markt, auf dem der einzelne Angebot und Nachfrage nicht beeinflussen kann, wird Idealbild. Der Mitmensch kommt, es sei an dieser Stelle nur bemerkt, als konkrete Person in der Wirtschaftstheorie nicht vor.

Zu diesem Wirtschaftsliberalismus stellten sich nun auch die Ethiker ein. Bereits der Vater der Wirtschaftswissenschaft, Adam Smith, sprach von einer unsichtbaren Hand, die das rücksichtslose Streben nach Bedürfnisbefriedigung aller einzelnen zum Wohle des Ganzen füge. Es war die freundlichere Wendung von Mandeville's bekanntem Wort ‹private vices are public virtue›. Solch ein Ausspruch mag in unserer Zeit abstrus oder gar pervers klingen, man möge aber bedenken, dass jedes (wirtschaftliche) System, das von schlechtem Gewissen geplagt wird, einen Mythos nötig hat. Und weil sich heute unser westliches Wirtschaftssystem, und sei es kaschiert, ja immer noch auf das antisoziale Verhalten der Wirtschaftssubjekte stützt (‹das gesunde Eigeninteresse als Motor des Wohlstandes›), ist es nur eine Frage des Suchens, Gottes unsichtbare Hand auch in unserer Zeit zu entdecken. Sie lebt heute in den üblichen Vorstellungen über die Staatsmacht, die da, wo die liberalen Vorbedingungen fehlen, die Wirtschaft so steuert, dass sie aus antisozialen Motiven heraus arbeiten kann, ohne zum Aufstand der im Kampf ums Dasein Unterlegenen zu führen. Die gescheiterte unsichtbare Hand Smith'scher Provenienz ist ersetzt durch diejenige von Väterchen Staat, dem man nun die Aufgabe aufbürdet, das unsoziale Verhalten der einzelnen in kollektiven Wohlstand zu verwandeln. Man nennt diese moderne Variante der Smith'schen Theologie bezeichnenderweise ‹soziale Marktwirtschaft›.

Die wirtschaftliche Wirklichkeit

In Wirklichkeit gibt es so etwas wie den atomistischen Markt höchstens als einen unbedeutenden Grenzfall.** Was allerdings stimmt, ist die Anwesenheit des anti-

* Man könnte das den homo oeconomicus nennen; dieser hat aber als Eigenschaft, dass er ausschliesslich der optimalen Befriedigung seiner Bedürfnisse lebt. Obwohl nun die Wissenschaft den h.o. zur Vordertüre hinausgeschmissen hat, wurde er durch die Hintertüre wieder hereingeholt, indem man auch nicht-wirtschaftliche Ziele (Freiheit, Spiel, Selbstentwicklung) in den einen Topf der Bedürfnisse warf.

** Ein scheinbarer Ausnahmefall ist die Effektenbörse. In Wirklichkeit ist auch diese nur ein wohlorganisierter, für die eigentliche Wirtschaftsdynamik aber unwichtiger und unschädlicher Zufluchtsort für herbstliche Wespen. Was sich mit Aktien wirklich machen lässt, tun die Grossen.

Seite 5

sozialen Triebes und zwar in zweierlei Form: auf der Produktionsseite immer mächtiger und zugleich immer weniger werdende internationale Konzerne – die zuverlässigsten Schätzungen erwarten, dass gegen 1980 80% der Produktion in Händen von dreihundert bis vierhundert Konzernen ruht –, die aus Profitstreben, aus Selbsterhaltungstrieb, aus dem Streben das investierte Kapital rentabel zu machen oder wie man die Gründe auch nennen mag, auf alle Fälle aber aus Selbstbezogenheit die kleinen Betriebe abhängig machen und die Konsumenten machtmässig oder psychologisch beherrschen. Sie sind so mächtig geworden, dass sie Regierungen stürzen, Revolutionen anzetteln, Kriege führen lassen, jeden Bestechungsbetrag zahlen können. Sie erzwingen von den Regierungen eine für ihre Zwecke günstige Infrastruktur, die den Staat in das Wirtschaftsleben hereinruft. Oft genügt schon die Drohung, sich aus einem Lande zurückzuziehen, wodurch dieses wirtschaftlichem Ruin anheimfallen würde, um Sondergesetze, oder lieber noch (weil unauffälliger) Sondergenehmigungen zu erwirken.

Und so wie sich diese Usurpationstendenz über die Mitproduzenten und die Konsumenten bis in das Staatssystem hinein ausbreitet, so hält sie auch vor den Toren des Geisteslebens nicht ein: was menschlicher Geist zu schaffen weiss, soll, indem man sich der ideenreichen und schöpferischen Personen bemächtigt, in den Dienst der Grossen gestellt werden. Der industriell-militärische Komplex, wie Galbraith ihn nennt, mit all seinen persönlichen und sachlichen Verfilzungen, ist in Wirklichkeit ein gesamtgesellschaftlicher Komplex von undurchsichtigen Interessengemeinschaften.*

Die Hypertrophie auf der Produktionsseite wäre nicht denkbar ohne ihr Gegenbild auf der Konsumtionsseite, wobei an dieser Stelle der ursächliche Zusammenhang beider dahingestellt sein mag. Wir wissen, dass der Konsumtrieb des Menschen bis ins Unendliche zu wachsen vermag – Soziologen haben konstatiert, dass Geldausgeben an sich Befriedigung schenken kann –, dass das menschliche Begierdeleben sich immer neue, noch nicht erreichte und (vorläufig) sogar unerreichbare Objekte zu verschaffen weiss. Und wir wissen ebenfalls, dass auch der unersättliche Konsument seinen Hohenpriester gefunden hat. Ruhte in der Anfangszeit des Kapitalismus auf der rücksichtslosen Produktion Gottes Segen, wenn sie zur Kapitalbildung und nicht zu (unmässigem) Konsum führte, heute wo unsere Wirtschaft über die Preise selbst Kapital bildet, wird es zur Vorbeugung psychischer Komplexe wünschenswert erklärt, wenn sich der Mensch in seinem Konsumtrieb möglichst gründlich gehen lässt.

Mensch und Wirtschaftsstruktur

Mit diesem Bild eines ganz auf antisoziale Kräfte gestellten Wirtschaftslebens haben wir uns weit entfernt von unserem Ausgangspunkt, an dem wir nicht mehr behauptet haben, als dass antisoziales Benehmen für des Menschen Existenz nötig ist. Dass dieser Trieb sich aber auf die beschriebene Art auswirkt, ist ganz bestimmt keine notwendige Folge; es ist eine der Möglichkeiten, wie sich eine menschliche Gegebenheit in der gesellschaftlichen Struktur verwirklichen kann. Aber es ist wohl diejenige, die in unserer Gesellschaft maximal zum Zuge gekommen ist. Wir erleben in schärfster Ausprägung den Trieb, der den Menschen dazu bringt, sich alles zu ‹eigen› zu machen, alles sich einzuverleiben – ein Trieb, der sich ja nicht überall ungünstig auszuwirken braucht, der aber auf dem Gebiete, wo das Einzuverleibende knapp ist, eben zur Antisozialität wird.

* Man braucht heute ja nur auf den weltweiten Lockheed-Skandal zu weisen. Für die Gläubigen unserer ‹freiheitlich-demokratischen Ordnung› ist freilich auch dieser kein Symptom, sondern ein beklagenswerter Betriebsunfall.

Seite 6

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei noch das Folgende erwähnt. Zwar muss der Mensch antisozial im Wirtschaftsleben stehen, nicht aber weil das Wirtschaftsleben an sich antisozial wäre, sondern weil er selbst (auch) ein biologisches Wesen ist. Dem Wirtschaftsleben sollte man keine aus der Art des Menschen hergeleiteten Eigenschaften anhängen. Die Wirtschaft hat zwar ihre eigenen Gesetzmässigkeiten, die man nicht ungestraft verletzen kann, ist aber eine Schöpfung der Menschen, d.h. Ausdruck der Art, wie der Mensch mit der Natur umgeht. Man kann diese Wirtschaft so einrichten, dass der einzelne Gelegenheit bekommt, sich ein möglichst grosses Stück aus dem Kuchen zu schneiden. Man könnte, wissenschaftlich wie praktisch, aber auch davon ausgehen, dass gerade weil die Mittel knapp sind, die Wirtschaft so eingerichtet sei, dass unsere Erde alle nährt. Dahin weist z.B. der Satz von Koch: «Die Allgemeinheit und elementare Natur der Konsumtion erlaubt es, diese zum Prinzip der wirtschaftlichen Selbstbestimmung und Selbstverwaltung zu machen.»*

Dasjenige, was soeben die biologische Bedingtheit des antisozialen Teilnehmers am Wirtschaftsleben genannt wurde, ist zwar unentrinnbares Menschenschicksal, braucht aber keineswegs zur Hypertrophie des Antisozialen führen, die oben sowohl auf der Produktions- als auch auf der Konsumseite beschrieben wurde und die man wohl unschwer als Charakteristikum unserer Zeit erkennen dürfte. Die Regenerationskräfte der Natur sind, im Verein mit menschlicher Wissenschaft, ohne weiteres im Stande, die Menschheit biologisch zu ernähren. Die Usurpationstendenzen, der Griff des Wirtschaftslebens nach dem Rechts- und Geistesleben und die Vernichtung der Naturgrundlage um die Konsummöglichkeiten noch zu erweitern, haben mit unseren biologischen Bedürfnissen überhaupt nichts mehr zu machen. Sie können sich daher auch nicht auf den Kampf ums Dasein berufen. Diese Übergriffe setzen immer dort ein, wo biologische Bedürfnisse in psychologische Begierden übergehen.

Dann fängt der Mensch an, sich nicht nur die Natur, wie der biblische Auftrag lautete, sondern auch den Mitmenschen untertan zu machen. Immer, wenn in der Geschichte dieses Stadium erreicht war, wurde der Ruf der Unterdrückten, der Ausgebeuteten, der Enterbten hörbar. Dann verlangten sie vom Rechtsleben, diese antisozialen Möglichkeiten zu begrenzen, der Antisozialität die Mittel zu entziehen, die ihr die Möglichkeit geben, nicht nur die Natur, sondern auch den Mitmenschen als Objekt zu behandeln.

In früheren Zeiten wurden diese Grenzen von oben herunter auferlegt. Tabus z.B. sind (auch) letzte Reste der Mittel um das Antisoziale in Schranken zu halten. Wir wissen, dass dies heute nicht mehr auf magische Art geht, wenn es auch mancher Diktator noch mit Beschwörungen probiert. Betrachtet man aber, was sich Regierungen in dieser Beziehung einfallen lassen – z.B. mit hohen Steuertarifen das Ergatterte wieder den Ausgebeuteten zuführen – so ist das alles nur ein Herumkurieren an Symptomen. Die Frage, wie dem Antisozialen als die Menschheit in ihrer Ganzheit bedrohenden Kraft entgegen zu wirken ist, gliedert sich in zwei Aufgabenbereiche: einerseits die rechtliche Frage des Entziehens der Mittel um den Mitmenschen zu unterjochen ; andererseits das therapeutische Problem, wie die Flucht in die Sucht zu heilen ist.

* N. Koch ‹Staatsphilosophie und Revolutionstheorie› S. 76

Seite 7

III. Das Asoziale

Wir haben nun das Antisoziale in seinen Grundzügen umrissen. Bevor wir uns aber dem Sozialen zu nähern versuchen können, müssen wir erst noch einen andern Trieb des Menschen kennen lernen, der dem anti-sozialen polar entgegengesetzt ist und mit dem wir aus unserem Menschsein heraus genau so unentrinnbar leben müssen wie mit dem antisozialen. Ich nenne ihn den asozialen.

Darunter will aber beileibe nicht der negative Begriffsinhalt verstanden sein, den wir heute in der Umgangssprache damit verbinden: die Leute, die, aus bürgerlicher Perspektive, am Rande der Gesellschaft leben, die parasitieren, die immer im Zuge sind, die Grenze des Kriminellen zu überschreiten. Es wird sich sogar herausstellen, dass dieser Begriffsinhalt einem ... asozialen Verhalten entspringt. Hier ist mit asozial die Bedeutung gemeint, die das Wort auch in seinem sprachlichen Ursprung hat : ohne Kontakt mit der menschlichen Umwelt. Gerade so wie das Arationelle sich der rationellen Beurteilung entzieht, ohne deshalb irrationell zu sein; so wie der amoralische Mensch sich nicht an moralische Prinzipien gebunden fühlt, ohne deswegen Immoralist zu sein; so zieht sich der asoziale Mensch auf sich selbst zurück, ohne deshalb antisozial zu sein. Ja, er kann in dem Zustande des Asozialen gar nicht antisozial sein, weil er eben die Verbindung mit dem Mitmenschen als solchem abschneidet. Der hier benutzte Begriff hat also eine gewisse Verwandtschaft mit dem psychiatrischen. Der Unterschied ist der, dass der an Asozialität leidende, der autistische Mensch keine menschlichen Kontakte aufnehmen kann, während der in gesellschaftlicher Hinsicht asoziale Mensch (zeitlich) keine Kontakte aufnehmen will.

In der Sozialwissenschaft wird das Asoziale eigentlich kaum als ein eigenständiger Trieb erfasst. Gewiss, man kennt dort die weltfremden Typen, man kennt auch die Vereinsamung des modernen Menschen, leitet sie aber stets aus den Umständen (Vermassung, Urbanisation usw.) ab, nicht aus einem originären Bedürfnis des Menschen.

Das Asoziale als primäres Bedürfnis des Menschen

In Wirklichkeit ist asoziales Verhalten genau so eine unablässliche Bedingung für das Menschsein auf Erden wie antisoziales. Wie letzteres nötig ist, um als physische Menschen existieren zu können, ist asoziales Verhalten nötig, um als geistiges Wesen auf Erden da zu sein. Der nach Erkenntnis strebende Mensch nämlich muss asozial sein; er muss sich absondern, muss mit seinem ganzen Wesen den Spuren des noch Unbekannten, Unerkannten nachgehen.

So wie wir den antisozialen Menschen am Bilde des Konsumenten kennengelernt haben, so können wir das Extrem des asozialen in dem meditierenden Menschen sehen. Er könnte gar nicht zur Meditation kommen, wenn er sich nicht im irdischen Sinne von seinen Mitmenschen – und sogar von der ganzen Natur – löste. Aber in viel alltäglicherem Sinne gilt das für uns alle. Wir kennen die abwehrende Gebärde, wenn wir bei einer Rechnung sind, wenn wir einen Gedanken formulieren wollen und jemand stört uns. Dann werden wir aus unserer Konzentration geholt, d.h. dann können wir nicht mehr bei uns selber, nicht mehr asozial sein. Kommt jedoch sozialer Kontakt zustande, dann können wir das Unbekannte, das Ungewusste – das Fazit der Rechnung – nicht fassen. Wir kennen das Phänomen in vielen Formen. Wir spotten z.B. über den zerstreuten Professor: er ist so mit seinen Problemen beschäftigt, so asozial, dass ihm entgeht, was in der

Seite 8

Umwelt geschieht. Klassisch lebt dies Verhalten fort in den Worten des Archimedes. In seine geometrischen Zeichnungen vertieft, wehrte er die heranstürzenden Feinde ab mit den Worten : «Zerstört mir meine Kreise nicht!»

