Emile Zola an die Jugend

01.01.1898

Quelle: Magazin für Literatur, 1898, 67. Jg., Nr. 7

Zolas Persönlichkeit scheint mit jedem Tage vor uns zu wachsen. Es ist, als lernten wir ihn erst jetzt ganz verstehen. Der fanatische Wahrheitssinn, der ihm eigen ist, hat uns in seinen Kunstschöpfungen doch oft gestört. Jetzt, wo ihn dieser Wahrheitfanatismus in einer rein menschlichen Sache zu kühnem, heldenmäßigem Handeln führt, können wir nur Gefühle rückhaltloser Zustimmung, Verehrung haben. Was er seit Jahrzehnten als Künstler angestrebt hat, die reine, nackte Wahrheit zum Siege zu bringen: das stellt er sich jetzt in einer Angelegenheit zur Aufgabe, die er durch Lüge, Verleumdung, Feigheit, Eitelkeit und jämmerliches Vorurteil entstellt glaubt. Man mag über den unglücklichen Hauptmann auf der Teufelsinsel denken, wie man will: die Art, wie sich Emile Zola seiner Sache annimmt, wird immer zu den bemerkenswertesten Erscheinungen unserer Zeit gehören.

Als bewundernswerter Tatenmensch lebt sich seit Wochen Zola vor uns aus. Jede Einzelheit, die wir über ihn hören, gräbt sich uns tief ins Herz. Jedes Wort, das er in der Gerichtsverhandlung, die über ihn geführt wird, spricht, ist der Ausdruck eines großen Mannes. Daß er unbehilflich in mündlicher Rede ist und nur schwer die Worte findet, um die schwerwiegenden Empfindungen, die in seiner Seele leben, auszusprechen, stimmt wunderbar zum Bilde der großen Persönlichkeit.

Vor mir liegt der Brief, den er vor kurzem an die französische Jugend gerichtet hat. Ein Dokument unserer Zeit ist dieser Brief. Nicht sonderlich große Wahrheiten weiß er der Jugend zu sagen. Nur ein feines Etwas unterscheidet Zolas Sätze von den Dingen, die mancher beliebige Freiheit- und Gleichheitschwärmer auch an die Jugend richten könnte. Aber dieses Etwas ist eine Unendlichkeit. Es ist der Gefühlsinhalt einer Persönlichkeit, die alle Vorstellungen, welche uns von überwundenen Zeiten trennen, als tiefsten eigenen Seeleninhalt aus sich ausströmt.

Ich kann mir nüchterne Beurteiler denken, welche in Zolas Brief an die Jugend (er ist in Übersetzung bei Hugo Steinitz, Berlin SW., erschienen) nur liberale Alltagsphrasen finden. Auf das Lesen zwischen den Zeilen verstehen sich diese nicht. Zwischen den Zeilen stehen die Gefühle, die das Wertvollste an dem Briefe sind.

Denken kann ich mir, daß ich lächelte, wenn ich in der Rede irgendeines Demagogen die Worte hörte: «0 Jugend, o Jugend, sei eingedenk der Leiden, welche deine Väter erduldet haben, der fürchterlichen Kämpfe, in denen sie siegen mußten, um die Freiheit zu erobern, deren du dich heute erfreust. Wenn du dich heute frei fühlst, wenn du nach deinem Belieben gehen und kommen, deine Gedanken durch die Presse aussprechen kannst, eine Meinung haben und ihr öffentlich Ausdruck geben kannst, so verdankst du das alles der Intelligenz und dem Blute deiner Väter. Ihr Jünglinge, ihr seid nicht unter einer Gewaltherrschaft geboren, ihr wißt nicht, was es heißt, jeden Morgen beim Erwachen den Fuß des Herrschers auf dem Nacken zu verspüren, ihr habt es nicht nötig gehabt, vor dem Schwerte eines Diktators, vor der falschen Waage einer schlechten Justiz zu flüchten.» Jenes Etwas, von dem ich gesprochen habe, bewirkt, daß mir diese Sätze in monumentaler Größe erscheinen.

Es scheint doch ein recht tiefer Sinn in dem Satze zu liegen: wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe.

Wir leben in einer Zeit, die reich an Widersprüchen ist. Um diese Widersprüche zu empfinden, brauchen wir Deutsche nicht erst an den Franzosen unsere Beobachtungen zu machen. Auch in unseren eigenen Reihen finden sich Erscheinungen genug, die uns erröten machen.

