Frauenstimmrecht und Dreigliederung in der Schweiz

30.03.1920

Die „fortschrittliche“ Schweiz befindet sich in der Frage der Zuerkennung der — doch wohl eigentlich selbstverständlichen — politischen Gleichberechtigung der Frau in einem merkwürdigen Rückstand gegenüber der Mehrheit der zivilisierten Staaten. Die Gründe hierfür sind nicht durchsichtiger Natur. Den Hauptgrund erblicken wir in einem instinktiven Gefühl, das die Frau eigentlich zu gut hält für den flinken Gebrauch jener Männerrechte, die es bis zum — politischen Hader bringen. Diese Männerrechte stehen gar nicht so sehr hoch im Kurs; — „Männerrechte“ waren ja auch mit dabei, als die heutigen Katastrophen ausgebrütet wurden.

Ein Gesamtentscheid der ganzen Schweiz über die Zugestehung gleicher politischer Rechte an die Frauen ist noch nicht erfolgt. Doch haben die erfolgten verwerfenden Abstimmungen in einzelnen Kantonen symptomatische Bedeutung. (Das Frauenstimmrecht wurde durch Volksabstimmung verworfen im Kanton Neuenburg 1919, in Basel und Zürich Februar 1920.)

Die grundsätzliche Frage, ob die Frauen den politischen Männerparteien beitreten sollen, steht heute, wenn vom Frauenwahlrecht die Rede ist, im Vordergrunde. Diese Frage wird zwar zu einem guten Teil von vorneherein aufgehoben durch die Meinung derjenigen, die der Frau im Leben der sozialen Gemeinschaft vor allem die Rolle einer Reformerin der ethischen, geistigen und sozialen Ziele zuzuteilen wünschen. Und erfreulicherweise wird heute in solchen Kreisen eingesehen, dass die erfolgreiche Weiterführung und organische Ausbildung der von der Frau heute geleisteten Kulturarbeit am rationellsten auf dem Boden der Dreigliederung erfolgen kann. So schreibt der Schweizer Nationalrat Dr. Oskar Schär in der Basler Nationalzeitung:

„Wäre z.B. die von dem Theosophen Dr. Steiner und anderen Bürgern vorgeschlagene Dreiteilung der Aufgaben der öffentlichen Verwaltung in solche der Politik, der Wirtschaft und der Kultur durchgeführt, so würde jedenfalls nicht ein unvermitteltes Stimmrecht in allen drei Gebieten zuerkannt werden, sondern man würde sich vorerst mit der Ausdehnung des Frauenstimmrechtes auf die Kreise der Wirtschaft und der Kultur, in denen die Frauen heute schon ja vielfach mit Erfolg tätig sind, begnügen.
Da wir jedoch in Basel diese getrennten Verwaltungsorganismen nicht haben, wird nichts anderes übrig bleiben, als das aktive Wahlrecht sofort ganz zuzuerkennen, während bezüglich des passiven Wahlrechtes vielleicht doch gewisse Übergangsstufen vorbehalten werden sollen; denn man vergesse nicht, daß unsere Frauen bisher nicht zur Ausübung politischer Rechte erzogen waren und daß unvermittelte Übertragung der weitgehendsten politischen Rechte auch ihre Bedenken hat.“

Darin liegt das wertvolle Zugeständnis eines erfahrenen und im öffentlichen Leben stehenden Politikers, daß auf dem Boden der Dreigliederung die freie Entfaltung positiver Frauen-Mitarbeit gewährleistet ist, während die Formen der heutigen Sozialgemeinschaft eine vernünftige „politische“ Betätigung der Frau ausschließen.

Zur Beleuchtung der Einstellung der Schweizer Frauen zitieren wir noch einen Artikel des “Schweizer Frauenblatt“ (Aarau), das als fachliches und gediegenes „Organ für Fortschrittspolitik und Fraueninteressen“ den Anspruch auf Beachtung erheben kann. Das Blatt schreibt:

„Sind nicht die bestehenden und neugegründeten Frauenvereine mit ihren sozialen, sittlichen, ethisch reorganisierenden Zwecken und Zielen schon ein starker Beweis dafür, wohin die Politik der Frau strebt?
Sind die gegenwärtigen politischen Parteiprodukte der vorangegangenen einseitigen Männerpolitik durch ihre krassen, materiellen, wirtschaftlichen Gegensätze nicht auch ein Beweis dafür, daß dieses gegebene Produkt vergangener Entwicklung niemals die Grundlage sein darf, auf welcher ein ganz neu hinzutretender Faktor, wie der Standpunkt einer positiven Frauenpolitik es ist, fußen soll, auf welcher die oben erwähnten Ziele der Frauenvereine, der Frauenpolitik weiter auszubauen, zu verwirklichen wären?
Sind die bestehenden politischen Männerparteien die psychologisch und die technisch einzige Grundlage für die neu hinzutretenden positiven Einflüsse der stimmberechtigten Frau, oder sollen wir Frauen nicht besser diesen positiven Einfluß durch unßer Stimmrecht auf dem schon gegründeten Boden unserer Frauenvereine nutzbar machen und verwirklichen?
Die Antwort lautet wohl: Die Gegensätze der gegenwärtig fast ausschließlich materiell wirtschaftlich entwickelten und orientierten politischen Männerparteien mit all ihren fast persönlichen unsozial einseitigen Parteitendenzen stehen im Widerspruch zu den viel mehr rein menschlichen, unparteiischen, allgemeinen Zielen aller Frauenvereine, und wir betrachten daher einen Zusammenschluß aller Frauenvereine von Stadt und Land viel eher als die richtige Grundlage, auf welcher und in welcher der Frauenstandpunkt rein und positiv wirken kann.
Trotzdem das Wesen jeder einzelnen politischen Partei an sich gewiß viel Gutes, ja Ideales zu verfolgen plant, so sprechen doch euch das Wesen und die Ziele der Frauenvereine genug für alles, was eine unabhängige Frauenpolitik bereits gewirkt hat und durch das Stimmrecht fortan positiv direkt wirken wird.
Uns scheint die psychologische Grundlage für unsere Frauenpolitik auf diesem Boden auch technisch logisch ausführbar, obschon gegenwärtig die Männer von ihrem langgewohnten Parteistandpunkt aus keine andere Möglichkeit als Beitritt in die eine oder andere Wirtschaftsgruppe sehen. Aber die Frauen wissen infolge der Ungewohnheit und der bisherigen Ausgeschlossenheit von positiver Politik noch gar nicht, auf welche Grundlage sie sich stellen sollen.“ — —

Hier dürfte die Aufklärung über die realen Grundlagen der Frauenmitarbeit im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus in Zukunft diese Unentschiedenheit der Frau unnötig machen. Und in dieser Aufklärungsarbeit unter der schweizerischen Frauenwelt erblicken wir eine der Aufgaben des Schweizer Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus.

Die Frauen werden heute dann zur angemessenen Wirksamkeit im Leben der Gemeinschaft gelangen, wenn sie sich zu Trägern von neuen Ideen zu machen vermögen. „Männerrechte“ waren dabei, als die alten Ideen zu den Katastrophen führten, aus denen wir uns herauszuarbeiten haben.

Karl Ballmer, Dornach

Veröffentlichung

Wochenschrift „Dreigliederung des sozialen Organismus“, Jahrgang 1, Nr. 39, März 1920.