Wie nun der antisoziale Trieb urständet in dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen, so der asoziale Trieb in dem Willen, sein Seelenleben zu entwickeln und zu entfalten. Und genau so, wie keine wirtschaftliche Leistung entstehen kann, wenn der Mensch sich nicht erst, durch antisoziales Verhalten, selber ernährt, so gibt es keinen gesellschaftlichen Fortschritt, wenn sich der Mensch nicht erst selbst entwickelt, d.h. asozial ist. Dabei sollte man aber bestimmt nicht nur, nicht einmal an erster Stelle, an den Erfinder denken. Die Entwicklung jedes einzelnen Menschen besteht ja darin, dass er sich dasjenige, was bereits für die Menschheit als ganze errungen ist und Gemeingut wurde, in einem asozialen Prozess zu eigen macht. Lesen, Schreiben, Rechnen, die einfachsten Sätze aus der Geometrie – sie alle fordern eine Wiederholung der asozialen Konzentration und des asozialen Erkenntnisstrebens, aus dem sie einst bei genialen Erstlingen hervorgegangen sind. Und kein Mensch kann sich hier auf Erden als Mensch erleben, ohne dass er diesen Trieb nach Erkenntnis bis zu einem gewissen Grade auslebt. Dasjenige, was aus diesem Entwicklungs- und Erkenntnisstreben der Menschen hervorgeht, nennen wir das Geistesleben.

Das Asoziale und das Geistesleben

Betrachten wir diesen Prozess nun näher, dann müssen wir sagen, dass nicht nur für das Kind der Satz des Pythagoras, für den Jüngling das Gravitationsgesetz vorgegeben ist. Auch derjenige, der erstmals auf einen Gedanken kam, der eine einfache oder Schlüsselerfindung machte, ‹fand› diese vor. Der Satz des Pythagoras galt ja längst schon bevor Pythagoras ihn formulierte. Meistens ist es so, dass auch die Idee schon lange da ist, wenn der Weg zu ihrer Verwirklichung noch zurückgelegt werden muss. «Das Resultat habe ich schon», schrieb der Mathematiker Poincaré, «wenn ich nur den Weg wüsste!» In dieser Hinsicht ist das Erkenntnisstreben kein schöpferischer Akt, sondern das Herunterholen, das dem menschlichen Verstande Zugänglichmachen einer (vorgegebenen) Wahrheit. Die ‹Freiheit›, die dieser Prozess dem Menschen lässt, ist nur diejenige, die Wahrheit in einer mehr oder weniger vollkommenen Form zu konzipieren. Ich bin ja gar nicht frei, die drei Ecken eines Dreiecks nun einmal 150 Grade sein zu lassen oder das ‹Reh› in der Ferne ein Reh bleiben zu lassen, nachdem ich entdeckte, dass es ein Strauch ist.

Aber auch in unserem inneren Ringen können wir von Freiheit im eigentlichen Sinne nicht sprechen. Der Mensch mag frei sein, was das Mass betrifft, in dem er sich dem Erkenntnistrieb zuwendet (und in der Beziehung ist eine Parallele zu entdecken zu dem Mass, in dem man seinen antisozialen Trieben nachgeht), im Erkenntnisstreben selber ist er ein Getriebener, ein Gejagter, wenn nicht gar ein Besessener. Kennen wir nicht alle den Zustand, in dem eine Idee uns beschäftigt, die uns kaum in Schlaf kommen lässt, mit der wir erwachen und die uns so in ihrem Banne hält, dass wir normalen sozialen Funktionierens nicht mehr fähig sind; dass jede Anrede uns aufschreckt und wir uns nur unwillig, wie aus weiter Ferne, zurückholen lassen? Man durchlebt dann – den Zustand des Asozialen.

Aus dieser kurzen Beschreibung des Phänomens des Asozialen möge deutlich sein, dass an sich das Asoziale – genau so wie das Antisoziale – in ethischer Beziehung neutral ist. Als Triebe sind beide menschliche Gegebenheiten, der eine

Seite 9

biologischer, der andere psychologischer Art. Erst die Frage, wie man mit ihnen umgeht, führt uns in die moralische Provinz. Genau so wie ich die aus dem an sich antisozialen Konsum erworbene Kraft zur Arbeit für die Bedürfnisse anderer benützen kann, kann ich auch das Resultat meines an sich asozialen Erkenntnisstrebens der ganzen Menschheit zur Verfügung stellen. Und so, wie ich den Konsum zum Selbstzweck erheben und in einer raffenden Gebärde ein grösstmögliches Stück Wohlfahrtskuchen mir aneignen kann, so kann ich auch – ja, was ist nun eigentlich das Pendant zu diesem Raffen?

Der untolerante Mensch

Im Gegensatz zum raffenden Konsum nimmt man ja im raffenden Erkenntnisstreben niemandem etwas weg. Der Satz des Pythagoras verringert sich nicht, wenn Menschen ihn ‹konsumieren›. Dafür tritt aber etwas anderes auf. – Es ist ja selten so, dass der Mensch, der eine Wahrheit gefunden hat (oder vermeint gefunden zu haben), diese nun still für sich besitzen will. Es genügt ihm meist nicht einmal, sie der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Er will sie verbreiten. Denn seine Wahrheit macht anderer Leute Vorstellungen zu Unwahrheiten, oder wenigstens zu Halbwahrheiten. Da erwacht nun der Missionar im Menschen, der die ganze Menschheit mit seiner Wahrheit beglücken will. Er will nicht nur zeugen, er will überzeugen.

Wir sollten dabei nur ja nicht ausschliesslich an Religionsfanatiker denken. Das Phänomen steht uns näher als wir denken. Jeder kennt doch das Ehepaar: die Frau will erzählen, wem sie eines Tages begegnet sind. «Wir gingen gerade um die Ecke der Hauptstrasse...», da unterbricht sie ihr Gatte: «Entschuldige, wir waren schon auf dem Schillerplatz!» Und nun entspinnt sich ein hartnäckiger Zwist, der sogar in Handgreiflichkeiten münden kann, denn nur einer kann die Wahrheit sagen: man traf sich entweder in der Hauptstrasse oder auf dem Schillerplatz. Natürlich ist es ein Streit, der die Zuhörer überhaupt nicht interessiert, weil sie etwas über die Begegnung wissen wollen, aber das nehmen die Streithähne gar nicht mehr wahr.

Obwohl dergleichen Verhalten jeden sozialen Verkehr verunmöglicht, kann, wer über Zeit und Humor verfügt, dieser kleinen Welt des Allzumenschlichen seine spassigen Seiten abgewinnen. Auf der Weltbühne wird dieses selbe Geschehen aber blutiger Ernst. Da sehen wir die Wissenschaftler, natürlich zum Heile der Menschheit, ihre Wahrheiten in die Welt hinausschleudern, sich zusammentun, um andere Auffassungen von den Forschungs- und Ausbildungsstätten zu verbannen, Lobby's bilden, um den Staat zu bewegen, nur ihren Standpunkt als wissenschaftlich gelten zu lassen, nur ihre Lösung in der Praxis zu genehmigen. Kein verbissenerer Kampf als der zwischen zwei Spezialisten derselben Disziplin, bis hin zur öffentlichen Diffamierung. Am härtesten geht es auf dem politischen Felde zu, wo man den Andersdenkenden wenigstens mundtot machen, wenn nicht gar einsperren oder liquidieren lassen will.

So trägt alles irdische Geistesleben aus seiner eigenen Asozialität heraus die Tendenz zur Intoleranz in sich. Das ist auf den ersten Blick merkwürdig : Das Asoziale, also ein sozial Irrelevantes, führt erfahrungsgemäss zu etwas von unerhört grosser sozialer Bedeutung, der Intoleranz nämlich. Lässt sich das erklären?

Wir haben das Asoziale als einen Lernprozess zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit kennengelernt. Es ist aber mehr. Die Bereicherung mit Seeleninhalten ist zugleich eine Bestätigung des eigenen Wesens. Das gilt in äusserlichem Sinne.

Seite 10

Wissen stärkt meinen Platz in der Gesellschaft. Ich habe den Spezialisten nicht mehr nötig, kann die Situation selber beurteilen. Wenn ich lesen gelernt habe, kann ich das Gesetzbuch selber aufschlagen, kann die Rechnung des Milchhändlers kontrollieren. Meine Erkenntnisse finden Annahme, weil ... ich sie mit anderen teile. Umgekehrt wirkt unsere heutige Gesetzinflation, wodurch man die Vorschriften nicht mehr kennen kann, in hohem Masse verunsichernd.

Der Lernprozess verursacht aber nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine persönliche Bestätigung : mein Erkenntnisstreben hatte Erfolg, ich kann meiner Lernfähigkeit trauen. Die Seele empfindet sich dadurch existent. Im Gegensatz zur biologischen Selbstbestätigung, die sich mir als die sichtbare Folge von Essen und Trinken ergibt, ist die psychische Existenz keine sinnlich wahrnehmbare Tatsache. Sie verlangt daher immer wieder nach Bestätigung von aussen.

Darum erschüttert es das Persönlichkeitsgefühl bis in seinen Kern, wenn eigene Wahrheiten von der Umwelt nicht anerkannt werden; darum verunsichert uns allein schon die Tatsache, dass andere eine andere Wahrheit besitzen, ein Gefühl, das sich bis in ein sich existentiell Bedrohtfühlen steigern kann. Jeder Prüfer weiss, dass er 95% seiner Studenten vollständig aus dem Gleichgewicht bringt, wenn er auf die richtige Antwort auf eine ganz einfache Frage reagiert mit : «Glauben Sie das wirklich?»

Das Bedürfnis, die eigene Wahrheit von der Umwelt bestätigt zu erhalten, ist auch deswegen so gross, weil wir in den meisten Fällen, und sei es nur unterbewusst, wissen, dass wir nicht die ganze Wahrheit besitzen. Eine ‹andere› Wahrheit wächst sich dann zur Anschuldigung aus, die eigene Erkenntnis nicht rein genug aus der Geistwelt heruntergeholt zu haben.

Wir dürfen also jetzt sagen, dass so wie der antisoziale Zug des Menschen zurückgeht auf die Angst und die Sorge um die biologische Existenz, die Intoleranz als eine Folge der psychischen Existenzbedrohung entsteht : die andere Wahrheit darf nicht wahr sein. – Je schwächer nun das eigene Seelenleben ist, desto mehr wird es nach Anerkennung der eigenen Wahrheiten streben. Im Grunde empfindet so ein Wesen seine seelische Existenz nur dann als gesichert, wenn ihm seine Wahrheit aus allen Mitmenschen entgegenkommt. So wie der primitive Mensch in dem Glauben lebt, in seinen Kindern weiterzuleben, so erscheint das Seelenleben gesichert, wenn die Ideenwelt anderer Menschen nach meinen Wahrheiten gebildet wird. Mein Wesen soll in jedem anderen Menschen auferstehen.

So lernen wir nun die asoziale Gebärde als die entgegengesetzte der anti-sozialen kennen. Nimmt letztere in einem Raffungsprozess den anderen Menschen etwas weg, der Mensch als asoziales Individuum breitet sein Seelenwesen über die anderen Menschen aus, will gleichsam vervielfältigt auferstehen in seinen Mitmenschen.

Das marxistische Bild des Menschen

Hat uns der Begriff des Antisozialen zum Verständnis gewisser Seiten des westlichen Wirtschaftsliberalismus geführt, der Begriff des Asozialen kann uns bestimmte Gesichtspunkte hinsichtlich des östlichen Sozialismus verschaffen.

Es ist ja so, dass der Marxismus davon ausgeht, dass der Mensch seiner Natur nach ein soziales Wesen ist – der gute Wilde Rousseau'scher Prägung – und dass er nur durch die Wirtschaftsverhältnisse antisozial wurde. Theoretisch kennt also der Osten nur den sozialen, der Westen nur den antisozialen Menschen. Da sich aber in der Praxis herausgestellt hat, dass dieser neue Sowjetmensch, auch bei

Seite 11

kommunistischer Erziehung, auch ohne Kapitalisten, antisoziale Züge beibehält, muss, da die Theorie eine im Erkenntnisstreben errungene Wahrheit und infolgedessen unanfechtbar ist, der Mensch geändert werden. Wenn Theorie und Tatsachen nicht übereinstimmen – um so schlimmer für die Tatsachen.* Die Bestätigung der eigenen sakrosankten Theorie rechtfertigt dann, dass der Mensch in einem gewaltigen Ummodellierungsprozess all seiner Menschenrechte beraubt wird, bis zur äussersten Konsequenz, der Gehirnwäsche. – Insoweit dieses Streben erfolgreich ist, entsteht aber nicht der soziale Mensch. Es entsteht das, was wir soeben als letztes Ziel der Intoleranz beschrieben haben: der Untertan, der in allem und jedem die Auffassungen der führenden Elite zurückspiegelt. Es entsteht der Robotmensch, dem nun tatsächlich ausser dem sozialen auch der antisoziale Trieb fehlt. Es entsteht der Termitenstaat. Wir werden noch auf dieses Phänomen eingehen.

Man spricht heute von Moskau als von der roten Kirche und es gibt da gewiss viel Ähnliches, wenn man auch bedenken soll, dass die Emanzipation des Rechtslebens nicht ganz ohne Wirkung geblieben ist, so dass die Massnahmen heute oft in anderer Form erscheinen müssen. – Eine Parallele wollen wir hier hinzufügen. So wie man sich im Osten auf die Theorie gründet, dass der Mensch sozial ist und das Unsoziale nur von aussen an ihn herangebracht wird, so hat einst Augustin verkündet, dass der Mensch gut ist und dass das, was als Böses erscheint, nur die Abwesenheit des Guten sei. Es gäbe kein Böses an sich. Ist aber das Böse ein Nichts, dann stellen sich der Erfüllung des göttlichen Auftrages, das Evangelium zu verbreiten, keinerlei Grenzen. In ihrer Mission dürfen Kirche und Staat unbeschwert diejenigen, die die göttliche Wahrheit nicht annehmen wollen, vernichten: sie vernichten damit ja ein Nichts. Genau so aber besteht in der roten Kirche immer wieder die Tendenz um das Unsoziale in seinen beiden Formen, wenn es sich nicht, nötigenfalls durch Gehirnwäsche, verwandeln lässt, zu vernichten. Die Vernichtung beweist dann zugleich seine Non-Existenz: es ist einfach nicht mehr da.

Aus dem soeben Bemerkten geht bereits hervor, dass der Marxismus nicht nur das Antisoziale, sondern auch das Asoziale nicht kennt, wenigstens nicht als originären menschlichen Trieb. Zwar kennt man asoziales Verhalten sehr gut. Das Fehlen gesellschaftlichen Engagements gerade bei Wissenschaftlern und Künstlern ist gewiss nicht unerkannt geblieben, wird aber als eine bürgerliche Perversion abgetan.

Versteht man das Anti- und Asoziale hingegen als primäre Kräfte, dann weiss man auch, dass man sie nicht ausrotten kann. Wenn man einen Menschen, der das elementare Bedürfnis der Selbstentfaltung hat, in eine andere Entwicklung, also in eine, die sein Seelenleben nicht zur Entwicklung kommen lässt, zwängt, dann ergibt sich daraus, dass dieser Mensch entweder rebelliert oder seine Seele verliert: er wird zu dem oben angedeuteten Robot.

