- Startseite ›
- Forschung ›
- Rudolf Steiner ›
- Zitate ›
- ›
- Darwin als Abstammung und Kropotkin als Entwicklung
Darwin als Abstammung und Kropotkin als Entwicklung
Quelle: GA 171, S. 229-234, 1. Ausgabe 1964, 07.10.1916, Dornach
Im 19. Jahrhundert nun erreichte namentlich dasjenige, was in dieser Entwickelung lebt - denn die letzten Ereignisse dieser Entwickelung gehören ja durchaus dem 19. Jahrhundert schon an -, eine gewisse Krisis. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht es eine gewisse Krisis. Es wurde gewissermaßen das Äußerste erreicht, was anstreben kann physische Verstandesleistung: das Streben nach dem Glück wurde allmählich im 19. Jahrhundert zum Streben nach der bloßen Nützlichkeit. Und das ist es, was insbesondere in der Mitte des 19. Jahrhunderts hervortritt: das Streben sowohl auf erkenntnismäßigem Gebiete wie auf dem Gebiete der bloßen Nützlichkeit. Das war dasjenige, was insbesondere beunruhigt hat diejenigen, welche die wahren, die ewigen Bedürfnisse der Menschheitsentwickelung verstehen: daß das 19. Jahrhundert eine Krisis bringen sollte in bezug auf das Nützlichkeitsprinzip. Materialismus auf dem Gebiete des Erkenntnislebens, Nützlichkeit auf dem Gebiete des praktischen Lebens sind zwei Dinge, die zusammengehören. Hier werden diese beiden Dinge nicht aufgezählt aus dem Grunde, um sie zu kritisieren und gegen sie zu zetern, sondern sie werden aufgezählt, weil sie notwendige Durchgangspunkte für die Menschheit waren. Die Menschheit mußte durchgehen sowohl durch das Prinzip des Materialismus auf dem Erkenntnisgebiete wie durch das Prinzip der bloßen Nützlichkeit auf dem Gebiete des praktischen Lebens. Nur handelte es sich darum, wie nun in diesem 19. Jahrhundert die Menschheit geführt werden sollte, um durch diesen notwendigen Punkt ihrer Entwickelung durchzugehen. Und mit der Betrachtung darüber, mit der Betrachtung desjenigen, was heute schon betrachtbar ist aus dem 19. Jahrhundert, wollen wir heute beginnen, auf einige Gesichtspunkte aufmerksam zu machen, um sie dann am nächsten Samstag weiter auszuführen.
Die Erkenntnis gerade, die auf die Geburt hinging und auf die Vererbung, auf das Begreifen des Menschen als eines natürlichen Geschöpfes, diese Erkenntnis wurde nun in den Dienst des Materialismus, ja sogar als Erkenntnis in den Dienst des Nützlichkeitsprinzips gestellt. Das kann man auf den verschiedensten Gebieten nachweisen. Machen wir uns klar, was da eigentlich geschehen ist.
Sie wissen alle, und ich habe es in den beiden öffentlichen Vorträgen in dieser Woche ja auch öffentlich hervorgehoben: Der Darwinismus ist heraufgekommen, der Darwinismus hat über das Problem der Geburt des Menschen, das heißt des Hervorgehens des Menschen aus der übrigen Organismenreihe ganz besondere Ideen heraufzubringen versucht. Wir wissen, daß alles dasjenige, was mehr spirituell, geistig ist am Darwinismus, schon in Goethes Metamorphosenlehre steckt; aber diese Goethesche Metamorphosenlehre sollte zunächst, man möchte sagen, wie esoterisch bleiben. Die gröbere materialistische Form der Verwandelungslehre, die der Darwinismus gebracht hat, sollte zunächst unter die Menschheit kommen, sollte beliebt werden, sollte von den Menschen zu verstehen gesucht werden. Und wir haben ja im öffentlichen Vortrage gesehen, welche Schicksale der Darwinismus durchgemacht hat, wie die intimsten Schüler der Darwinisten im Laufe weniger Jahrzehnte dazu gekommen sind, diesen Darwinismus selbst, insofern er in seiner drastischen Färbung aufgetreten ist, in den Grund und Boden zu bohren. Aber dieser Darwinismus, ist er eigentlich in die Weltbetrachtungen des 19. Jahrhunderts eingezogen deshalb, weil irgendwelche Naturtatsachen dazu nötigen? Nicht einmal die Naturforscher selber, die denken, behaupten das heute mehr. Ich habe das gestern auseinandergesetzt. Oskar Hertwig sagt es ausdrücklich: Weil die Menschen in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Punkt angekommen waren, nur die äußeren Nützlichkeitsprinzipien gelten zu lassen, die merkantilen, die sozialen Nützlichkeitsprinzipien, haben sie diese Prinzipien auch übertragen auf die äußere Welt. Kein Wunder, daß die äußere Welt das nicht bewahrheitet hat, als man sie genauer betrachtete. Die Menschen wollten ein Spiegelbild ihres eigenen Denkens in der Natur sehen.
