Nur ein Zipfel der Dreigliederungswahrheit

01.05.1973

Quelle
Zeitschrift „Beiträge zur sozialen Dreigliederung“
Jahrgang 15, Mai 1973, S. 88–89
Bibliographische Notiz

Übersicht über die Kontroverse
Soziale Prozesse und Organe statt Dreiteilung
zwischen Benediktus Hardorp, Wilhelm Schmundt und Hartwig Wilken

 

Als ich die „Thesen“ von Dr. Hardorp las, war mein erster Gedanke: Daran hätte Flick seine wahre Freude! So kann man den Kapitalismus mit den alten Machtverhältnissen retten.

Warum? Weil nicht vom Gesamtorganismus gesprochen wird, sondern nur von einzelnen Einrichtungen in demselben (Unternehmen, Schule, Krankenhaus etc.) und davon, wie in diesen Einrichtungen die Prozesse dreigliedrig ablaufen bzw. ablaufen sollen. Das heisst aber doch, wie die bestehenden Einrichtungen lebensfähiger, reibungsloser, zufriedener arbeiten können. Kein Wort über Eigentumsverhältnisse, Herrschafts- und Machtverhältnisse, über Herrschaft des Staates über die Schulen, über die Abhängigkeit der Presse von Kapitalmacht, über Lenkung der Wirtschaft durch den Staat.

Dieser Eindruck entstand bei mir vor allem durch die ersten beiden Thesen. Wer ist wohl damit gemeint, dass er die Dreigliederungsidee als „Dreiteilungstheorie missverstanden“ hat, dass er „Geistesleben, Rechtsleben, Wirtschaftsleben.... institutionell gesehen“ hat? Doch wohl nicht etwa R. Steiner selber? Oder wie sind die folgenden Sätze zu verstehen?

„[...] In der abgelaufenen geschichtlichen Epoche waren das Rechtsleben und das Geistesleben ein „Überbau“ des Wirtschaftslebens. In der Zukunft sollen sie selbständige Glieder des sozialen Organismus sein neben dem Wirtschaftskreislauf. [...] Assoziationen aus den

[Beiträge, Jahrgang 15, Mai 1973, Seite 88]

Berufsständen, aus den miteinander verschlungenen Interessen der Produzenten und der Konsumenten sollen sich bilden, die sich nach oben hin zu einer Zentralwirtschaftsverwaltung zuspitzen. [...]“

(Rudolf Steiner, Die Dreigliederung des sozialen Organismus, eine Notwendigkeit der Zeit,
aus: Gesammelte Aufsätze 1919-1921, inzwischen in: GA 24, 2. Auflage 1982, Seite 19).

Wenn das nicht das „Wirtschaftsleben institutionell gesehen“ ist! — Nun soll gegen die „Thesen“, von der ersten einmal abgesehen, gar nichts gesagt sein. Selbstverständlich ist die Dreigliederung auch Prozess, selbstverständlich gibt es in jeder sozialen Institution dreigliedrige Prozesse, aber die Dreigliederung ist nicht nur Prozess, genau so wenig, wie der menschliche Organismus nicht nur aus Prozessen besteht, auch nicht nur aus Organen und Prozessen, sondern er ist eben auch eine dreigliedrige „Institution“. Die Leber als Organ gehört nun mal institutionell zum Stoffwechselsystem wie eine Schule zum Geistesleben, unbeschadet, dass in der Leber auch rhythmische- und Nervenprozesse stattfinden, wie in der Schule auch wirtschaftliche und rechtliche Funktionen vorhanden sind.

Man hat der Dreigliederungsbewegung jahrelang vorgeworfen, dass sich die „Freunde“ nur streiten würden. Die Ursache scheint mir darin zu liegen, dass jeder (oder wenigstens viele) den Zipfel der umfassenden Dreigliederungswahrheit, den er bei seinen Bemühungen gerade erwischt hat, für die ganze Wahrheit ausgab. Dieses Stadium haben wir eigentlich heute überwunden.

[Beiträge, Jahrgang 15, Mai 1973, Seite 89]