Geistesleben und politische Freiheitsrechte

So sehen wir denn hier, auf der Seite des Geisteslebens im Gesellschaftsleben, eine zweite Usurpationstendenz: der eine Mensch vergewaltigt seelisch den ande-

* In seiner bewundernswerten Analyse des Revolutionsbegriffes und unserer sich revolutionär nennenden Bewegungen ‹Autopsie de la Révolution› (1969), in der er letztere als Bestätigungen der herrschenden Gesellschaftsstruktur entlarvt, schreibt J. Ellul: «Was macht man aber, wenn die Ereignisse nicht so abrollen, wie Marx sich das gedacht hatte? Von jenem Augenblick ab musste man eine Orthodoxie im Gegensatz zu den Tatsachen aufrechterhalten und zwar entweder, indem man die Tatsachen so interpretiert, dass sie, obwohl sie eine evident andere Bedeutung haben, einzufügen sind, oder aber indem man sie ganz einfach verschweigt.» (S. 159)

Seite 12

ren; er schreckt nicht davor zurück, sich sogar des Staates zu bedienen, um seinen Mitmenschen die eigenen Auffassungen aufzupfropfen; er versucht schliesslich, mit wirtschaftlichen Mitteln die Widerstrebenden gefügig zu machen, indem er ihnen die Mittel zur nackten Existenz vorenthält. Unser zwanzigstes Jahrhundert ist erfüllt mit den Greueltaten, zu denen Ideologien im Stande sind. Wir verstehen jetzt Steiners Ausspruch, dass die ärgste Diktatur entsteht, wenn das Geistesleben die Macht ergreift.*

Nun ist diese Problematik beinahe so alt wie die Menschheit. Immer schon war der homo sapiens zugleich rechthaberisch bis zur Tyrannis. Vielleicht dürfen wir diesen Zug als den Preis für sein prometheisches Streben werten. Lange schon aber und unüberhörbar seit der Renaissance und der Reformation klingt der Ruf um Schutz gegen seelische Vergewaltigung. Wieder ist es der Staat, an den man sich wendet, aber nun, um bestimmte Entwicklungs- und Freiheitsrechte zu garantieren. Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäusserung, Erziehungsfreiheit – es sind die Rechte, die das Individuum davor schützen sollen, dass der andere, mit oder ohne Hilfe des Staates, ihm seine ‹Wahrheit› aufzwängt. Die Forderung entstand primär aus Gewissensnot: du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen. Zugleich aber auch aus dem erwachten Bewusstsein heraus, dass jedem Menschen das Recht gebührt, sich nach seiner seelischen Eigenart zu entwickeln. Nur allmählich mag das nützliche dieser Rechte gedämmert sein, obwohl Weise seit uralten Zeiten verkündigten, dass die Wahrheit viele Seiten hat und auch des grössten Genius Wissen Teilwissen bleibt, so dass es der Ergänzung durch andere Menschen bedarf. Auch heute noch – oder gar heute ganz besonders? – hat man grosse Mühe, diese Weisheit zu akzeptieren, obwohl die Erfahrung uns gelehrt haben sollte, dass das, was man in unseren Tagen als Wahrheit anerkennt, schon morgen von den heutigen Ketzern als Täuschung entlarvt wird.

Diese Freiheiten, es sei ausdrücklich erwähnt, haben nichts mit der eigentlichen Freiheit des Menschen zu tun. Es sind die politischen Freiheiten, dasjenige, was die angelsächsische Literatur unter ‹freedom› versteht : der Mensch sei freigelassen, etwas zu tun oder zu lassen, auch wenn es der Allgemeinheit Narretei scheint. Denn in sich frei ist der Mensch im irdischen Geistesleben nun ja gerade nicht; da erlebten wir ihn als einen Getriebenen, Besessenen, der, je nach Veranlagung, einen grösseren oder kleineren Teil eines in der Geistwelt Vorgegebenen herunterholt. Frei ist er auch nicht, wenn er als Forscher vorgegebene Forschungsmethoden anwendet oder als Professor routinierte Vorlesungen hält. Frei kann er höchstens werden, wenn er sich über das, was wir das irdische Geistesleben nennen, erhebt. Daraus aber ergibt sich, dass es sich bei der Freiheit des Geisteslebens niemals um die eigene Freiheit handeln kann, sondern immer um die Freiheit des Andersdenkenden.

Wir stehen hier vor einem merkwürdigen Paradoxon. Wir nehmen wahr, dass Freiheit gerade für Gebiete gefordert wird, auf denen der Mensch nicht frei sein kann: man verlangt Freiheit des Geisteslebens, Freiheit für die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen, obwohl er hier seelisch gebunden ist. Und wir verlangen Konsumfreiheit, obwohl der Mensch da biologisch gebunden ist. Das Paradoxon löst sich, wenn wir bedenken, dass die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen gerade dann am stärksten beschnitten werden, wenn man in die Gebiete eingreift, in denen er ein Gebundener ist. Wie man eine Tanne verstümmelt oder tötet,

* GA 339/4

Seite 13

wenn man sie in der Form einer Zypresse stutzen will, so verstümmelt man die Seele eines Menschen, so tötet man vielleicht sogar seinen Leib, wenn man ihm seinem seelischen oder biologischen Wesen nicht gemässe Nahrung aufzwingt. Dass der Mensch die Anlagen, die er mitbringt, entwickeln kann, dazu ist Freiheit des Geisteslebens nötig.

Nun stammt die Tendenz, die Entwicklungsfreiheit zu schützen, aus dem Rechtsgefühl, dass jeder Mensch auf eine eigene Entwicklung, auf eine eigene Wahrheit Recht hat. In den letzten Jahrzehnten sehen wir aber den Wahrheitsbegriff mehr und mehr untergehen. Bis in die Wissenschaft hinein ersetzt die Statistik die Wahrheit: wahr ist, was mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zutrifft. Die Folge ist, dass Manipulierbarkeit der Wahrscheinlichkeit zur Manipulierbarkeit der Wahrheit wird. Einer Anschauungsweise, die im einzelnen Menschen nur ein (statistisches) Sandkörnchen sieht, muss ein Recht auf eigene Wahrheit geradezu lächerlich vorkommen. So sehen wir denn auch, dass die Sorge für die Freiheitsrechte mehr und mehr zu einer humanistischen Tradition wird, die man, wenn sie lästig wird, durch Interpretation untergräbt. Statt Wahrer der Menschenrechte zu sein, wird der Staat zum Anwalt usurpatorischer Kräfte, es sei aus asozialem, es sei aus antisozialem Bestreben. Aber mit dieser Feststellung haben wir die Grenze des Rechtslebens bereits überschritten.

IV. Vom Wesen des Sozialen

Von zwei Seiten haben wir uns dem Recht genähert. Wir sahen, wie sich die von der Antisozialität des Menschen Ausgebeuteten hilfesuchend an den Staat wenden, damit er dem Wirtschaftsleben die Rechte nehme, die die Ausbeutung erst ermöglichen. Und wir sahen den von der Asozial ität vergewaltigten Menschen den Staat zum Wahrer der Freiheitsrechte herbeirufen. Somit tritt die Frage an uns heran: ist Recht nur die negative Komponente der beiden primären Triebe? Eine Macht, die uns gegen etwas schützen muss?

Hat das Recht selbständige Bedeutung?

Wir haben anfangs gesehen, dass man das Soziale als Möglichkeit immer wieder verleugnet, dass man ihm die Realität aberkennt. Das Gleiche ist nun merkwürdigerweise der Fall mit dem Recht. Man kann heute bei vielen Menschen, sowohl kapitalistischer wie marxistischer Herkunft, Bewusstsein für die Eigenständigkeit sowohl des Wirtschafts- wie des Geisteslebens entdecken. Es ist sogar überraschend (und führt öfters zu unberechtigtem Optimismus), wie weitgehend die Notwendigkeit eines freien Geisteslebens, eines sozialistischen Wirtschaftslebens eingesehen wird. Dem Rechtsleben spricht man aber durchweg die selbständige Bedeutung ab. Es ist sogar für die Enttäuschten aus Ost und West kaum jemals mehr als Ausdruck des aus dem Wirtschafts- und Geistesleben heraus Wünschenswerten. Insoweit stimmt es überein mit dem Weg, den wir beschritten haben, indem wir das Recht erstmalig kennenlernten als einen aus dem Wirtschafts- und Geistesleben heraus tönenden Ruf um Rechtsschutz.

Nun muss man sich klarmachen, dass Gesetze, die diesen Schutz zum Ausdruck bringen, zwar am Erleben der Unmenschlichkeit in Geistes- oder Wirtschaftsleben ihren Ursprung fanden, dass damit aber nur der Ursprung der Gesetze, nicht der Ursprung des Erlebens der Unmenschlichkeit angedeutet ist. Wie kommt denn der Mensch dazu, in den gesellschaftlichen Gegebenheiten Unmenschlichkeit, Schän-

Seite 14

dung der Menschenwürde zu entdecken? Aus dem Menschen als Wirtschaftendem kann es nicht kommen – da muss er ja antisozial sein. Und das Geistesleben mit seiner Asozialität kommt als Quelle für Bestrebungen, Unrecht zu verhüten auch nicht in Frage. Wo urständet denn dann die menschliche Empörung?

Dass sie da ist, daran brauchen wir nicht zu zweifeln. Jedes Sensationsblatt weiss sie zu nutzen: es stellt Wirtschaftsfragen, Fragen des Geisteslebens als Rechtsfragen dar, als Unrecht, irgendeiner Menschengruppe angetan. So werden bei den Lesern Emotionen erregt, in die man dann ziemlich einfach die eigenen Anschauungen und Interessen hineinschmuggeln kann. Man weiss da aus Erfahrung ganz genau, dass der Mensch sich nicht nur empört wenn ihm, sondern auch wenn anderen Unrecht angetan wird.

Wir können nicht umhin, dem Menschen Rechtsgefühle zuzusprechen. Gewiss, sie sind abhängig von den Wirtschaftsverhältnissen, von dem kulturellen Niveau und vor allem von den Traditionen, in denen er durch die gegebenen menschlichen Zusammenhänge steht. Rechtsgefühle, Rechtsempfindungen wechseln von Gruppe zu Gruppe, von Volk zu Volk. Einem Calvinisten ist ein Mord aus Leidenschaft ein doppelt schweres Verbrechen; ein Franzose wird lyrisch bei einem crime passionnel. Aus den unterschiedlichen Gefühlen entstehen unterschiedliche Gesetze, Verordnungen, Regeln. In ihnen finden wir den äusseren Rechtsstaat. Er will in seiner idealischen Form dafür sorgen, dass wir auf wirtschaftlichem und geistigem Gebiet in Frieden miteinander leben können.

In dem allen aber fehlt der Mensch als Individuum. Wir können gewiss nachträglich konstatieren, dass das Gesellschaftsgebilde, das wir Staat nennen, den Kampf aller gegen alle, das Recht des Stärksten in Schranken hält. Es klingt dann ganz logisch, dass wir ‹also› aus Selbsterhaltungstrieb die Macht dem Leviathan (Hobbes) übertragen haben oder einen Gesellschaftsvertrag (Rousseau) geschlossen haben. Diese Theorien leiden alle nur an einem Fehler – so ist es in Wirklichkeit nicht zugegangen.

Wo historisch Gesetz und Recht urständet, mag hier dahingestellt bleiben. Wir dürfen ausgehen von der Tatsache, dass bei all seiner Raffsucht, bei all seiner Rechthaberei der Mensch sich doch – ab und zu, mehr oder weniger, bewusst oder unbewusst – der Hüter seines Bruders fühlt. Das heisst aber, dass ihm neben seinen unsozialen Trieben auch der Trieb eigen ist, sich die Frage zu stellen, was ihm im Verhältnis zu seinen Mitmenschen gebührt. Diese und keine andere ist die Rechtsfrage.

Gleichzeitig aber muss zugegeben werden, dass die Realisierung dieses Triebes keineswegs zu den Notwendigkeiten gehört, denen der individuelle Mensch unterworfen ist. Der Mensch als natürliches Wesen muss dem antisozialen Trieb zugeben; der Mensch als beseeltes Wesen muss dem asozialen Trieb folgen. Seinem sozialen Trieb zu folgen, in Rechten und Pflichten seinen Mitmenschen gegenüber zu leben, dazu besteht jedoch keinerlei Notwendigkeit; dies ist seiner Freiheit überlassen.

Dem Wesen des Rechtes kommen wir näher, wenn wir seinem Grundproblem

– was gebührt mir im Verhältnis zu meinem Mitmenschen? – mehr Inhalt geben.

– Wir haben im Vorhergehenden das Zwischenmenschliche, das Rechtsleben schon stillschweigend eingeführt. Das Antisoziale setzt ja voraus, dass Mitmenschen da sind, denen gegenüber man sich antisozial verhält. Genauso setzt das Asoziale voraus, dass es Mitmenschen gibt, mit denen ich nicht in Verbindung treten will. Nur ist es, rein aus dem Wirtschaftsleben heraus gesprochen, so, dass der raffende Mensch seinen Mitmenschen nicht als Mensch anerkennt, sondern

Seite 15

nur als Ausbeutungsobjekt. Und rein aus dem Geistesleben heraus gesprochen, erkennt der sich entfaltende Mensch seinen Mitmenschen ebenfalls nicht als Mensch an, sondern als eine Kreatur, die er sich nach seinem Bilde schaffen will. Die Erfahrung des andern als Mitmenschen kommt aus keinem dieser beiden Gebiete. Sie ist ein Erlebnis, das nur unmittelbar aus der Begegnung mit einem anderen Menschen erwächst. Aus dieser Erfahrung entsteht ein – je nach der Person verschiedenes – Bewusstsein von Rechten und Pflichten. Darunter wollen in diesem Stadium der Abhandlung nicht die gesetzlichen und gesellschaftlichen, sondern die rein menschlichen verstanden werden.

Von einer unmittelbaren Begegnung zu sprechen ist nötig, um die hier gemeinte Erfahrung von der mittelbaren Begegnung zu unterscheiden, die uns ein Roman, ein Film oder obenerwähnte Sensationspresse verschaffen kann. Auch diese Begegnungen wollen in uns ein Gefühl erregen, was der beschriebenen oder gezeigten Person gebührt. Der gewünschte Effekt würde aber ausbleiben, wenn wir nicht bei demjenigen anknüpfen könnten, was wir bei wirklichen Begegnungen erlebt haben, wodurch wir die Rechtsgefühle des Helden oder des Opfers erleben dürfen, als wären sie die unsrigen.

Rechtsgefühl und Wirtschaftsleben

Wenn man sich nun das Rechtsempfinden, das man seinen Mitmenschen gegenüber im Wirtschaftsleben hat, ins Bewusstsein rücken will, dann kann man die folgende Überlegung anstellen. – In unserer arbeitsteiligen Wirtschaft ist es so, dass alles was ich konsumiere, andere für mich produziert haben. Sie haben erarbeitet, was ich nötig habe. Dadurch bin ich ihnen verschuldet. Mein Rechtsgefühl sagt mir nun, dass ich meinerseits für sie zu arbeiten habe und zwar, dass ich produzieren soll, was sie benötigen. Vom Recht her gibt es im Wirtschaftsleben dem andern gegenüber also keine Rechte, nur Verpflichtungen. Als Ziel meines Wirtschaftens erscheint aus dieser Sicht, aus dem Bedürfnis des Mitmenschen heraus zu produzieren. Hier nun finden wir zum erstenmal Anschluss an den Begriff des Sozialen wie er am Anfang unserer Betrachtung stand: die Not des Mitmenschen zum Motiv seines Handelns machen.

Die Einwände liegen auf der Hand: genauso wie andere für dich arbeiten, arbeitest ja du für andere. Das gleicht sich also aus. Vielleicht geht es nicht immer mit ehrlichen Dingen zu, aber im Prinzip sind die Rechte und Pflichten im Gleichgewicht. – Das Bedenken zeigt, wie stark wir in unserem Denken wirtschaftlichen Gedankengängen verhaftet sind: mit so einer Tauschvorstellung haben wir den Boden des Rechtes verlassen. – Gewiss, von seinem Motiv her hat der andere wahrscheinlich für mich gearbeitet, um an mir zu verdienen. Vielleicht hat er gar nicht einmal nach meinen Bedürfnissen gefragt, sondern mir aufgeredet, was er loswerden wollte. De facto ermöglicht er mir aber mein Leben, arbeitet er für mich und wenn er das aus unschönen Motiven tut, dann muss er damit fertig werden. Es ist für mich keine Entschuldigung, um seine objektive Leistung zu negieren. Im Recht ist es nun einmal so, dass auch wenn allgemein gestohlen wird, mein Diebstahl noch lange kein Recht wird; der Usus kann höchstens in der Gesetzessphäre zu einem Strafmilderungsgrund werden, nie zur Disculpierung (= Ent-Schuldung).

