Betriebsräte! Aus der Praxis für die Praxis

15.07.1919
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Neben dem Thema der Sozialisierung dürfte es die Einrichtung der Betriebsräte sein, welche das Hauptinteresse von Unternehmer und Arbeiter in Anspruch nimmt. Hat man von Sozialisierung vor dem 9. November nur sehr wenig gehört, so ist der Begriff der Betriebsräte überhaupt erst nach dieser Zeit aufgetaucht und aus dem Sozialisierungsgedanken erst geboren worden.

Den Begriff der Arbeiterräte kannte man in Deutschland früher nicht; er stammt aus der russischen Revolutionszeit und wurde von dort mit den übrigen revolutionären Ideen importiert. Auf deutsche Verhältnisse passen diese «Räte» überhaupt nicht. Sie sind politisch gedacht und entsprechend inszeniert und führen jetzt angesichts der Tatsache, daß infolge der ganzen Reformierung des Wirtschaftslebens überhaupt kein Arbeitsfeld für sie vorhanden ist, ein Schattendasein. Seien wir uns klar darüber: Die politischen Arbeiterräte haben in Ländern mit Regierung und Landtag keinen Platz, es fehlt ihnen ein organischer Aufbau, und sie sind deshalb das fünfte Rad am Wagen.

Anders liegt die Sache bei den Betriebsräten. Sie sind ein Bedürfnis der Zeit, und ohne sie ist eine wahre Sozialisierung überhaupt nicht durchführbar. Die Erkenntnis muß in viel stärkerem Maße auftreten, daß das moderne Proletariat nicht mehr Objekt des Unternehmers sein will, sondern sich aktiv hineinstellen will in die modernen Betriebsverhältnisse. Durch die neuere Technik und das Erstehen der Großbetriebe wurde der Arbeiter selbst immer mehr zur Maschine herabgewürdigt. In seinem eigenen Betriebe sah er nur noch einen verschwindend kleinen Ausschnitt gerade des Platzes, an den er zufällig hingestellt wurde; er verlor damit den Zusammenhang mit der Fabrikation und verlor selbstverständlich das Interesse an ihr. Ein solches Arbeiten mußte seelenverödend wirken, und der Proletarier mußte dieses Manko auf die Dauer empfinden. Durch innere Unzufriedenheit machte sich dieser Zustand bemerklich; äußerlich kam er zunächst in den Formen zum Ausdruck, die der Proletarier kannte und beherrschte, nämlich in Lohn- und anderen Forderungen. Die Gründe, ihm selbst unbewußt, lagen aber viel tiefer: Das Ringen nach Menschenwürde war es. Darum auch die brennende Frage nach Sozialisierung.

Das Volksbewußtsein hat aber in seinem naiven gesunden Empfinden herausgefunden, daß diese Frage ohne Betriebsräte nicht zu lösen sei. Mit Recht, denn nur, wenn die ganze Arbeiterschaft ein Mitbestimmungsrecht hat in den großen Fragen unserer heutigen Wirtschaft, kann die letztere, und damit auch das Einzelunternehmen, auf die Dauer gedeihen. Soll nun die Einrichtung der Betriebsräte nicht nur ein reines Dekorationsstück, sondern ein lebensvolles Instrument werden, so wolle man sich in allererster Linie klar darüber sein, daß die Menschen für diese Posten überhaupt noch nicht vorhanden sind. Was man auch den Betriebsräten als Arbeitsmaterial zuweisen möge und wen man auch dazu bestimmen möge, sei es Arbeiterausschuß oder sonstige Funktionäre: Die Betreffenden müssen überhaupt erst anfangen zu lernen, wenn sie ihrer neuen umfassenden Aufgabe gewachsen sein sollen. Deshalb ist es auch eine absolute Unmöglichkeit, daß man von außen her, d. h. von seiten der Regierung, den Unternehmern eine solche Institution aufoktroyieren will.

Nur die einzelnen Betriebe selbst können in der Praxis eine derartige neue Einrichtung ins Leben rufen und ausprobieren. Niemals aber ein Regierungsbeamter, der fern vom Wirtschaftsleben steht und daher wenig Verständnis haben wird für etwas, was die Praxis benötigt, und das bis jetzt überhaupt noch nicht vorhanden war.