Was man als « Jugend » bezeichnet, ist nicht einmal das Schlimmste. Die Verwirrung ist am größten bei den Männern, die heute in den Dreißigern stehen. Da gibt es die sich modern dünkenden Persönlichkeiten, die sich nicht schämen, ihre Sympathien für reaktionäre Vorstellungen auszusprechen. Solche Moderne in den besten Jahren können wir den Tendenzen junkerhafter Cliquen zustimmen hören; und aus ihrem Munde müssen wir es vernehmen, daß die liberalen Gedanken unseres Jahrhunderts eine Kinderkrankheit unserer Zeit seien. Wie « weise » sprechen solche Männer nicht oft von dem « abstrakten » Freiheitsgedanken, der angeblich dem widersprechen soll, was sie als wirkliche Staatsnotwendigkeit ausposaunen.

Es ist empörend, wenn das Gefühl für einfache, banale Gerechtigkeit verloren geht, weil die Staatsnotwendigkeit fordern soll, daß man diesem Gefühle nicht freien Lauf lasse! über aller Staatsnotwendigkeit steht die Menschlichkeit, der ihr Recht werden muß. Die journalistischen Staatsmännlein muß ich belächeln, die da sagen: « Die französischen Gerichte haben über den Hauptmann Dreyfus gesprochen, und wir Deutsche haben uns da nicht hineinzumischen; was würden wir sagen, wenn Franzosen zu Gerichte sitzen wollten über einen Spruch, den man bei uns gefällt hat in den äußeren Formen des Rechtes!»

Zola hat die schwerste Anklage erhoben gegen das Urteil, das über den Kapitän Dreyfus erflossen ist. Ein Verbrechen hat er dieses Urteil genannt. Er hat die Menschen, die dieses Urteil herbeigeführt haben, als Verbrecher gebrandmarkt. Man klagt ihn deswegen an. Ob er recht hat oder nicht, das kann von nichts anderem abhängen, als allein davon, wie man über Schuld oder Unschuld von Alfred Dreyfus zu denken hat. Aber davon darf mit keinem Worte bei der Verhandlung gesprochen werden, die man über Zola führt. über Dreyfus zu sprechen, verbietet die Staatsnotwendigkeit. Ich habe keine Worte, um die Gefühle auszusprechen, die sich für mich an diese Tatsache knüpfen.

Wohin kommen wir, wenn wir in dieser Richtung uns weiter entwickeln?

Wie überzeugend, wie klar, wie einleuchtend dem unbefangenen Empfinden klingen Zolas Worte: « Ein Offizier ist verurteilt worden und niemand denkt daran, den guten Glauben seiner Richter anzuzweifeln. Diese haben ihn nach ihrem besten Meinen verurteilt auf Grund von Beweisstücken, welche sie für zuverlässig hielten. Da entstehen eines Tages zuerst bei einem und dann bei mehreren Zweifel. Diese Leute gelangen schließlich zu der Überzeugung, daß ein Beweisstück, und zwar das wichtigste, das einzige wenigstens, von dem bekannt geworden ist, daß sich die Richter darauf gestützt haben, fälschlicherweise dem verurteilten Angeklagten zugeschrieben worden ist, ja daß sogar dieses Beweisstück zweifellos von der Hand eines andern herrührt. Sie machen diesen andern namhaft, und derselbe wird von dem Bruder des Gefangenen bezichtigt, wie es dessen Pflicht gebot. Auf diese Weise erzwingen sie, daß ein neuer Prozeß beginnt, bevor sie daran gehen, die Revision des ersten herbeizuführen, welche auf Grund einer Verurteilung im andern Prozeß erfolgen muß.» Wie mysteriös, um nicht ein anderes Wort zu gebrauchen, nimmt sich gegenüber dieser unzweideutigen Rede das Gespenst der Staatsnotwendigkeit aus!

Zola sagt: « Die Sache ist eben die: ein falscher Richterspruch ist in die Welt gegangen; gewissenhafte Männer sind gewonnen worden, haben sich zusammengetan, widmen sich der Sache mit immer größerem Eifer und setzen ihr Vermögen und ihr Leben aufs Spiel, nur damit der Gerechtigkeit Genüge geschehe! »

Die journalistischen Staatsmännlein aber sagen: « Die französische Regierung ist nicht verpflichtet, gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung ein Wiederaufnahmeverfahren einzuleiten, weil Dreyfus nach den in seinem Lande geltenden Regeln einmal verurteilt worden ist ». Einem Zeitungsschreiber obliegt es nicht, zu konstatieren, daß es in allen Ländern der Brauch ist, bei Landesverratsprozessen ähnlich zu verfahren, wie man in Frankreich beim Falle Dreyfus verfahren ist. Ihm steht es besser an, das Widerliche eines solchen Brauchs zu charakterisieren.

Doch was rede ich viel von den freiwilligen Schleppträgern staatsmännischer Einsicht! Als Vertreter einer Zeitschrift, die der freiheitlichen Entwicklung dienen soll, will ich lieber aus vollem Herzen meinem Gruß hinübersenden dem großen Künstler, der heute vor den Schranken des Gerichts in unerschrockenster Weise all dem dient, was dem wahren Fortschritt frommt.

Rudolf Steiner