Wenn ich meinen wirtschaftenden Mitmenschen ehrlich gegenüberstehe, dann muss ich mir immer wieder gestehen, dass ich sogar bei bestem Willen in ungenügendem Masse aus ihren Bedürfnissen heraus arbeite. Ich kann sie zwar nach ihren Bedürfnissen fragen, aber abgesehen davon, dass dies ja unter den gegebenen ge-

Seite 16

sellschaftlichen Verhältnissen kaum möglich ist, bliebe auch dieses Unternehmen in vielen Fällen noch ein mangelhaftes, weil ich die Fähigkeiten, mich in ihre Lage zu versetzen und so ihre Bedürfnisse genau und tieferschürfend kennenzulernen, zu schwach entwickelt habe. So bleibt als Rest immer eine Schuld, wie ich mich auch anstrenge, um diese abzubezahlen. –

Rechtsgefühl und Geistesleben

Probieren wir gleicherweise aus dem Rechtsempfinden heraus unseren Mitmenschen im Geistesleben zu begegnen. Nun muss ich mir sagen, dass alles was ich auf diesem Gebiet erreicht habe, die Selbstentwicklung, die ich mir erarbeitet habe, nur möglich wurde, weil andere Menschen mir den Weg ebneten, weil sie mir im richtigen Augenblick Antwort auf meine Entwicklungsfragen gaben. Das mögen Zeitgenossen gewesen sein: Eltern, Erzieher, Lehrer, Künstler, Ärzte, Priester oder ganz einfach ein Freund, dem das rechte Wort im rechten Augenblick entfiel. Es können auch (längst) Verstorbene sein, denn was tun wir mehr, als einen kleinen Stein zu häufen auf das, was unsere Vorfahren bauten? Ich brauche den Satz des Pythagoras nicht mehr zu entdecken, keine Dampfmaschine mehr zu erfinden, keinen Jugendstil zu schaffen.

Aufs neue kann so das Rechtsgefühl tiefer Verschuldung bei mir eintreten: alles ist mir gegeben; ich habe keine Ansprüche, nur Verpflichtungen. Doch wem gegenüber soll ich diese Schuld abtragen? Die mir weitergeholfen haben, werden nur in den seltensten Fällen meiner Hilfe bedürfen und viel von dem, was mir Fenster öffnete, kam auf anonymem Weg zu mir. Ich kann mich meiner Verpflichtungen gar nicht anders entledigen als indem ich den Menschen, die das Schicksal mir über den Weg führt, die gleiche Hilfe leiste, die mir einmal geboten wurde.

Zum zweitenmal finden wir Anschluss zum Begriff des Sozialen: wir machen die Entwicklungsnot des Mitmenschen zum Motiv unseres Handelns. Das kann ich aber nur, wenn ich nicht dasjenige, was ich aus dem Geistesleben herausgeholt habe, meine Wahrheiten, über sie hinstülpe. Das gelingt mir nur, wenn ich sie einlade, sich in mir auszusprechen. «Selbsthingabe bedeutet nicht, dass man sich in den andern hineindrückt. Zutritt zum andern verschafft man sich dadurch, dass man den andern zu sich hereinlässt».* Erfüllt er mich in diesem Sinne ganz, dann bin ich auch im Stande, ihm aus seinem eigenen, höchst persönlichen Entwicklungsweg heraus eine Antwort auf seine Lebensprobleme zu geben.

Der persönliche Freiheitsbegriff

Wir sind jetzt auf eine merkwürdige Umkehrung gestossen. Der antisoziale Mensch nimmt im Wirtschaftsleben seinen Mitmenschen etwas weg; wird er da von seinen sozialen Kräften durchdrungen, dann gibt er ihnen, was sie benötigen. Im Geistesleben stülpt der asoziale Mensch seine Errungenschaften über seine Mitmenschen; durchdringt er sich mit sozialen Kräften, dann nimmt er den Mitmenschen in sich auf, übernimmt dessen Seelennot.

Aus den beiden grossen gesellschaftlichen Gebieten kommend, dem Wirtschafts- und dem Geistesleben, konnten wir feststellen, dass der Rechtsstandpunkt uns dazu veranlasst, die Not des Mitmenschen zum Motiv unseres Handelns zu machen. Er ging aus dem Kriterium jeden Rechtes hervor: was gebührt dem Menschen im Verhältnis zu seinem Mitmenschen. Wir dürfen daraus jetzt den

* C J. Zwart in ‹Tussen harmonie en conflict› S. 28.

Seite 17

Schluss ziehen, dass das Recht, in seinem vollen Umfang verstanden, mit dem Sozialen zusammenfällt. Damit wird zwar der gangbare Rechtsbegriff gesprengt, was aber den Vorteil hat, dass der ganze Strom der Rechtsverwirklichung einheitlich umfasst wird.

Das beinhaltet aber auch eine Trennung von Recht und Gesetz, ein unerlässlicher Unterschied, wenn man das Recht resp. die soziale Kraft als einen primären menschlichen Trieb erkennen will.* Was aus Geistes- und Wirtschaftsleben um Schutz gegen Vergewaltigung und Ausbeutung fleht und sich schliesslich in Gesetzen niederschlägt, kann unter Vorbehalt verursacht gedacht werden von den in beiden Gebieten herrschenden Zuständen. Diese Gesetze können mir aber niemals vorschreiben, die Not meiner Mitmenschen zum Motiv meines Handelns zu machen. Diese Möglichkeit entdecke ich als eine selbständige Qualität in mir. Das Unrecht, das in der Gesellschaft verübt wird, hat dabei ‹nur› diejenige Bedeutung, dass es mich weckt.

Fügt man die Verschuldung im Wirtschaftsleben und im Geistesleben zusammen, dann kann diese Erkenntnis zu einem tiefen Dankbarkeitsgefühl führen: ich empfinde mich als einen in jeglicher Hinsicht von seinen Mitmenschen Beschenkten. Die eigene Lage erscheint dann im Bilde der Selbstentäusserung: der Mensch legt allen ‹Besitz› als Unrecht ab; er erlebt seine Armut. Dann wird zum Lebensgefühl, was das alte lateinische Lied ausdrückte:

Ego sum pauper Ich bin ein Armer
nihil habeo ich habe nichts
et nihil dabo und kann nichts geben

Bin ich so weit, dass ich mich nur noch als Schuldner erleben kann, als Mensch, der alles, was er besitzt, anderen zu verdanken hat, dann bedeutet das aber zugleicherzeit, dass ich im Kern meiner Persönlichkeit durch nichts mehr belastet bin, dass ich nur noch Entelechie, Geistwesen bin. Als solches gleiche ich allen anderen Menschen. Hier kann ich die Gleichheit als Rechtsprinzip in ihrem Urquell fassen.

Das Überraschende ist aber, dass dieser zwischenmenschliche Gleichheitsbegriff zusammenfällt mit dem persönlichen Freiheitsbegriff. Dazu liefern uns sogar die banalen täglichen Erfahrungen Beispiele. Sich seines Besitzes zu entäussern, kann eine tiefe Befreiung sein, weil man fortan nicht mehr dafür leben muss;** Verlust der Möglichkeit für die eigene Existenz zu sorgen, macht einen erst eigentlich frei zum Einsatz der Arbeitskraft; das Incognito befreit einen von dem Zwang, seine früheren Ansichten mit sich herumzuschleppen usw. Wer aber den Weg bis zum Äussersten geht, der geht nach dem Bibelwort, durch das Nadelöhr und hat sich damit die wirkliche Freiheit zu eigen gemacht.*** Die Freiheit des irdischen Geisteslebens ist immer die Freiheit des Andersdenkenden, nicht die meine. Meine eigene Freiheit erlebe ich im Verhältnis zu meinen Mitmenschen, im Rechtsleben.

Das alles mag gedankenmässig als Bewusstseinsinhalt unschwer zu erkennen

* An dem Unwillen diesen Unterschied zu machen, scheitert das Streben der Juristerei, eine Wissenschaft zu werden. Siehe dazu meine Antrittsrede ‹Recht en wet› (= Recht und Gesetz).

** Ein gutes Beispiel dafür findet man in der 0-Nummer von Info-3 in dem ‹Bericht aus Marxistan (1)›.

*** Vergleiche dazu die von Hägerström und Lundtstedt aufgezeigte Bedeutung des Schuldnerseins im Römischen Recht (in ‹Die soziale Frage als Rechtsfrage› I/28, von H.G. Schweppenhäuser). Im Laufe des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses hat sich eine vollständige Umkehrung vollzogen. Das Römische Recht machte den Schuldner unfrei, er fiel ganz in die Macht des Gläubigers, wurde als reines Objekt dessen Eigentum, wenn er säumig war und durfte, wenn es mehrere Gläubiger gab, buchstäblich auseinandergerissen werden. Das moderne Rechtsbewusstsein hingegen nimmt aus Erkenntnis das Schuldnersein auf sich und kommt gerade dadurch zur Freiheit.

Seite 18

sein – damit ist das Soziale aber noch keine Wirklichkeit. Es gähnt ein Abgrund zwischen der Einsicht und der Praxis. Damit finden wir nicht nur eine Erklärung für die empiristische Verleugnung des Sozialen, damit kommen wir auch auf das Wesen des Gesetzes.

Recht und Gesetz

Da, wo formale Regeln aus wirklichem Rechtsstreben entstehen, kann man immer wieder zweierlei bemerken. Einerseits wird man versuchen, die Normen höher zu stellen als die herrschende Praxis, um sich zu dem Recht hin zu entwickeln. Andererseits dürfen diese Normen die Fähigkeiten der Mehrheit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe nicht überschreiten, denn sonst wird das Gesetz massenhaft übertreten. So können uns die Gesetze viel erzählen über das Rechtsniveau einer Gesellschaft.

Aber sogar noch in ihrer Unvollkommenheit offenbaren sie das ihnen zugrunde liegende Freiheitsprinzip. Wir müssen hier aber genau unterscheiden, wie sich dies im Individuum und in der Gesellschaft auswirkt.

Wenn ein Kreis von Menschen sich um die Kodifizierung einer wirklichen Rechtsfrage bemüht – das kann in einem Parlament, einem Gemeinderat, einer Vereinsversammlung sein –, dann ist keineswegs das Resultat vorgegeben. Es wird dabei ja immer um einen Vergleich zwischen den Rechten (oder den Rechtsgefühlen) der einen und der anderen Gruppe gehen. Dem danken wir z.B. unser Parteiwesen. – Man kann mehr oder weniger Polizei einsetzen, um den Bürger vor Gangstern zu schützen; man kann ihm mehr oder weniger Schutz gegen lärmende Nachbarn gewähren; man kann die Altersrente auf höheres oder niedrigeres Niveau bringen. Gewiss kann man oft, vom absoluten Standpunkt des Sozialen aus, die eine Lösung mehr Recht als die andere nennen, doch ohne dass letztere dadurch Unrecht wird. «In der Rechtsgelehrtheit kann eine bestimmte Antwort auf eine bestimmte Frage nie unzweideutig als ‹richtig› oder ‹falsch› qualifiziert werden, sondern höchstens als ‹haltbar›».* Das gehört zu jenem schon erwähnten Aspekt des Rechtes, dass es für den Grossteil jener, die es anbelangt, erträglich sein muss. Auch darin liegt ein gewisser Freiheitsraum.

Das ist nicht unwichtig. Einerseits liegt darin eine Quelle der Rechtsentwicklung, andererseits befindet sich an dieser Stelle der Prüfstein, ob man es mit Rechts- oder anderen Fragen zu tun hat. Man hat nämlich nicht die Freiheit zu entscheiden, dass fortan zwei mal zwei fünf sei. Das wäre eben einfach nicht wahr. Wir dürfen dies sogar verallgemeinern : Gesetze, die Erkenntnisfragen regeln wollen, sind Lügen. Ebensowenig kann man aber entscheiden, dass Rohrzucker besser ist als Rübenzucker, sodass der Anbau des letzteren eingestellt werden müsse. Ob das so ist, hängt ja von der individuellen Konstitution des Konsumenten ab. Eine Obrigkeit, die das eine Produkt auf Kosten des anderen bevorteilt, tut dem Individuum Unrecht an. Aber man kann, um eine ganz umstrittene Frage zu wählen, den Wehrétat auf Kosten der Altersrente erhöhen, ohne dass dies ohne weiteres Unrecht wäre.

* A. Komen in ‹Denken over encyclopedie› S. 13. Es entsteht hier aber ein neues Kriterium: haltbar gegenüber unhaltbar. Findet man die Essenz des ‹Haltbaren› rnehr in der Dehnbarkeit der Quantität (wieviel Altersrente, wieviel Zugeständnisse darf ich mir erlauben), so hat die Unhaltbarkeit eine qualitative Richtschnur. Ein Gesetz oder eine Bestimmung, die die Würde des Menschen verletzt, ist nicht zu verteidigen. Die Grenze zwischen Recht und Unrecht ist hier haarscharf. Beispiel: es ist zu verteidigen, wenn ich im Einvernehmen mit Kollegen bestimmte Inhalte nicht vortrage, auch wenn ich sie für wesentlich halte. Es ist nicht zu rechtfertigen, wenn dasselbe als Bedingung gestellt oder vom Gesetz oder irgend einer Mehrheit gefordert wird.

Seite 19

Wenn man nun das Gesetz, die Regel als das verabredete Rechtsniveau betrachtet, dann steht es wiederum in der Freiheit des Individuums, dieses Niveau anzuerkennen. Es kann aus seinem eigenen Rechtsbewusstsein heraus sich der ihm verliehenen Rechte nicht bedienen; niemand kann ihn zwingen, sich weniger sozial seinen Mitmenschen gegenüber zu verhalten als er für richtig hält. Aber er kann auch nach der anderen Seite hin die Grenze überschreiten. Man kann die Forderungen, die das Gesetz stellt, abweisen und die Strafe vorziehen. Es wäre unrichtig, diese Haltung generell zu verurteilen. Es wäre ja auch möglich, dass das Gesetz ein zu hohes Niveau hat, das viele Menschen überfordert. Es könnte aber auch ein zu niedriges Niveau haben. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass dann willkürliche Verletzung des Gesetzes das allgemeine Rechtsempfinden ruckweise vorwärtsbringen kann. Damit sind wir aber bereits in die Dynamik der drei Gesellschaftsbereiche eingetreten.

Kehren wir noch einmal zur Zweiheit Recht-Gesetz zurück. Was wir als Recht anerkennen, zwingt uns noch keineswegs dazu, in der Praxis auch danach zu handeln. Koch* führt eine Reihe von Werten auf (Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Liebe, Menschenwürde), zu denen er bemerkt, dass sie «ein Humanverhalten (treffen), das seinem Wesen nach frei geleistet wird, nicht gefordert werden kann und dennoch Untergrund auch der Verbindlichkeiten ist, die als Forderung und Recht auftreten.» Diese Polarität, die wir als Prozess noch näher betrachten werden, tritt auf als der Gegensatz von Freiheit und Zwang. Die Freiheit beruht auf dem Individuum. Die Körperschaft, die den Zwang ausüben lässt, ist der Staat. Sein Wahrzeichen ist die Macht. Hätte er keine Macht, wäre er kein Staat.

