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Ethischer Individualismus und Dreigliederung des sozialen Organismus
Individuelle und gesellschaftliche Aspekte der Freiheitsfrage
Zusammenfassung
Henning Köhler geht in diesem Artikel der Frage nach, welche Voraussetzungen ein freies Geistesleben braucht, sowohl individuell als auch institutionell. Frei ist der Mensch weder dann, wenn er ungehindert seine Triebe ausleben kann, noch dann, wenn er sich gezwungen fühlt, einer inneren moralischen Stimme zu folgen. Als frei, so Henning Köhler, „erlebe ich mich nur im liebevollen Tun“. Da überschreite ich meine Bedürftigkeit und gesetzte ethische Normen. Im liebevollen Tun entsteht auch der Begegnungsort freier Individualitäten, die das Andersartige des anderen schätzen können, weil sie in ihm die gleiche Quelle für ihr Tun empfinden und respektieren können. Indem sich freie Geister im Gespräch finden, entsteht freies Geistesleben, abseits aller „Einheitlichkeitsbestrebungen“, aller Planungsmentalität und alles Zentralismus. Von hier aus können erneuernde, kreative, befruchtende Impulse ins Rechts- und ins Wirtschaftsleben einfließen – wenn dieses Geistesleben seinerseits von den Regeln und Funktionsweisen des Rechts- und Wirtschaftslebens unbeeinflusst ist.
Zitate
Die Egomanie als Vorbotin des Individualismus ist eine vergreiste, starrsinnig gewordene bewußtseinsgeschichtliche Figur, die gleichwohl noch so viel Erinnerungscharisma hat, daß sie überall dort, wo keine Zukunftsimpulse leben, mit dumpfer Wehmut angehimmelt wird wie ein alter König im Exil von seinen hinterbliebenen, enteigneten Günstlingen.
Es ist Luzifer, der die Menschen in barbarische Zustände treibt, indem er ihnen einflüstert, sie könnten sogleich zu Engeln werden. Der Weg durch Egoismus und Materialismus war unvermeidlich.
Die haufigste irrtümliche Auffassung von Freiheit ist zugleich die unter Anhängern Rudolf Steiners am heftigsten und mit größter Einhelligkeit beklagte. Sie besagt, der Mensch sei umso freier, je ungehinderter er dem gehorchen könne, was sich, durch äußere Affizierungen ausgelöst, unvermittelt, also reflexartig, als lustvoller Drang in ihm geltend macht. In Teilen der Jugendkultur wurde und wird solche sogenannte Spontaneität geradezu vergöttert, was auch seine Richtigkeit hat, denn die Verwechslung von Freiheit und Unbeherrschtheit ist in einer bestimmten Lebensphase entwicklungsimmanent. Wer allerdings als erwachsener Mensch diese Fehleinschatzung weiterschleppt und gar zur Philosophie erheben will, muß einräumen, daß dann nach seiner Definition ein schwer betrunkener Mann, der im Affekt einen anderen niedersticht, eine geradezu freiheitliche Tat begangen hat.
Ich prüfe meine Intention und Taten nicht daran, ob sie mit fremden lntentionen und Taten einig gehen oder irgendeiner allgemeinverbindlichen Idee von Fortschritt, Allgemeinwohl etc. entsprechen, sondern daran, ob sie in all ihrer Eigenständigkeit so viel Freiheits-, d.h. Liebessubstanz in sich bergen, daß ich andersartige Intentionen und Taten, die ebenfalls aus Idealismus geboren sind, nicht zurückweisen muß, sondern gesprächsbereit begrüßen kann. Selbst- und geltungssüchtige, nur auf persönlichen Vorteil, Lust- und Machtlust-Befriedigung gerichtete Bestrebungen kollidieren, freie Bestrebungen kommunizieren. Das ist ein Gesetz. Es ist der Grundirrtum der bürgerlich-kapitalistischen Weltanschauung, daß sie von der Möglichkeit der Kommunikation blanker Egoismen ausgeht.
Denn die Liebe zur Wahrheit belehrt mich rasch darüber, daß sie kein quantifizierbarer Bestand ist, von dem der eine mehr, der andere weniger zusammenraffen und besitzen kann, sondern eine prozessuale Qualität, Ereignisqualität: ein Dialog-Geschehen, in das jeder sein Ur-eigenstes einbringt, den Nebenmenschen in seiner Ureigentümlichkeit mit ebensolcher Vorfreude erwartend, wie lange getrennte Freunde einander erwarten. Erwarte ich den Freund, um sein Gesicht zu verändern? Nein. Ich will sein Gesicht sehen. In diesem Sinne ist freies Geistesleben überall dort, wo uneigennütziges Interesse an den Ideen, Werken und Zielen anderer Menschen und Menschenzusammenhänge auf der Wahrnehmungsseite dieselbe innere Haltung kennzeichnet, für die auf der Tatseite gilt: „Frei ist der Mensch, insofern er in jedem Augenblicke seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist“.
Geistige Uniformität ist ein untrügliches Indiz für sittlich unproduktives, nämlich unfreies Denken.
Moralische Phantasie jedoch ist das in der Gegenwart aufblitzende Zukünftige. Ihr die rechten Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen, ist die Aufgabe des geistigen Gliedes des sozialen Organismus.