Nicht von der Regierung geht der Ruf aus, sondern von den Menschen innerhalb des Wirtschaftslebens, und diese Menschen wissen besser, was sie brauchen, als irgendein Regierungsbeamter, der doch nur ein abstraktes System ausdenken kann, das mit der Wirklichkeit in vollem Widerspruch stehen muß. Weil man den Gaul beim Schwanz wieder einmal aufzäumen will, deshalb dauert es so lange, bis dieser Gaul zum Stalle herausgeführt werden kann, und wenn er endlich auf der Bildfläche erscheint, hinkt und lahmt er und ist mit allen sonstigen Fehlern behaftet. Statt daß die einzelnen Betriebe aus eigener Initiative heraus und in richtiger Erkenntnis der Notwendigkeit sich von selbst an die Lösung der Fragen heranmachen, zerbricht man sich den Kopf über Paragraphen und Statuten und verliert damit die beste Zeit. Das Leben geht aber inzwischen weiter, und jeder Tag drängt uns weiter dem Abgrund zu. Man fange doch einfach mal an und zeige von seiten der Unternehmer aufrichtig und ehrlich den guten Willen, die Arbeiter in gesunder Weise mit heranzuziehen bei der Entscheidung über Einkauf, Produktion, Preisstellung und Absatz. Dann wird man sehen, welche Menge Arbeit zu leisten ist auch ohne Statuten und Kompetenzfestlegung. Wie segensreich wirkt es schon, wenn man anfängt, den eigenen Arbeitern erst einmal den ganzen Betrieb vorzuführen, von dem er leider bisher ach so wenig gesehen hat und weiß. Ich kenne eine Zigarettenfabrik, da gab es Leute, die Jahr und Tag bei dieser oder jener Beschäftigung saßen und noch nicht einmal ein Tabakblatt in Natura kannten. Ähnlich sieht es in jedem Betrieb aus. Wie viel ist da in den einzelnen Unternehmungen nachzuholen, was man in den Jahren des Hasten nach Umsatz versäumt hat! Nun sollen aus solchen Leuten die Betriebsräte erwachsen, die außer ihrer eigenen Materie auch noch solche Dinge wie allgemeine Wirtschaft kennen sollen! Zweierlei muß da eintreten: Entweder man wird die Betriebsräte hinters Licht führen, wenn nur von Gesetzes wegen solche Einrichtungen befohlen werden, oder aber man kommt zu einem Dilettantismus. Ersteres zum Schaden der Arbeiterschaft, die natürlich auch vor diesem Schaden nicht bewahrt bleiben kann, wenn man ihr alle möglichen Ratgeber oder Treuhänder als «Überräte» noch an die Hand gibt, oder aber man schädigt im zweiten Falle die Unternehmungen. Beides wird vermieden durch verständnisvolle Bereitwilligkeit der Unternehmer selbst, welche es jetzt noch in der Hand haben, durch eigene Mitarbeit die Einrichtung der Betriebsräte zu einer segensreichen zu gestalten. Ihre wahre Bedeutung werden die Betriebsräte allerdings erst dann erlangen können, wenn durch die Dreiteilung des sozialen Organismus das Wirtschaftsleben ganz auf sich selbst gestellt wird.

Dann erst kann die wahre Sozialisierung durchgeführt werden und durch Zusammenschluß der einzelnen Betriebsräte zu einer Betriebsräteschaft Einfluß genommen werden auf das gesamte Wirtschaftsleben. Diese Betriebsräteschaft wird es dann sein, welche die Produktion nach der Konsumtion zu regeln und eine vernünftige Preisgestaltung vorzunehmen hat.

Bis zur Regelung in dieser umfassenden Weise müßte in jedem einzelnen Betriebe aus freier Entschließung und durch vertragliche Regelung mit der eigenen Arbeiterschaft ein Anfang gemacht werden. Diese neue Organisation wird sich dann am besten aufbauen auf der bestehenden Einrichtung der Arbeiterräte. Solche gibt es ja bereits in jedem größeren Betriebe; sie hängen aber völlig in der Luft, weil ihnen jede eigentliche Aufgabe fehlt. Man mache sie, auch schon um nicht so viel «Räte» zu haben, einfach zum Grundpfeiler dieser nun wirtschaftlich gedachten Einrichtung, bei welcher — nebenbei sei es gesagt — nun nicht mehr wie beim politischen Moment das Agitatorische, sondern die wirkliche Tüchtigkeit den Ausschlag zu geben hat. Dann berücksichtige man bei der Wahl Leute aus dem Angestellten- und dem Arbeiterausschuß und stelle endlich noch jemand aus der Leitung selbst zur Wahl. Wenn aus diesen vier zum Teil schon vorhandenen Organisationen die neuen Betriebsräte hervorgehen, dann hat man nicht zu leiden unter der Menge von neuen Institutionen mit neuen Leuten und hat den Vorzug, daß die schon einmal vorhandenen Persönlichkeiten zu einer wirklichen Mitarbeit aufgerufen werden. Ein solcher Betriebsrat aber wird einzig und allein den Gesamtbetrieb repräsentieren können sowohl nach außen wie nach innen, wo er dann den Angestellten und Arbeitern übergeordnet ist. —

Eines aber ist vor allem anderen vonnöten: Das gegenseitige Vertrauen! Um dieses muß der Unternehmer allerdings jeden Tag von neuem ringen — tut er es aber willig und mit freudigem Herzen, dann kann er Wunder erleben! Der dies schreibt, spricht aus der Praxis; denn er hat den schönen Beweis eines solchen Vertrauens in Händen, da er selbst aus der Wahl seiner Arbeiterschaft als Betriebsrat hervorging. Nur so werden die Betriebe sich über das kommende und in aller Bälde eintretende Chaos hinwegretten können. Wünschen wir im Interesse unseres Wirtschaftslebens, die Aufgabe dieser Betriebe möge dank der Einsicht ihrer Leiter ermöglicht werden.

Veröffentlichungen

«Waldorf-Nachrichten», Jahrgang 1, Nummer 9/10, 15. Juni 1919
Nachdruck in der Zeitschrift »Soziale Zukunft«, 1. Jahrgang, 1/1919, S. 31-34, sowie »Emil Molt, Entwurf meiner Lebensbeschreibung«, Stuttgart, 1972, S. 220-222