Aus dieser Polarität geht auch noch folgendes hervor. – Freiheit kann sich nach allen Seiten hin frei ausstrecken. Den menschlichen Werten, wie sie aus dem Recht hervorquellen, sind keine Grenzen gestellt: man kann immer noch mehr Gerechtigkeit, noch mehr Menschenwürde verwirklichen. Der Staat hingegen kann alle Werte zu sich hereinnehmen und sie durch seine Macht abzwingen. Die anti-soziale Raffsucht, die sich des Gesetzes bedienen will; der asoziale Missionseifer, der zwingen will, wo das Überzeugen nicht gelungen ist; das soziale Streben, den Menschen nach beiden Seiten hin zu schützen – sie sind alle drei, wie verschieden sie auch sonst sein mögen, Ausdruck des Willens, Macht zu benutzen.** Wir werden den Staat noch als das Loch kennenlernen, das man sowohl mit Recht als mit Unrecht füllen kann.

* o.c. S. 21. Dabei ist zu bedenken, dass Koch auch das Gesetz Recht nennt. Er stand damit vor der Notwendigkeit, für dasjenige, was hier Recht genannt wird, einen anderen Namen zu suchen. Es gibt da übrigens viele Namen und Begriffsschattierungen. Radbruch z.B. deutete, was hier Recht genannt wurde, mit Rechtsidee an. Das wäre dann aber (frei nach Goethe) eine Idee, die man gesellschaftlich erleben kann.

** Das Merkwürdige ist übrigens, dass diese Werte dann ihre individuellen Qualitäten verlieren. Erzwungene Toleranz, erzwungene Arbeit für die Bedürfnisse anderer (Steuer) ist keine soziale Handlung mehr. Ebenso aber kann Zwang asoziale und antisoziale Taten, wenigstens teilweise, disculpieren (‹Befehl ist Befehl›). –

Mit der Auffassung von Koch (S.144 u.f.), dass des Menschen Wille zur Macht in einen spezifischen totalitären Staat, den grauen Totalismus, mündet, kann ich nicht übereinstimmen. Macht ist nicht mehr als ein Instrument, dessen man sich bedienen kann, um seinen (eventuell krankhaften) Willen zur Selbsterhaltung oder seinen Fanatismus in welchen totalitären Tendenzen auch immer zu verwirklichen. Der Essenz des grauen Totalismus werden wir zwar im Staat, aber gerade nicht dem menschlichen Triebleben entsprungen, noch begegnen. Siehe S. 30

Seite 20

V. Das Recht zwischen Wirtschafts- und Geistesleben

Wir wollen nun untersuchen, was es bedeutet, wenn man vom Rechtsstandpunkt aus am Wirtschafts- und Geistesleben teilnimmt. Betrachten wir erst das Wirtschaftsleben.

Recht und Wirtschaftsleben

Wer sich als Schuldner erlebt, dem werden sich daraus einige Richtlinien ergeben:

1. Arbeiten für die Bedürfnisse der Mitmenschen. Dieser bereits angedeutete Impetus bringt von anderer Seite her zum Ausdruck, was Steiner als das ‹Soziale Hauptgesetz› beschrieb.* Es ist die Verwirklichung des Gedankens, dass ich die Arbeit leiste, ohne Gegenleistung zu verlangen; dass ich also arbeite aus dem Vertrauen, dass andere für mich arbeiten werden wie ich für sie. Institutionell schliesst das die Trennung von Arbeitsleistung und Einkommen ein. In der gesellschaftlichen Sphäre erscheint dann die Einkommensbildung als Rechtsfrage, also nicht wie bisher als Wirtschaftsfrage.** In der Individualsphäre braucht man aber, was einem gesetzlich zugebilligt wird, nicht (ganz) für den eigenen Bedarf zu benützen. Hier entsteht der im vorigen Kapitel angedeutete Freiheitsraum.

2. Bei der Produktion so sparsam wie möglich mit den Mitteln umgehen. Dabei ist zu beachten, dass diese Maxime nicht mit dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit übereinstimmt, wie das üblicherweise in der Wirtschaftswissenschaft formuliert wird. Es geht nämlich nicht um privat- oder nationalökonomische Sparsamkeit im Dienste der Gewinnmaximierung. Wir wissen, dass für letztere Vergeudung ein Wirtschaftlichkeitsgebot sein kann! Der Rechtsgesichtspunkt hingegen geht davon aus, dass alles, was die Natur zu bieten hat, knapp und darum wertvoll ist, dass also jede Verschwendung bei der Produktion, wie erträglich vielleicht auch meinem eigenen Produktionsprozess, auf Kosten meiner Mitmenschen geht.

3. Für die Produktion sind die Bedürfnisse der Mitmenschen Gegebenheiten. Es steht niemandem zu, den Konsumenten gegenüber paternalistisch oder gar moralisierend aufzutreten. Wie ich nur mir allein das Recht zugestehe über meine eigenen Bedürfnisse zu urteilen, so habe ich auch nicht über die Bedürfnisse meiner Mitmenschen zu urteilen. Da wo die Produktionsentscheidungen fallen, «darf in keiner Weise irgend eine Ansicht herrschen,... ob irgendein Bedürfnis berechtigt ist oder nicht, sondern es muss sich lediglich handeln um das objektive Konstatieren eines Bedürfnisses».*** Das besagt übrigens keineswegs, dass ich nun an jeder Produktion mitzuwirken verpflichtet wäre. Wenn ich als Verleger trotz Nachfrage keine Sensationen drucken lassen will, dann bedeutet das nicht mehr, als dass ich mich auf ein bestimmtes Marktsegment beschränke. Nötig ist aber, dass, es sei denn sie brächte andere als den Besitzer in Gefahr (Waffenbesitz), gesellschaftlich jede Produktion geleistet werden kann, wenn Nachfrage da ist.

4. Auf politischer Ebene werde ich als Bürger daran mitarbeiten, dass das Wirtschaftsleben in so einen rechtlichen Rahmen gestellt wird, dass es überhaupt nicht mehr anders möglich ist, als aus den Bedürfnissen der Mitmenschen heraus zu arbeiten. Der Rechtsstandpunkt fordert von mir, dass ich eine gesetzliche Re-

* In ‹Geisteswissenschaft und soziale Frage›, GA 34

** Von wirtschaftlichem Standpunkt drückt Koch (o.c. S. 28) dasselbe aus: «Wo immer ‹meine› Arbeit und ‹mein› Fleiss untrennbar sind von der Leistung anderer, bleiben auch ihre Früchte untrennbar». Rein wirtschaftlich kann mein Anteil am Erlös unserer Leistung nicht mehr festgestellt werden. Rechtlich gesehen soll er es nicht.

*** Rudolf Steiner in GA 338/9.

Seite 21

gelung der Trennung von Arbeit und Einkommen befürworte, genau so wie das Entziehen von Machtsmitteln, wodurch das Wirtschaftsleben die Mitmenschen ausbeuten kann.

5. Als Konsument wird mein Verschuldungsgefühl dazu führen, dass ich meine eigenen Bedürfnisse zu beschränken trachte auf dasjenige, was meiner biologischen Art entspricht.

6. Schliesslich obliegt es mir als Teilnehmer des Geisteslebens, diese Gedanken über Recht und Wirtschaft zu verbreiten.

Das Bild, das dann entsteht ist, dass ich nicht mehr für mich selbst arbeite (wie das im Geistesleben richtig ist), mich nicht von der unmittelbaren Begegnung motivieren lasse (wie es im Rechtsleben stimmen würde), sondern dass ich für meinen unbekannten Menschenbruder arbeite. Wenn das Wirtschaftsleben sich mit dem Sozialen durchdringt, dann legt es mir Gehorsam auf : den Bedürfnissen anderer gegenüber; vor den Gesetzmässigkeiten der Technik, der Organisation, der Wirtschaftlichkeit; gegenüber meinen eigenen biologischen Bedürfnissen.

Nochmals sei darauf hingewiesen, dass das, was hier als Richtlinien schlagworthaft zusammengefasst ist – jeder Punkt würde eine ausführliche Darstellung fordern – den Charakter eines Ideals hat. Es sind Fragen, die aus dem Rechtsleben heraus an das Wirtschaftsleben gestellt werden. Kaum ein Mensch, geschweige denn eine Gemeinschaft, wird ihnen in vollem Umfang Genüge tun können.

Deswegen sind es aber noch keine utopischen Forderungen. Man würde den Sinn des hier Gemeinten vollständig verkennen, wenn man darin einen Aufruf zur Askese und Selbstkasteiung entdecken wollte. – Die Wirklichkeit doch ist das Zusammenspiel der sozialen und der unsozialen Kräfte. Will man die Prozesse, die sich in der Gesellschaft abspielen, verstehen, will man vielleicht sogar ordnend in diese Gesellschaft eingreifen, dann geht das nicht ohne Erkenntnis dieser Kräfte in Reinkultur. Wir haben hier den sozialen Pol allein zu Wort kommen lassen. Wir werden uns noch damit zu beschäftigen haben was geschieht, wenn er mehr oder weniger fehlt.

Recht und Geistesleben

Betreten wir nun auch mit dem Rechtsgefühl des Schuldners das Geistesleben – was bedeutet es hier, sozial zu sein? Nicht, dass ich das, was ich mir erarbeitet habe, anderen einfach zur Verfügung stelle. Gewiss, eine Übereinstimmung mit dem Sozialen im Wirtschaftsleben besteht darin, dass ich auch hier nur produzieren soll, was der Mitmensch nötig hat. Die Situation jedoch ist eine ganz andere.

Wie bereits dargestellt, sieht von mir aus gesehen mein Platz im irdischen Geistesleben so aus, dass mein Rechtsgefühl dem Mitmenschen auf seinen Entwicklungspfaden behilflich sein will. Im Wirtschaftsleben kann ich ihm behilflich sein, für seine Bedürfnisse arbeiten, wenn ich mich in ihn versetze. Das macht mir unsere gemeinsame biologische Grundlage möglich. Im Geistesleben geht das nicht, da würde ich mich ja selber mitnehmen und dann kommt immer so etwas heraus wie: wenn ich der Herr Maier wäre, würde ich diesen Bengel aber übers Knie legen; wenn ich Sie wäre, dann würde ich den Herrn Müller verklagen. ‹Sich in den andern versetzen› ist ja buchstäblich genommen (und nur all zu oft auch im Leben), gerade jene Tendenz des Wirkenden im Geistesleben, die sich selbst im andern Menschen erleben will, die eigene Auffassungen dem andern Menschen auferlegen will.

Seite 22

Das Soziale im Geistesleben fordert, dass ich mich dem Mitmenschen öffne, dass ich ihn einlade, sich in mir auszusprechen, so dass ich seine Entwicklungsfragen als die meinigen erleben kann. Erst wenn man diese Entwicklungsfrage wirklich vernommen hat, sollte man sprechen. «Aus blosser menschlicher Vorliebe heraus sollte nicht einmal eine Wahrheit produziert werden».*

Dieses Warten auf der einen Seite bis man eingeladen wird, sich im andern auszusprechen; dieses Warten auf der anderen Seite mit der Antwort, bis eine Frage vernommen ist, das könnte man vergleichen mit dem, was man früher die Tugend der Keuschheit nannte.

Nun fällt von einer neuen Seite Licht auf die Freiheit des (irdischen) Geisteslebens. Ich bin zwar nicht frei, etwas anderes zu erkennen als das, was ich als richtig erkannte. Darum kann es insoweit ausschliesslich um die Freiheit des Andersdenkenden gehen. Indem aber das Soziale in das Geistesleben einzieht, tritt damit auch ein Stückchen Freiheit ein. Ich kann gewiss dasjenige, was der andere als eine von der meinen abweichenden Anschauung in sich trägt, nicht übernehmen. Ich bin aber frei, in seinen Gedankengängen mit ihm mitzudenken. Ich kann ihm sogar aus seiner eigenen Weltanschauung heraus Entwicklungshilfe leisten, wenn jene gar nicht mit der meinen übereinstimmt.

Was das Soziale bewirken will, ist die Umkehrung dessen, was der asoziale und antisoziale Trieb bewerkstelligen : die raffende Gebärde im Wirtschaftsleben wandelt sich in eine gebende, die sich drüberstülpende Gebärde im Geistesleben wandelt sich in eine aufnehmende. Gewiss, der Mensch ist als biologisches Wesen dazu verurteilt, antisozial im Wirtschaftsleben zu sein. Der soziale Trieb in ihm kann dieses Fatum aber auf seine Verbraucherrolle beschränken; als Produzent kann er sozial sein. Und genauso ist der Mensch dazu verurteilt, asozial im Geistesleben zu stehen. Der soziale Trieb in ihm kann dieses Fatum aber auf seine Rolle als ‹Produzent› beschränken, d.h. auf das Herunterholen und Sichaneignen von Wahrheit. Als Konsument, d.h. Ideen von anderen Menschen aufnehmend, kann er sozial sein.

Insoweit nun dieses Soziale allgemeine Anerkennung gefunden hat, hat es sich in Gesetzen niedergeschlagen. Die zeigen natürlich alle Gebrechen des Allzumenschlichen. Es ist die lex humana des Thomas von Aquino. Niemand wird aber leugnen wollen, dass manches getan ist, um den Menschen vor Ausbeutung seitens seiner Mitmenschen zu schützen; dass ihm manche Rechte gewährt werden, um ihn vor Vergewaltigung zu schützen. Dass dies als noch zu wenig empfunden wird, wäre an sich nicht schlimm. Hier läge ganz einfach eine Aufgabe. Was beunruhigt ist, dass man mehr und mehr das Gefühl bekommt, dass mit Gesetzen das Gegenteil des Sozialen angestrebt wird. Ist das so? Und wenn ja, wie dürfen wir das verstehen?

VI. Recht und Gesetz

Recht hat es gegeben seit es Menschen gibt. Der Mensch als zoon politikon, als gemeinschaftsbildendes Wesen, musste das Zusammenleben irgendwie ordnen. Sitte und Gewohnheit sind die ältesten bekannten Formen. Mit ihren Tabu's und Volksgerichten waren sie oft stärker als die späteren Gesetze. Sie leben noch heute fort in dem, was die amerikanische Soziologie social control nennt: die Beherrschung des Betragens durch die Auffassungen der Umwelt. Wenn heute die ‹Dame aus besseren Kreisen› findet, dass sie nicht zweimal dasselbe Gesellschaftskleid

* Rudolf Steiner in GA 190/12

Seite 23

anziehen kann, weil ‹man› (d.h. ihre Statusgruppe) sonst findet, dass sie sich kein zweites Kleid leisten kann, dann ist damit an einem extremen Fall gezeigt, was noch in uns allen lebt. Denn im Wesentlichen ist es bei ihrer Tochter nicht anders, wenn sie sich weigert ein Kleid zu tragen, weil wer nicht in Jeans in der Schule erscheint, ausgelacht wird.

Das Gesetz wird erst nötig, wenn entweder die Sitten und Gewohnheiten sich lösen oder eine mächtige Gruppe findet, dass die bestehenden Rechtsverhältnisse geändert werden müssen. Letzteres hat auf die Dauer nur Erfolg, wenn ersteres bis zu einem gewissen Grade bereits eingetreten ist.*

Ohne auf die Hintergründe einzugehen, sei hier einfach festgestellt, dass im Laufe der industriellen Revolution und der dadurch hervorgerufenen Verstädterung der zwingende Charakter von Gewohnheit und Sitte in der westlichen Zivilisation immer mehr verschwand. Das bedeutete, dass vieles, was bis dahin selbstverständlich war, nun gesetzlich geregelt werden musste. Aber nicht nur das Althergebrachte, vor allem auch neue Rechtsbedürfnisse forderten gesetzliche Regelungen.

