Kulturrat statt Kultur-Unrat und kleinliche Anthroposophie

Quelle: GA 192, S. 182-183, 1. Ausgabe 1964, 09.06.1919, Stuttgart

Wir haben es immer wieder und wieder erleben müssen, daß die anthroposophischen Absichten ins Egoistisch-Kleinliche übersetzt wurden aus einer gewissen Couragelosigkeit gegenüber dem Großen. Gar zu gern haben die, welche sich zur Anthroposophie bekannten, den Weg gesucht, indem sie sagten - nehmen wir ein Gebiet heraus - : Die Schulmedizin ist auf falschem Wege; also gehen wir allerlei Schleichwege, um nicht so kuriert zu werden, wie die Schulmedizin es macht, sondern um anders kuriert zu werden. - Sie kennen ja diese Dinge. Schleichwege wurden gesucht für dieses oder jenes. Aber versagt hat man immer dann, wenn es darauf ankam, in der Öffentlichkeit die Sache zu vertreten. Es kommt ja nicht darauf an, daß auf Schleichwegen diejenigen zu erreichen sind, die in der Öffentlichkeit als « Kurpfuscher » gebrandmarkt werden, sondern daß in die öffentliche Struktur, in die soziale Struktur diejenigen aufgenommen werden, die dann mit vollem Recht aus dem Geiste heraus auch das Medizinische treiben können. Raffen wir uns doch auf zu dem wirklichen Mut ! Sagen wir nicht in unserem Kämmerlein: Von dem an der Universität abgestempelten Arzt wollen wir uns nicht kurieren lassen, aber zu dem wollen wir gehen, der ohne öffentliches Recht kuriert, weil wir uns nicht getrauen, unsere Gesinnung vor der ganzen öffentlichkeit zu vertreten und zu verlangen, daß eine solche Medizin nicht da sein dürfte, die wir nicht als die richtige ansehen. Heute geht es nicht mehr mit den Schleichwegen. Heute pulst durch das öffentliche Leben das, was kommen muß: ein couragiertes Vorwärtsdringen, dem nur die richtigen Wege gewiesen werden müssen. Das, meine lieben Freunde, ist es, was wir jetzt immer wieder und wieder bedenken müssen: daß Anthroposophie nicht gedacht war für den Egoismus einzelner Sektierer, sondern daß sie gedacht war als ein Kulturimpuls der Gegenwart. Diejenigen haben Anthroposophie schlecht verstanden, die geglaubt haben, daß sie ihr dann dienen, wenn sie sich sektiererisch im Hinterstübchen abschließen und etwas Sektiererisches treiben. Gewiß, die Dinge, die öffentlich wirken sollen, müssen zuerst gekannt sein, müssen meinetwillen zuerst im Hinterstübchen getrieben werden; aber es darf dabei nicht bleiben. Was im anthroposophischen Impuls liegt, gehört der Welt an, gehört keiner Sekte an. Und jeder versündigt sich gegen die Anthroposophie selbst, wenn er die anthroposophischen Gedanken sektiererisch treibt. Daher muß die Anthroposophie jetzt, wo die große Zeitfrage, die soziale Frage erscheint, in diese soziale Frage hinein ihr Wort legen. Das ist ihre Aufgabe. Und sie muß gewissermaßen hinweggehen über alle sektiererischen Neigungen, die ja leider gerade in der Anthroposophischen Gesellschaft sich so breit geltend gemacht haben. In dieser Beziehung werden wir in uns gehen müssen, um alle sektiererischen Neigungen in unserer Seele zu Kulturneigungen zu erheben. Denn nur aus diesem Gebiete der Geisteswissenschaft heraus, aus der Neigung, das Geistesleben in unserer materialistischen Zeit lebendig zu machen, kann eine wirkliche Umwandelung des Geisteslebens, des Schul- und Unterrichtswesens hervorgehen. Alles braucht man selbstverständlich innerhalb eines Kulturrates. Dieser Kulturrat kann ohne eine wirkliche Seele, die aus einer neuen Weltanschauung kommen soll, doch nur nach und nach - wenn er auch jetzt noch so gut sich anläßt - ein Kultur-Unrat werden. Bedenken wir, daß heute die Wege sich sehr, sehr stark als in der Scheidung begriffen darstellen, und daß man Mut braucht, um zu wählen, daß aber gewählt werden muß, wenn Heil, nicht Unheil über die Menschheitsentwickelung kommen soll. Gewiß können wir nicht von heute auf morgen die ganze Welt anthroposophisch machen, mit einer neuen Weltanschauung beglücken. Aber wenn wir selber wirken, müssen wir uns dessen bewußt bleiben, daß wir wahrhaftig nicht Anthroposophie errungen haben, um sie jetzt entweder ahrimanisch oder luziferisch zu verbergen, sondern um zwischen dem Ahrimanischen und Luziferischen den Gleichgewichtszustand zu suchen, damit wir gegenüber dem, was die sehr stark nach abwärts sinkende Zeitwaagschale bietet, damit wir diesem Hineinsausen in das Ahrimanische dasjenige entgegenhalten können, was jene Gleichgewichtslage hervorbringt, welche die heutige Menschheit ja so sehr braucht.