Aber wie ist Darwin eigentlich zu dieser Anschauungsweise gekommen? Das ganze Nützlichkeitsprinzip ist ja wiederum aus der Anschauung über das Glück, wie man das Glück auf der Erde begründet, hervorgegangen. Es ist außerordentlich charakteristisch. Nun wurde Darwin aufmerksam in seiner Zeit auf eine gewisse Strömung, welche, man könnte sagen, in der denkbar materialistischsten Weise über das Glück der Menschen auf Erden nachdachte, darüber nachdachte, wie das Glück auf der Erde begründet werden solle.
Darwin kam dem nahe und stellte sein Denken in den Dienst desjenigen, was man Malthusianismus nannte, die Lehre des Malthus. Was ist das? Diese Lehre des Malthus ging aus von der Anschauung, daß auf Erden die Lebensmittel sich vermehren dadurch, daß man die Fruchtbarkeit der Erde rationeller ausnützt, daß man also die Fruchtbarkeit der Erde vergrößern kann. Aber neben dieser Zunahme der Fruchtbarkeit der Erde betrachteten die Malthusianer auch die Zunahme in der Bevölkerung der Erde, wie sie das eben betrachten konnten. Alle Inkarnationsideen waren ja ausgeschaltet. Und da kamen sie darauf, daß in ungleicher Art die Fruchtbarkeit der Erde zunimmt, einerseits die Fruchtbarkeit in bezug auf die Nahrungsmittel, andererseits die Fruchtbarkeit in bezug auf die Bevölkerung. Sie dachten, die Zunahme der Nahrungsmittel geschieht etwa so: 1 2 3 4, wie man sagt, in arithmetischer Progression, die Zunahme der Bevölkerung dagegen 1 4 9 16 und so weiter in entsprechend langen Zeiträumen, wie man sagt, in geometrischer Progression. Die Anhänger des Malthus begründeten auf diese Anschauung eine Ansicht, die sie glaubten begründen zu müssen im Sinne der Glückseligkeit der Menschen auf Erden. Denn wohin soll es denn führen, wenn die Erde so übervölkert wird, wie sie übervölkert werden muß, wenn die Bevölkerung in geometrischer Progression steigt, während die vorhandenen Nahrungsmittel nur in arithmetischer Progression steigen? Daraus ging ein Prinzip hervor, das, ich möchte sagen, Gott sei Dank nur kurze Zeit wenige verblendet hat, es ging das Prinzip des sozialen Malthusianismus hervor, das Ideal des Zweikindersystems. Man sagte, da die Natur die Tendenz hat, die Menschenvermehrung geometrisch vorwärtszutreiben, muß Einhalt geschaffen werden durch das Zweikindersystem. Nun, über diese besondere Anwendung des Glückseligkeitsprinzipes im ganz materialistischen Sinne, daß man einfach die Geburtenfolge der Erde so bestimmt, wie man sich sie nur unter materiellen Voraussetzungen bestimmbar dachte, brauchen wir uns ja nicht weiter einzulassen. Aber Darwin stand ganz unter dem Einfluß dieses Prinzipes, und er sagte sich. Wie ist die Natur also eigentlich beschaffen, wenn sie solch ein Prinzip hat? - Er ging aus von der Gewißheit dieses Prinzipes, daß für alle Wesen, die leben, die Nahrungsmittelzunahme in arithmetischer Progression geschieht, die Zunahme an Individuen in geometrischer Progression.
Daraus ergab sich ihm das Folgende, er sagte sich: Wenn die Nahrungsmittel nur zunehmen wie 1 2 3 4 5, die Vermehrung aber der einzelnen tierischenWesen wie 1 4 9 16 25 und so weiter, dann muß notwendigerweise unter den Wesen der Kampf um die Nahrungsmittel, der Kampf ums Dasein ein wirksames Prinzip sein. Und aus dem Malthusianismus heraus, also aus etwas, was im Grunde genommen für das praktische Leben bestimmt war, hat Darwin sein Prinzip vom Kampf ums Dasein gebildet, nicht aus Beobachtung der Natur, sondern aus dem Malthusianismus heraus; der hat ihn angeregt, der hat ihn inspiriert. Kampf ums Dasein ist aus diesem Grunde da.