Das Antisoziale annektiert die Gesetzgebung

In einem Jahrtausende langen Prozess rang die Menschheit um Befreiung von Ausbeutung. Immer wieder unterbrochen von Rückfällen wurde der totale Sklave zum Leibeigenen, zum Hörigen, schliesslich zum ‹Lohnsklaven›, indem den Besitzern immer mehr Rechte genommen wurden. Hinzukommt, dass die anschwellenden Sozialgesetze, weil sie unsere Wirtschaft zu ersticken drohen, uns heute vor das Dilemma zu stellen scheinen: Gerechtigkeit oder Wohlfahrt? Das ist aber nur Schein, denn was hier mächtig an die Oberfläche drängt, ist das Rechtsgefühl, das jedem Menschen – faul oder fleissig, ehrlich oder kriminell, klug oder dumm, schwarz oder weiss – das Recht auf ein menschenwürdiges Dasein zugesteht. Was aber die Sache so kompliziert macht und uns unter den Folgen der Sozialgesetze zu ersticken droht, das ist die Aufrechterhaltung des alten kapitalistischen Dogmas, dass Arbeit Ware ist, die auf dem Arbeitsmarkt ihren Preis erhält. Um die ärgsten Folgen des Arbeitsmarktes auszumerzen, werden Hunderte von Gesetzen erlassen, die Hunderttausende von Beamten benötigen – statt des einen Gesetzes, das das Einkommen zu einer Rechtsfrage macht.

Und abermals stossen Recht und Gesetz aufeinander, wenn es um die Benutzung der Reichtümer der Erde, um die Verfügung über das Kapital geht. Erstere sind doch eine Gabe für die ganze Menschheit, letztere eine Errungenschaft von ihr als Ganzheit. Als absolutes Privateigentum aber werden Bodenreichtum und Kapital zu Instrumenten der Ausbeutung. Wieder begegnen wir einem Dogma, mehreren Dogmen: dass jeder Gegenstand Eigentumsobjekt sein muss; dass nur der Kapitalmarkt Fehlinvestierungen verhindern könne; dass Eigennutz der einzig mögliche Motor der Wirtschaft ist. Hunderte von Gesetzen werden erlassen, Hunderttausende von Beamten eingestellt, um die schlimmsten Folgen zu lindern – statt des einen Gesetzes, das Kapital, Boden und Naturschätze sozialisiert. Wie auf dem Arbeitsgebiet der Schutz des Menschen eine Trennung von Arbeitsleistung und Einkommen fordert, so ist auf diesem Gebiete eine Trennung von Verwaltung und Verfügung fällig.

* Eine Ausnahme müsste vielleicht für die mosaischen Gesetze und Gebote gemacht werden. Deren Gehorsam forderte aber auch eine dreissigjährige Wüstenwanderung. – Eine interessante Bestätigung findet man überall dort, wo der Imperialismus seinen Kolonialvölkern zwar seinen Zwecken dienende Gesetze auferlegte, darunter aber, und das ausschliesslich für die Einheimischen, das noch vollständig integrierte Gewohnheitsrecht unverletzt liess.

Seite 24

So könnte man noch auf die verschiedensten Faktoren des Wirtschaftslebens hinweisen, um immer wieder festzustellen: das soziale Ringen um den Menschen gegen die antisozialen Neigungen seiner Mitmenschen zu schützen, kommt in der Gesetzgebung ungenügend zum Ausdruck, weil dem Rechtsempfinden Gespenster aus dem früheren Geistesleben gegenüberstehen, die sich im Wirtschaftsleben als Ideologien breitgemacht haben.

Wären diese Dogmen die einzigen Ursachen des Gegensatzes von Recht und Gesetz, man dürfte erwarten, dass man mit Aufklärung auf evolutionärem Wege das Rechtsempfinden in der Gesetzgebung zum Ausdruck bringen könnte. Das Gesetz würde auf die Dauer dem Wirtschaftsleben diejenigen Rechte wieder abnehmen, die es sich ‹unrechtmässig› zugeeignet hat. Es würde es dadurch erst in die Lage versetzen, aus seinen eigenen, wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten heraus autonom – und das heisst: optimal – zu funktionieren, ohne Sozialschäden zu verursachen.

Es ist aber noch eine ganz andere Macht im Spiel als das Trägheitsgesetz; eine Macht, die die oben erwähnten Dogmen, die zweifelsohne einmal aus ehrlichem Wahrheitsstreben des Geisteslebens entstanden sind, als willkommene Instrumente benutzt. Das ist das antisoziale Streben selber, das, soziale Gesetze verhindernd, einen Griff nach der Gesetzgebung tut.

Wie wir gesehen haben, wurden Gesetze nötig, als die Selbstverständlichkeit sozialen Verhaltens fragwürdig wurde, als Gewohnheiten und Sitten nicht länger zwingend waren. Aber gerade weil sie nicht mehr als zwingend erlebt werden, beruht das ihre Stellen einnehmende Gesetz nicht mehr auf festem Gefühlsboden. Äusserlich ist das Gesetz zwar zwingend, aber es kann nicht mehr das Gefühl erregen, dass es so und nicht anders sein muss. In dieser Situation der Zersetzung wird es möglich, Gesetze durchzuführen, die der Raffsucht von Interessengruppen entgegenkommen. Es ist für sie von vitaler Bedeutung, auf die Gesetzgebungsmaschine Einfluss zu erhalten. Wir kennen alle den Begriff ‹lobby› – das Beeinflussen, Überreden, Bestechen von Volksvertretern. Watergate und seine Nachwehen konnten denjenigen, die es bisher noch nicht wissen wollten, die an unsere demokratisch zustande gekommenen Gesetze glaubten, die Augen öffnen. Millionen Dollar beeinflussten die italienischen Wähler (unsere etwa nicht?); andere Millionen wurden verwendet, um Gremien und Experten zu ‹überzeugen›, damit die Jagdflugzeuge – von der demokratisch gewählten Regierung – durch ein amerikanisches Modell ersetzt würden; Tausende von Toten kostet der Druck der deutschen Autoindustrie, der die Einführung einer Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen verhinderte.

An den Staat als ein mystisches Gebilde glaubt die Wirtschaft schon lange nicht mehr; dafür ist sie zu international orientiert. Die nationalen Töne sollen höchstens Aufträge für die Waffenindustrie herbeischaffen. Schon längst hat man da entdeckt, dass der Staat ein Hohlraum ist und dass es darauf ankommt, ihn mit den ‹richtigen› Menschen zu füllen. Dann werden die Gesetze nicht mehr Ausdruck einer der Ausbeutung halt gebietenden sozialen Empfindung, sondern geradezu Mittel zur Befriedigung der antisozialen Triebe.

Auf die Dauer ist das aber nur zu erreichen, wenn die sozialen Gefühle der Bevölkerung korrumpiert werden. Dann darf man aber nicht bei der Gesetzgebung stehen bleiben, sondern muss in das Geistesleben vordringen. Reklame (hidden persuaders) und Propaganda (repete et impera) müssen bei dem Durchschnittsmenschen den Eindruck erregen, dass das, was sich hier als antisoziales Machtstreben in Gesetzen verkörpert, wenn nicht gleich die Summe der Gerechtigkeit, so

Seite 25

doch wenigstens eine unumgängliche Massnahme ist. Mit genialer Beobachtungsgabe nannte Orwell das Folterministerium ‹ministry of love›: überall werden den gesellschaftlichen Phänomenen Namen gegeben, die genau die entgegengesetzten Gefühlsinhalte zu dem haben, was sie andeuten. Eine der neuesten Erfindungen ist der ‹Entsorgungspark› für Atommülldeponie. Der Griff nach dem Staat, der Griff nach dem Geistesleben, sie haben jenes Wirtschaftsimperium zur Folge, in dem der Einzelne zum ausgebeuteten, unterdrückten und hirngewaschenen Objekt erniedrigt wird. Dieses Imperium, diesen westlichen Einheitsstaat bezeichnet man landläufig als Wohlfahrtsstaat.

Das Asoziale annektiert die Gesetzgebung

Ähnliches müssen wir nun für das Geistesleben beschreiben. Auch da sehen wir eine lange Entwicklung, die sich erst im Spätmittelalter zu einem Rechtsanspruch auf Freiheit der persönlichen Entwicklung verdichtete. Gewissensfreiheit der Kirche gegenüber; die Autonomie der ersten Universitäten mit ihrer Freiheit von Lehre und Forschung; die mehr aus dem Westen kommende Forderung politischer Freiheiten – sie mündeten im Laufe des 19. Jahrhunderts in den meisten europäischen und in den Vereinigten Staaten in Verfassungen, in denen der Staat die Grundrechte seiner Bürger garantiert. Wäre dasjenige, was nach dem zweiten Weltkrieg seinen Ausdruck in der Erklärung der Menschenrechte gefunden hat, heute allgemeine Praxis, dann hätte das Rechtsgefühl sich tatsächlich einen Damm geschaffen gegen asoziale Tendenzen von Einzelnen und Gruppen. Man könnte dann höchstens noch hier und da von historischen Überresten einer barbarischen Vergangenheit sprechen.

Auch hier aber hat sich herausgestellt, dass die Gesetze genau so wie der Abwehr, der Verwirklichung des Asozialen dienen können; dass es durch Gesetze möglich ist, die eigene Weltanschauung, die eigenen Wahrheiten den Untertanen aufzudrängen. Die Geschichte der Sowjetunion illustriert das so lebendig, dass auf eine nähere Beschreibung verzichtet werden kann. Wie das Wirtschaftsleben, so hat auch das Geistesleben den Staat als Hohlraum entdeckt, den es mit den ‹richtigen› Menschen zu füllen gilt.

Aber genau so wie dort, ist nur die Usurpation des Staates ungenügend. Der Mensch lebt zwar nicht von Brot allein, aber auch nicht allein von Propaganda. Das Wirtschaftsleben muss im Dienst der Ideologie arbeiten, wenn es nicht gar wie in Russland, Ausdruck dieser Ideologie selber sein soll. Dem Griff nach dem Staat folgt zwangsläufig der Griff nach der Wirtschaft. Der Geistesimperialismus steht dem Wirtschaftsimperialismus in keiner Weise nach. Das Ziel, der Mensch als hirngewaschenes Objekt, ist nur zu erreichen, wenn er sowohl rechtlos gemacht wie wirtschaftlich atomisiert wird. Nicht in all seinen Mitteln, aber in seiner Struktur gleicht der östliche Einheitsstaat (Heilstaat) dem westlichen (Wohlfahrtsstaat) wie ein Haar dem andern.

Die Legislative und der Funktionär

Das Überhandnehmen des Antisozialen respektive Asozialen erklärt viel, aber nicht alles unseres heutigen gesellschaftlichen Ringens. Wir müssen noch einen dritten Faktor kennenlernen.

Wer auf die interne Struktur unserer Mammutkonzerne hinschaut, der kann bemerken, dass dort immer wieder der Obere den Unteren hinauswirft, wenn dieser

Seite 26

den in Gewinn ausgedrückten Zielsetzungen nicht entspricht. Das persönliche Engagement ist ganz auf die Erreichung vorgegebener Leistungsnormen ausgerichtet. Die modernsten technischen Errungenschaften werden dazu bereitgestellt. Inwieweit dabei menschliche oder unmenschliche Verhältnisse auftreten, wie man diesen begegnet, das wird ausschliesslich aus ihrer Funktionalität zur Erreichung des Zieles beurteilt. Es ist der Computer, der den nächsten Schritt diktiert. Das Ganze wird zusammengehalten durch die nackte Existenzangst der darin Arbeitenden: durch die Angst vor Entlassung bei den Arbeitern; durch die Angst, im Konkurrenzkampf mit anderen Dinosauriern zu unterliegen, bei den Leitenden. So wird das Prinzip der Wirtschaftlichkeit, das seine volle Berechtigung im Umgang mit der Ware hat, auch und gerade auf menschliche Beziehungen angewandt.

Gewiss, so weit sind wir noch ganz im Reich des Antisozialen. Aber was sich dabei herausschält und wovon wir in unserer Zeit erst den Anfang miterleben, ist etwas von noch ganz anderer Qualität. Es ist der Funktionär. Für ihn sind Mitmenschen ebenso unwichtig wie die Waren, die zum Unternehmen hin und wieder herauströmen. Treue, Liebe, Menschlichkeit, Solidarität sind für ihn gerade so nur Worte wie Verrat, Hass, Egoismus. Die ganze Skala des Gefühlslebens ist bei ihm wie ausgelöscht. Die Umwelt ist ihm nur Mittel zum Zweck – aber nicht zum Zweck des Unternehmens (oder der Kanzlei), in dem er arbeitet. Es ist seine eigene Funktion, die zum Selbstzweck erhoben wird. Das, was nach aussen hin als Liebenswürdigkeit erscheint, ist Maske.

Nun, nicht nur das Wirtschaftsleben bringt diesen Funktionärstyp hervor; in gewissem Sinne hat der Kapitalismus da sogar einen ‹Rückstand›, weil er seinen Funktionären (noch) in bescheidenem Masse ein Privatleben gönnt. Wird dieses zur Entwicklung menschlicher Qualitäten benutzt, dann entstehen merkwürdig gespaltene Wesen. – Man konnte das am deutlichsten an den primitiven Spielarten unserer heutigen totalitären Staaten erleben. Wir sehen dann z.B. eine Ilse Koch vor uns, deren harmonisches Familienleben von einer Lampe beschienen wird, deren Bezug aus der Haut eines eigenst dafür getöteten tätowierten Gefangenen verfertigt wurde. Nebenbei sei bemerkt, dass diese furchtbare Szene, in unsere heutige Weltökonomie transponiert, sehr gut als Sinnbild unseres Wohlstandes fungieren kann.

Da wo das Geistesleben an der Macht ist, tritt der Typ noch ausgeprägter hervor. Wir deuten ihn denn auch gerne mit seinem russischen Namen an: Apparatschik. Mit ihm verglichen macht Ilse Koch noch einen menschlichen Eindruck. – Wir wissen, dass sich unter dem Bolschewismus nur der in seiner Funktion hält, der jeder Schwenkung der Elite reibungslos folgt. Bringt er das nicht fertig, dann verliert er wenigstens seine Stellung ; unter Stalin sogar seinen Kopf. Das Resultat ist aber, dass er sich gerade nicht vollständig für das ihm gesetzte Ziel einsetzen wird. Dann würde er sich nämlich exponieren und bei einem nächsten Kurswechsel liquidiert werden. Niemand, der Wolfgang Leonhards ‹Die Revolution entlässt ihre Kinder› gelesen hat, wird je das erste Auftreten Ulbrichts 1945 in Berlin vergessen können.

Man hat das Phänomen von vielen Seiten zu fassen versucht und doch bleibt es irgendwie ungreifbar. Man sprach von Schreibtischmördern (Eichmann), doch allein schon dieser Terminus lenkt davon ab, dass es an sich gar nicht wichtig ist, dass er ein Mörder war. Das ist nicht mehr als ein sprechendes Symptom. Vielleicht hätte er, unter anderen Umständen, allen Invaliden ein Weihnachtspaket geschickt. Er hätte auch das aber nicht aus sozialem Empfinden getan, sondern weil es zu seiner Funktion gehört. Das ist es, was die Bildung eines Urteils über Funktionäre zu einer überaus heiklen Sache macht.

Seite 27

Es ist deutlich, dass wir uns hier dem Zerrbild des Staatsbeamten zu bewegen. Tatsächlich gehört der beschriebene Typ zur Karikatur des Staatsapparates wie er so gerne in Witzblättern erscheint. Das Gruselige ist aber, dass das, was in jedem Menschen – und vielleicht in Beamten ganz besonders – schlummert, immer öfter nicht mehr Karikatur, sondern lebendige Wirklichkeit ist. In dem Masse nämlich, in dem Wirtschaft oder Ideologie sich des Staates bemächtigen – oder, wie unsere Konzerne, eine Staatsmacht in sich selber sind – kommt auch der Funktionär, äusserlich wie in uns, an die Macht. Warum?

