Recht auf Bildung statt Schulpflicht

Quelle: GA 330, S. 321, 2. Ausgabe 1983, 19.06.1919, Stuttgart

Dann ist - das wird ja immer gefragt, wenn diese Frage besprochen wird - eingewendet worden, daß die Bildungsinteressen und das Bildungsbedürfnis in der heutigen Zeit nicht allzu groß seien, daß die meisten Eltern froh wären, wenn sie die Kinder nicht in die Schule zu schicken brauchten. - Es ist sogar gesagt worden: kein Mensch würde mehr die Kinder in die Schule schicken. - Aber das, was ich gesagt habe, berührte ja gar nicht diese äußerliche Frage des In-die-Schule-Schickens der Kinder oder nicht. In meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» spreche ich von einem Recht auf Erziehung, das das Kind hat, und für das sogar im künftigen Staatswesen wird ein entsprechender Erziehungsbeitrag zu geben sein vom zukünftigen Wirtschaftsleben. Also, ich spreche nicht davon, daß der «Schulzwang» als lästig empfunden wird von solchen Eltern, welche die Kinder nicht in die Schule schicken wollen, sondern lieber aufs Feld, sondern ich spreche davon, daß das Kind im gesunden sozialen Organismus ein Recht hat auf Erziehung. Nun könnte man sagen: Wenn es dieses Recht hat, wird der Staat - warum heute auf den Staat gedroschen worden sein sollte, wie ein Redner sagte, das weiß ich nicht - noch immer da sein als die Rechtsinstitution -, aber ich hatte heute nur über die Geistesinstitution zu sprechen. Und da könnte eingewendet werden: Wenn dieses Recht auf Erziehung des Kindes geltend gemacht wird, dann werden die Eltern die Kinder in die Schule schicken müssen, dann kann man meinetwillen auch den Schulzwang lassen. Aber das hat nichts zu tun mit dem Auf-sichselbst-Stellen des Geisteslebens, hat nichts zu tun mit dem, was in den Schulen getan wird, mit der Verwaltung des Schulwesens. Neulich habe ich einmal die Frage folgendermaßen beantwortet: Wenn man keinen Schulzwang hat, wenn das Recht auf Erziehung besteht, kann man sogar androhen, daß man bei denjenigen Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken wollen, einen Erziehungsvormund für das Kind einsetzt, der das Recht des Kindes auf Erziehung bei den

Eltern vertritt; dann werden sie die Kinder hübsch in die Schule schicken. Diese Nebenfragen lassen sich nämlich alle beantworten, wenn man nur den guten Willen hat, wirklich die Hauptfrage zu verstehen: was alles davon abhängt, daß das Geistesleben in freier Weise auf sich selbst gestellt wird.