Das Emporkommen des Anti-Rechtsstaates

Bei Staatsaktivitäten, die sich auf das Rechtsleben beschränken, kann der Beamte die Reichweite seiner Handlungen noch übersehen. Er weiss, wann sie sich gerecht auswirken, wann ihnen eine unbeabsichtigte Härte innewohnt. Der richtige Beamte hat es immer vermocht, unnötige Härte zu mildern, dem Bürger andere Wege zu weisen oder ihn bei den Instanzen einzuführen, die für Ausnahmen zuständig sind. Er empfand sich als im Dienste der Bevölkerung stehend und das gab ihm seine Lebenserfüllung. Noch heute kann, wer nach England oder Irland fährt, dieser Art von Polizisten auf Schritt und Tritt begegnen.

Was sich in unseren Tagen aber als Gesetzesnetz über die Menschheit ausbreitet, ist weder in seinen persönlichen, noch in seinen beabsichtigten sachlichen Folgen für einen Beamten zu überschauen. Die Gesetze haben ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Sie sind ‹von-ungefähr-Bestimmungen›, d.h. in ihnen lebt kein moralischer Wert mehr; sie haben daher auch nicht eine Tendenz, die man als für jedermann zwingend ansehen könnte. In der Praxis ihrer Ausführung ist man ja auch zufrieden, wenn sie das gesellschaftliche Verhalten so beeinflussen, dass 70 bis 80% der Betroffenen sich an die Regel halten. Wenn dies der Fall ist, wird die Ahndung von Vergehen weitgehend unterlassen und dem ‹Zufall› anheimgestellt oder aber benutzt, um eine Person unschädlich zu machen. – Wir müssen dazu feststellen, dass die Bestimmungen, die die Abläufe des Geisteslebens und des Wirtschaftslebens regeln, grundsätzlich keinen Eigenwert haben. Sie sind nicht Ausdruck eines moralischen Urteils – es sei denn, sie schützen den Menschen innerhalb ihrer Gebiete –, sondern sie ergeben sich aus sachlichen oder fachkundigen Gesichtspunkten.

Es ist vor allem die Vermischung von rechtlichen Problemen mit anderen Aufgaben und Zielen, die der Kenntnis im Wege steht, was mit den Gesetzen wirklich beabsichtigt ist. Soll der Beamte sich ein Urteil anmassen über die Frage, ob der Anwärter auf ein Medizinstudium zur Universität zugelassen werden sollte, weil er seit seinen Kinderjahren eine medizinische Berufung empfand, aber seine Durchschnittsnote beim Abitur unter der Grenze lag? Weiss er denn, ob der numerus clausus nicht gerade deshalb die Note entscheiden lässt, weil dadurch wirklich therapeutisch empfindende Menschen, die später aufsässig werden könnten, von vornherein ausscheiden? – Soll sein Kollege etwa einem Kleinbauern Wege zeigen, um sich wirtschaftlichen Verordnungen, die ihn in den Bankrott treiben, zu entziehen? Weiss er denn, ob die Massnahmen nicht deshalb so und nicht anders aussehen, weil man die kleinen Bauern zum Aufgeben zwingen will?

In dieser Welt von Schein und Fassade hat die Stunde des Funktionärs geschlagen. Ihn interessieren die Folgen seiner Amtshandlungen nicht. Für ihn hat das Gesetz Selbstzweck. Etwas wie das Gresham'sche Gesetz ‹schlechtes Geld verdrängt gutes Geld› tritt für die Beamtenschaft ein: der Funktionär findet seinen

Seite 28

idealen Platz beim Staat, der ‹altmodische› Beamte fühlt sich beim Staat nicht länger zuhause. Was uns aber an erster Stelle interessiert ist, dass das, was sich so aus dem Asozialen und Antisozialen herausentwickelt eine neue Qualität bekommen hat. Haben wir die beiden primären Kräfte Triebe genannt, so müssten wir hier von einem Antitrieb sprechen.

Aus der östlichen Gesellschaftsstruktur entsteht der nach Selbsterhaltung strebende Beamte, der sich deswegen, wie wir sahen, nicht mit den Zielen, die seinen Aufgaben zugrundeliegen, verbinden kann. Aus der westlichen Gesellschaftsstruktur entsteht ein Beamtentyp, der die Ziele seiner Tätigkeiten nicht mehr beurteilen kann und deshalb aus Selbsterhaltungstrieb die Vorschriften buchstäblich zur Ausführung bringt. In beiden Fällen entfremdet man sich entweder dem ideologischen oder dem wirtschaftlichen Ziel. Es kommt dann der Augenblick, wo der anfänglich mehr oder weniger selbstverständliche und menschlich anmutende Selbsterhaltungstrieb verschwindet. Er verwandelt sich in eine gleichermassen selbstverständliche und automatische Ausführung jeden Befehls. Er gipfelt in der folgerichtigen Selbstvernichtung, wenn man sich auf Befehl einer Missetat beschuldigt, auf der die Todesstrafe steht. Der qualitative Umschwung hat sich vollzogen. Für den jetzt erstandenen Typ gibt es nur noch eine Objektwelt, innerhalb derer er funktioniert. Natur, Gedanken, Mitmenschen, er selber – sie sind gleicherweise Objekte, mit denen auf genau vorgeschriebene Art und Weise umzugehen ist. Mensch ohne Herz.

Wieder stossen wir auf ein merkwürdiges Paradoxon. Gerade auf dem Rechtsgebiet, wo der Mensch dem Menschen begegnet, dürfte es eigentlich keine Funktionäre geben. Der aus Rechtsgefühl handelnde Mensch handelt ja aus der unmittelbaren Begegnung mit seinem Mitmenschen heraus, aus dem Moment des Einswerdens, aus der sozialen Intuition. Der aus seinem Rechtsempfinden Tätige ist eigentlich Künstler, wie aus einer alten Tradition das Recht immer noch ‹ars aequi› genannt wird : die Kunst des Gleichen.

Gerade dieses Rechtsgebiet ist nun der ureigenste Aufgabenbereich des Staates, der so, wie wir ihn kennen, unpersönliche Paragraphenreiterei von seinen Dienern fordert. Und genau in dem Masse, in dem der Staat seine soziale Aufgabe veruntreut,* d.h. unpersönlich wirkt, wird der dadurch entstandene Hohlraum für das Gegenbild des sozial Schaffenden zugänglich: den Funktionär.

Aber auch hier frisst die Revolution ihre eigenen Kinder. Der Funktionär, zum willenlosen Werkzeug heranerzogen, wird im Staat gerade für die Mittel immun, mit denen die beiden Usurpatoren ihre asozialen oder antisozialen Ziele nachstreben: er ist ziemlich unzugänglich für Bestechung und Personenverherrlichung. Die menschlichen Triebe, die nach Status und Macht hintendieren, fehlen ihm ja gerade. Er betrachtet das Gesetz nicht mehr in seiner Bedeutung für das Geistes- und Wirtschaftsleben. Für ihn erlangt es ausschliesslich Bedeutung unter dem Kriterium, ob es besser oder weniger gut ausgeführt werden kann. Gaskammern sind besser als Erschiessungen.

Damit erscheint die Kehrseite der Medaille, nämlich die institutionelle Gesetze, die kulturelle oder wirtschaftliche Effekte bezwecken, sind praktisch nicht durchzuführen, weil das Gebiet, das man ordnen müsste, qualitativ so unterschiedlich ist, dass es sich einer allgemeinen Regelung entzieht. Der Ausweg ist

* Dies scheint eine verwegene These, rühmt sich doch gerade unser moderner Wohlfahrtsstaat seines Sozialcharakters. In Wirklichkeit ist aber das ganze Streben unserer modernen Sozialgesetzgebung daraufhin ausgerichtet, persönliches Sozialverhalten durch Automatismen zu ersetzen. Diese ertöten einerseits jegliche Sozialtätigkeit der Bürger, andererseits die soziale Urteilskraft jener, die die Gesetze durchführen.

Seite 29

das Rahmengesetz, das der Exekutive das Recht, den Gedanken des Gesetzes auszuführen, überträgt. Damit ist die faktische Gesetzgebung in die Hände der Funktionäre übergegangen.

So entstehen dann unsere Durchführungsbestimmungen, die jederzeit, ohne Einwirkung des Parlamentes und wenn wünschenswert mit Rückwirkung geändert werden können; Kautschukbestimmungen, deren Auslegung dem Ministerium vorbehalten ist; gegen die man oft keine oder nur nutzlose, weil keinen Aufschub verleihende Berufung einlegen kann. Trotzalledem bleibt die Sache eine lästige, manchmal sogar hohe Ansprüche an den Beamten stellende Angelegenheit. Das Ideal wäre, wenn man die ganze Ausführung einem Computer übertragen könnte. Bei einigen Steuererhebungen ist das bereits gelungen (und die richterlichen Entscheide passen sich merkwürdig schnell dem Umstande an, dass dabei persönlichen Verhältnissen keine Rechnung getragen werden kann).

Bevor man aber den Computer einschalten kann, ist ein weiterer Schritt nötig: das Gebiet, das man ordnen will, muss erst uniformiert werden. Wenn erst einmal alle Bauernhöfe den gleichen Umfang haben, alle Arztpraxen gleicher Patientenzusammenstellung sind, dann lässt sich jedes Gesetz durchführen; dann kann man mit dem Computer regieren. Diese Uniformierung wird heute schon in grossem Umfang durchgeführt, wenn auch meist andere Motive vorgegeben werden.

Was hier seinen Schatten vorauswirft, ist eine Gesellschaftsordnung, die einem Termitenstaat gleicht: jeder ist Funktionär geworden; menschliche Regungen sind ausgeschaltet. Es ist die letzte Konsequenz des Einheitsstaates ideologischer oder wirtschaftlicher Herkunft. Aber es ist auch die Vernichtung des Wirtschafts- und des Geisteslebens. Es ist schliesslich die Vernichtung des Individuums.

Ob nun das Antisoziale oder das Asoziale zur Herrschaft gelangt, in beiden Fällen hat man den Menschen nötig: entweder als Arbeits-* und Konsumsklaven, oder als Jasager. Darum finden wir in diesen beiden Formen, wenn auch noch so korrumpiert, den Menschen wieder. Mit des Menschen dreigliedrigem Wesen offenbart sich dann noch immer irgendwie die soziale Dreigliederung, nicht als Struktur natürlich, sondern als dreierlei Kraftströme, die sogar in ihrer ärgsten Karikatur noch wiederzuerkennen sind.

Nicht so im Funktionärstaat. In ihm ist das digitale Denken und Handeln, das wir überall als Ansatz entdecken können, voll verwirklicht. Jede Erscheinung wird ausschliesslich aus dem Winkel der Brauchbarkeit in puncto Ausführung betrachtet. Darum ist was sich dartut schwarz oder weiss, gut oder schlecht, richtig oder falsch. Die menschliche Mitte fehlt: Gesellschaft ohne Herz.

Was in diesem Kapitel dargestellt werden wollte, ist die Alternative, die der Staat uns bietet, um mit der sozialen Frage fertigzuwerden. – Wir können den Staat benutzen, um den Menschen von Ausbeutung und Vergewaltigung zu befreien. Dann entsteht eine dreigliedrige Gesellschaft, in der das Geistesleben frei sein kann, weil der Staat jedem Menschen die Freiheit garantiert; in der das Wirtschaftsleben autonom wirken darf, weil ihm der Giftzahn der Ausbeutung gezogen ist.

Wir können aber auch den Staat für unsere asozialen und antisozialen Zwecke benutzen. Denn entsteht die unheilige Dreieinheit einer die menschlichen Begierden bis zum äussersten steigernden Technokratie, einer jede persönliche Entwick-

* Ich spreche von Arbeitssklaven auch dann, wenn der Arbeiter ‹gut bezahlt› wird. Solange er gesellschaftlich de facto vom Mitwirken am Rechts- und Geistesleben ausgeschaltet wird, so lange man seine Stellung auf ‹Brot und Spiele› beschränkt, wird er ausgebeutet.

Seite 30

lung unterbindenden Theokratie und einer allmächtigen Bürokratie, die auf die Dauer die beiden feindlichen Brüder unter ihre alle Unterschiede auslöschenden Flügel nehmen wird. Der graue Totalismus Kochs.

In diesem Sinne verstehe ich Steiners Wort, dass die Zukunft entweder dreigliedrig oder bolschewistisch sein wird.* Die Freiheit, die dem im Rechtsleben stehenden Menschen eignet, kommt hier in ihrer letzten Konsequenz zum Ausdruck. Es ist seiner freien Entscheidung anheimgegeben, ob die Gesellschaftsstruktur aus dem rechtlich-sozialen Empfinden heraus bestimmt wird oder ob das Zusammenleben auf die untermenschliche Ebene herabsinkt.

Die Frage, wie sich der Mensch als Einzelpersönlichkeit in den ersten Strom einordnen kann, ist das letzte Thema dieser Betrachtung.

VII. Mensch und Gesellschaft

Im Vorhergehenden wurde versucht, die soziale Dreigliederung aus ihrer Rechtsgrundlage heraus zu entwickeln. Die asozialen und antisozialen Triebe des Menschen fordern die soziale Tätigkeit heraus, die sich in Gesetzen zum Schutze des Menschen gegen seine Mitmenschen niederschlägt. Gleichsam von unten her gesehen, erscheint die Dreigliederung als eine Ordnungsfrage. Aus dieser Sicht erscheinen die Gesellschaftsfragen als Gesetzgebungsfragen – und ganz gewiss darf man sie legitim auch so behandeln.

Darum sprechen Politiker, wenn sie über die Freiheit des Geisteslebens reden, nicht über dessen Inhalt, sondern über die Gesetze, die diese Freiheit garantieren sollen. Man hat den Eindruck, dass die Entwicklung hier in ein entscheidendes Stadium getreten ist. Gibt es überhaupt noch freie Information? Hat die Obrigkeit das Recht, die freie Ärzte- und Heilmittelwahl zu unterbinden? Darf sie das Trinkwasser fluoridieren? Darf sie Vorbedingungen zur Ausbildung stellen? Mit verschiedenem Nachdruck sind in verschiedenen Ländern Bewegungen im Gange, die sich gegen das tyrannische Bündnis von bestimmten weltanschaulichen (‹wissenschaftlichen›) Richtungen mit dem Staat zur Wehr setzen.

Auch im Hinblick auf das Wirtschaftsleben sprechen Politiker gerne über gesetzliche Massnahmen, durch die ihm die Machtmittel genommen werden sollen. Auch diese Annäherung ist legitim. Da aber, wo der Staat zum Schutz gegen anti-soziale Tendenzen gerufen wurde, tat er nicht viel mehr, als an den Symptomen herumzukurieren. Es sieht so aus, als ob die Forderungen, dass Boden und Kapital kein Eigentumsobjekt sein soll, dass Arbeit keine Ware sein darf, dass Geld nur ein zeitbedingtes Recht darstelle,** vom Marxismus in so üblen Ruf gebracht sind, dass sie die nicht-marxistischen Gesellschaftskritiker abschrecken.

Schliesslich muss aber doch die Frage auftreten, wo das Rechtsleben seine eigenen Normen herholt. Diese sind eben nicht, wie dasjenige, was man auf gesetzlichem Gebiet für Wirtschafts- und Geistesleben wünschenswert erachtet, aus deren Phänomenen selber herauszuholen. Dort kann man abwarten, wie ein freies Geistesleben, wie ein von Ausbeutung befreites Wirtschaftsleben sich mit Inhalt

* GA 196/8. Dass sich Steiner des Ausdruckes ‹bolschewistisch› bediente, mag seinen Grund darin finden, dass in 1919 der Bolschewismus die einzige Gesellschaftsstruktur war, in der der bürokratische Totalitarismus bereits im Keim veranlagt war. Wie das damals leider nur für wenige sichtbar war, so sehen heute nur wenige Menschen ein, dass der Bolschewismus nicht nur hinter dem eisernen Vorhang da ist, sondern mitten unter uns lebt.

** Geld, das Recht, um über Waren und Leistungen zu verfügen also, bleibt in unserer Gesellschaftsstruktur im Prinzip ‹ewig› gültig. Die Waren, worauf es bezogen ist, verderben. Dadurch verschafft man mit dem Geld den Geldbesitzern institutionell eine Machtposition, die sozial gesehen Un-Recht darstellt.

Seite 31

füllen werden. Im Recht fallen Form und Inhalt zusammen. Recht als gesellschaftliche Kategorie kann nicht mehr sein als das, was die Mehrheit als rechtmässig empfindet.

Die Quellen des Rechts

Damit aber stehen wir abermals vor der Frage der Herkunft des Rechtes: wo holt der Mensch seine Rechtsgefühle her? – Im vierten Kapitel sind die Erwägungen beschrieben, die der Mensch dem Geistes- und Wirtschaftsleben gegenüber entwickeln kann, wenn er sich auf den Rechtsstandpunkt stellt. Erwägungen – das heisst also ein Gedankenweg. Recht kann aber vom Menschen nicht mehr fordern, als wozu er auch handelnd im Stande ist, verbindet es ja gerade sein Denken und Wollen. Ist nun noch etwas zur Frage zu sagen, wie der Mensch das Soziale, dessen Wirklichkeit er eingesehen hat, bis in die Tat führen kann?

Man hat den Eindruck, dass die Menschheit in dieser Beziehung an einer schicksalsschweren Wende steht. Geht man der Frage nach, wie früher soziales Betragen entstand, so entdeckt man, dass es aus dem Drinstehen im Wirtschaftsleben, im Berufsleben geboren wurde. Als dieses noch nicht so geistentleert war wie heute, formte es den Menschen zu einem sozialen Typ. Er war Bäcker oder Schuster; Bauer oder Schreiner; Schöffe oder Kaufmann. Aus der Praxis heraus lernte er die dazugehörigen Sitten. Er wuchs wie selbstverständlich in sie hinein und konnte sich ihnen, durch die social control, auch gar nicht entziehen. Sozialverhalten wurde zur Gewohnheit. Erst mit dem Alter kam das ‹Sinnieren›, kam die Weisheit des Berufs. Das, was als Sozialstimmung im Untergrund der Seele lebte, bestimmte den Inhalt der Erkenntnis. Aus Recht der Reife heraus dämmerten Einsichten über den Beruf und von da aus über dasjenige, was dem Menschen im Verhältnis zu seinen Mitmenschen gebührt. Neues Recht wurde als Bewusstseinsinhalt geboren. Es wurde vom Meisterplatz heruntergetragen in das Berufs- und Wirtschaftsleben, wurde zur Praxis. Bewährte es sich, dann mag es nach Überprüfung im Geistesleben seinen Weg gefunden haben in Reglemente und Gesetze: Gesetz näherte sich dem Recht. Es war ein Weg aus dem Wirtschaftsleben über das Geistesleben zur Quelle des Rechts – und wieder zurück über das Wirtschaftsleben und das Geistesleben in die Gesetzgebung.

Nun, die aus dem Berufsethos hervorgegangene Sozialgesinnung findet man heute fast nur noch in abgelegenen, ‹rückständigen› Gebieten – und bei einigen isolierten Ständen (Offiziere, Diplomaten), wo sie aber mehr zum Statussymbol erstarrt ist als dass sie wirkliche Gesinnung wäre. Ohne auf die Gründe einzugehen, muss man einfach feststellen, dass weder das heutige Wirtschaftsleben geeignet ist, soziale Impulse zu wecken, noch die jungen Leute gewillt sind, sich auf dem Arbeitsfelde ein Ar-

Seite 32

beitsethos aufnötigen zu lassen. Im Gegenteil, ihr Verhalten ist ganz von dem dem Arbeitsmarkt zugrunde liegenden Sozialdarwinismus geprägt: für den Lohn so wenig wie möglich leisten. In gewissem Sinne dürfen wir darin eine historische Gerechtigkeit erkennen. Es ist die Umkehrung des minimalen Lohnes für die gegebene Arbeit. Den Weg zum Recht kann man aus dieser Stimmung aber nicht mehr gehen.

Wenn es für die heutige Generation überhaupt einen Weg zum Sozialen gibt, dann geht er über das Geistesleben: erst wenn man eingesehen hat, welche Kräfte in der Gesellschaft wirken, erst wenn man zu der Erkenntnis auch der eigenen sozialen und unsozialen Triebe gelangt ist, öffnet sich der Weg, um nun den Willensentschluss zu fassen, sozial gestaltend in das Wirtschaftsleben einzutreten. Das Wissen um die Bedeutung der Arbeit lässt uns erst verantwortungsvoll im Arbeitsprozess stehen, d.h. für andere arbeiten. – Dann, im Wirtschaftsleben stehend, fängt der harte Kampf mit den eigenen asozialen und antisozialen Trieben an, die sich dem bewusstseinsmässig Erfassten immer wieder widersetzen, wobei dann eben nicht, wie ehemals, der gesellschaftliche Zwang eine unentrinnbare Übungsschule ist. Die heutige Gesellschaftsordnung gibt dem antisozialen Trieb freien Raum, sodass immer wieder von einem gefordert wird, sich in Freiheit für das Soziale einzusetzen.

Es ist aus dieser wirtschaftlichen Praxis, aus dem unmittelbaren Erlebnis, was eigene und anderer soziale und unsoziale Triebe ausrichten, dass neues Recht geboren werden kann. Dieses wird dann hineingetragen in das Geistesleben zur bewusstseinsmässigen Erfassung und Klärung. Daraus ergibt sich die Grundlage, um mit neuen Sozialimpulsen in das Wirtschaftsleben einzusteigen, um dort die Lebensfähigkeit des Errungenen zu prüfen und zu zeigen. Die Anerkennung im Wirtschaftsleben wird dann dafür sorgen, dass Recht sich in Reglementen und Gesetzen auf höherer Ebene niederschlägt.

Aber nicht nur die Schwäche des eigenen Sozialtriebes ist ein Hindernis auf diesem Wege. Gleicherweise stossen wir uns an der gegebenen Wirtschaftsordnung, die in ihrer antisozialen Gestaltung Einsatz für eine soziale Prägung immer wieder verhindert, wenn sie nicht gar den ‹Idealisten› als unbrauchbar auf die Strasse setzt. Deshalb sehen wir, wie aus dem Drang das Eingesehene in die Praxis zu überführen, immer mehr Kommunen entstehen. Die unmittelbare Begegnung mit dem andern Menschen soll uns dazu anleiten, für ihn zu arbeiten, soll uns davor behüten, auf seine Kosten zu viel zu konsumieren.

Seite 33

Die Einheitlichkeit der sozialen Dreigliederung

Man kann diesen Gang zum Quell des Rechtes als einen sozialen Entwicklungsweg erleben. Dann aber erscheint die soziale Frage nicht mehr dreigliedrig, sondern viergestaltig.

Stehen wir als Zuschauer vor unserer Gesellschaft, dann tut sie sich uns als ein Dschungel dar, der notwendigerweise gegliedert werden muss, sodass der Mensch darin in Frieden leben kann. Die Gesellschaft erscheint dann vor uns in ihrer Dreigliedrigkeit, nämlich so, dass meine drei Seelenkräfte je ein eigenes Gebiet nötig haben, um sich entfalten zu können. Das Wesen der so entstehenden Dreigliederung ist Gleichgewicht, das heisst, dass die drei Gebiete zu einem gesamtgesellschaftlichen Gleichgewicht kommen müssen: das Blühen jedes Gebietes ist von dem Blühen der beiden anderen abhängig. Gleichgewicht aber schliesst Einheit aus. Die Tatsache, dass das Gleichgewicht in jedem Augenblick neu erobert werden muss, führt zu der viel gestellten Frage hin, ob so eine dreigliedrige Struktur denn nicht sofort auseinanderfallen würde.

Die Zweifel zerstreuen sich, wenn ich den Zuschauerstandpunkt verlasse und mich selbst innerhalb des sozialen Organismus erlebe. Dann steuere ich nicht meine und anderer Leute Teilnahme von aussen, sondern ich empfinde, dass ich mein Menschsein zwar in verschiedenen Bereichen betätige, aber gleichsam vom Mittelpunkt des Sozialorganismus aus. Ich erlebe mein Ich wirksam als steuernde, kombinierende, regelnde, zusammenhaltende Kraft. Es macht mir ein Rollenspiel möglich, wodurch ich als Einheit jetzt im Wirtschaftsleben, kurz danach im Geistesleben und vielleicht noch selbigen Tages im Rechtsleben tätig bin, ohne mich in eines der drei Gebiete zu verlieren. Damit ist der neue Theokrat gefunden. Im Ich finden die drei Gebiete des sozialen Organismus ihre Einheit.

Wenn wir uns aber in dessen Mittelpunkt erleben, dann erleben wir dasjenige, was der alte Theokrat als seine Inspirationsquelle ausserhalb des sozialen Organismus empfand, und was ihn dazu legitimierte, den Sozialkörper als etwas, zu dem er Objektbewusstsein entwickelte, zu formen, als ein eigenes Reich, zu dem wir aus unserem Platz in der sozialen Retorte drinnen ein Verhältnis entwickeln müssen, vergleichbar den beschriebenen Verhältnissen zu Geistes- und Wirtschaftsleben. Über die den irdischen Sozialkörper bildenden drei Gebiete erhebt sich ein viertes, geistiges Gebiet, das als Quelle des Sozialen in den Sozialorganismus hereinragt.

Wir haben jetzt ein viertes Strukturelement gefunden. Auf der einen Seite stehen einander gegenüber Geistes- und Wirtschaftsleben, auf der anderen Seite Rechtsquelle und Gesetzesleben. Das kann man auch anders ausdrücken: sowie ich mich selber als Teilnehmer am Gesellschaftsprozess erlebe, kann ich diesen nicht mehr nur dreigliedrig, das heisst rein aus seinem irdischen Erscheinungsbild heraus beschreiben, da ich ja selbst Entelechie bin.

Hier nähern wir uns dem Mysterium des Menschen. Wir haben beschrieben, wie das Recht aufleuchtet aus der Begegnung von Mensch mit Mensch, dann, dass das Recht aus unserem Ich geboren wird. So können wir jetzt sagen: von Angesicht zu Angesicht mit einem Mitmenschen begegnen wir... uns selber. Ich begegne meiner Wirklichkeit, meiner Unzulänglichkeit. Das ist aber nicht alles. Wenn es eine Begegnung im wahren Sinne des Wortes ist, dann leuchtet in meinem Bewusstsein auf, dass Leid und Not auch des letzten, unbekannten Menschen, mein Leid und meine Not sind, so wie ich es als meine Unzulänglichkeit empfinde, dieses Wissen nicht zur Wirlichkeit machen zu können. Mir geht auf, dass was an Not

Seite 34

und Leid anderen Menschen angetan wird, ihnen von mir angetan wird, weil ich das, was an asozialen und antisozialen Kräften in der Gesellschaft herrscht, nicht mehr ausserhalb, sondern innerhalb meiner erlebe: meine Asozialität und meine Antisozialität. So wird die Begegnung mit dem andern die Begegnung mit mir.*

Nun kann vor uns stehen das Bild des Menschen im sozialen Organismus. Es ist die Individualität, die das Asoziale als eine reale Kraft aus ihrem Wirken im Geistesleben in sich aufsteigen fühlt, sie in Überheblichkeit dazu verführend, uneingeladen mit ihren Erkenntnissen in andere Menschen zu dringen; kann man das als eigene Unreinheit erleben, dann fühlt man zu gleicher Zeit diesem Trieb die aus dem Sozialquell geborene Kraft der Moralität entgegenwirken. – Ebenso kann sie das Antisoziale als reale Kraft in ihrem Wirken im Wirtschaftsleben aufsteigen fühlen; es ist dann, als ob man des Diebstahls überführt würde, während sich dem ein aus derselben Sozialquelle geborenes Verantwortlichkeitsgefühl für auch den letzten der Mitmenschen entgegenstellt. – Und schliesslich kann sie erleben wie sie, im Rechtsgebiet wirkend, durch Gesetz und Regel geschützt ist gegen das, was sich als Machtwille unmissverständlich in ihr selber offenbart, zu gleicherzeit erfühlend, wie dieser Schild der Ordnung und Gebundenheit immer wieder der Erneuerung bedarf aus den Freiheitskräften desselben Sozialquells. Was sich da in die Gesetzeswelt, in den äusseren Rechtsstaat auch, hineinergiessen will, ist die Quintessenz menschlichen Rechtes, die, je nachdem sie mehr als Forderung des Geisteslebens oder als Bitte des Wirtschaftslebens auftritt, das Antlitz der Gerechtigkeit oder der Barmherzigkeit zeigt.** In ihrer Dreiheit sind Moralität, Verantwortlichkeit und barmherzige Gerechtigkeit Schöpfungen der letztendlichen sozialen Kraft, der Liebe, die wie eine Sonne der untermenschlichen Einheit von Macht, Unreinheit und Diebstahl gegenübersteht, die wir als die grosse Leere, in der die Persönlichkeit vernichtet wird, kennengelernt haben.

Wenn man so die soziale Dreigliederung in sich selber erlebt, dann weiss man auch, dass sie nicht etwa nur ein Thema für Spezialisten oder gar für Politiker ist. Dreigliederung ist als reale Kraft da, sowohl als eine innermenschliche Potenz wie auch als Entwicklungsweg. Wo und insoweit ich diese Potenz zur sozialen Wirklichkeit mache, arbeite ich an der Verwirklichung der sozialen Dreigliederung. Das mag in makro-sozialen Zusammenhängen sein, das mag in der Gestaltung von Institutionen zum Ausdruck kommen oder im Aufbau der Familie. Nicht am Umfang des Sozialgebildes entscheidet sich, ob ich als sozialer Dreigliederer in der Welt stehe, sondern an der Frage, ob ich ein Inselparadies entstehen lasse oder ob ich meine Tätigkeit in die Zusammenhänge hineinstelle, die die Menschheit als ganze, d.h. als sozialen Organismus, bewegen. Mit anderen Worten: ob der Mensch oder die Gruppe, denen ich, sozial oder unsozial, begegne, mir stellvertretend für die ganze Menschheit entgegentreten.

* Was hier geschieht, ist eindrucksvoll von J.J. Loeff in seiner Abschiedsrede ‹Het recht is de hoeder van de Ander› beschrieben. Ich übersetze daraus: «Das Erscheinen eines menschlichen Antlitzes unterwirft uns einem Verdikt, klagt uns an, erklärt uns für ungerecht, noch bevor wir uns durch Wort oder Tat eines Unrechtes schuldig gemacht haben... Die Begegnung ist ein Lehren, das vom andern ausgeht; er unterrichtet mich ; er ist mein Meister. Von dem andern ist nichts zu bestätigen oder zu verneinen. Meint man sich das erlauben zu dürfen, ist er nur anders. Darum ist die Begegnung mit dem andern eine Erfahrung des Unendlichen... Das nackte Antlitz des anderen, das erscheint, zeigt uns aber nicht nur die erscheinende Person, sondern jeden anderen Menschen. Der andere als ein Er fordert im Namen aller Menschen, die sich in der selben Situation befinden oder befinden könnten.»

** Das russische Wort Prawda bedeutet sowohl Gerechtigkeit wie Wahrheit. Es wird damit eindeutig auf die dem Geistesleben (Wahrheit) zugewandte Seite des Sozialen gewiesen.

Seite 35