Wir sehen also: Erkenntnismäßige Naturbetrachtung war es nicht, was Darwin den Anstoß gegeben hat, sondern es war das Nützlichkeitsprinzip im Leben, das der Malthusianismus durch Geburtenregulierung gesucht hat. Dann hat man geglaubt, diesen Kampf ums Dasein in der Natur überall zu finden und hat sich gesagt: Alle Wesen leben im Kampf ums Dasein, das Unpassende wird besiegt, das Passende bleibt übrig im Kampf ums Dasein, - Auslese des Nützlichen. jetzt brauchte man kein weisheitsvolles Prinzip, sondern man hatte an die Stelle der Weltenweisheit den Kampf ums Dasein gesetzt. Das Nützliche erhält sich, das Nutzlose geht verloren im Kampf ums Dasein. Auslese des Passendsten. Wie geeignet für die Menschen des 19. Jahrhunderts, die einen gewissen Trieb entwickelten, möglichst das Geistige abzustreifen und möglichst nur im Materiellen zu leben! Denn Ideale zu haben, daran brauchte man ja nicht zu denken, wenn man nur dem großen Prinzipe der Auslese des Passendsten leben konnte. Und man brauchte sich ja so wenig zu bemühen, Ideale zu verwirklichen, da die Natur ohnedies das Passendste ausliest, ja man könnte sogar der Natur entgegenarbeiten, wenn man Idealen sich hingäbe, denn die Natur findet in sich selber das Prinzip, das Passendste auszulesen. Man könnte, wenn man Ideale verwirklicht, sich vielleicht sogar zu einem unpassenden Individuum machen, das den Kampf ums Dasein in seinen Idealen zugrunde legen müßte! Das ist nicht etwas, was bloß ein einzelner empfindet, sondern was in den Menschen des 19. Jahrhunderts lebte und klar und deutlich ausgesprochen wurde überall.
Aber außerdem, wie konnte man sich sozusagen die Finger ablecken, wenn man auf den Wegen des 19. Jahrhunderts es zu etwas gebracht hatte, wenn man, sagen wir zum Beispiel durch irgendwelche, seien es auch noch so fragwürdige Mittel, eine besondere Position im Leben erworben hat! Die Natur hat das allgemeine Prinzip, das Passendste auszuwählen; man war also der Passendste! Man genierte sich zwar, das immer auszusprechen, aber man wirkte doch unter dem Triebe, so zu denken. Wenn man sich ein möglichst großes Vermögen ergaunert hat, warum sollte man dies nicht gerechtfertigt finden, da die Natur immer das Passende auswählt? Man war also der Passendste. Kurz, dadurch kam eine Weltanschauung herauf, welche die Menschheit des 19. Jahrhunderts in einer ganz besonderen Weise betäuben mußte.
Ich wollte hauptsächlich zeigen, wo der wahre Antrieb, der wahre Impuls des Darwinismus liegt, weil in den schönen Vereinen, die sich heute als Monisten-Vereine kundgeben, oder in den Vereinen, die überhaupt heute Aufklärungen verbreiten, der materialistisch gefärbte Darwinismus wie ein Evangelium gelehrt wird, wenig aber gewußt wird, welche Impulse eigentlich in ihm leben, wie denn auf diesem Gebiete die Menschen überhaupt viel mehr geneigt sind, solche Begriffe und Ideen zu predigen und entgegenzunehmen, durch die sie sich über die Wahrheit betäuben, als solche, durch die sie sich über die Wahrheit etwa aufklären würden. So könnten wir noch vieles anführen, was ein Ausdruck dafür wäre, wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Verstandeskultur in eine Krisis eingetreten war.
Nun handelte es sich für diejenigen, die da wissen, daß niemals eine der Strömungen, die notwendig sind zum Fortschritt der Menschheit, ganz getötet werden darf, darum, wie im Zeitalter der bloßen Nützlichkeit aufrechtzuerhalten war spirituelle Kultur. Es ist kein Zufall, sondern im Sinne der ganzen menschlichen Entwickelung begründet - ich habe schon öfter darauf hingewiesen und ich will heute noch einmal darauf hinweisen -, daß, als das Nützlichkeitsprinzip in der Mitte des 19. Jahrhunderts die europäische Entwickelung in eine Krisis brachte, geboren wurde eine Persönlichkeit wie die Frau Blavatsky, welche durch natürliche Veranlagung fähig gewesen wäre, ganz besonders viel aus der geistigen Welt heraus der Menschheit zu offenbaren.
Wenn jemand als Astrologe die Sache betrachten wollte, so könnte er folgendes schöne Experiment machen: Er könnte den Zeitpunkt der stärksten Nützlichkeitskrise in der Mitte des 19. Jahrhunderts untersuchen und der Nützlichkeitskrise im 19. Jahrhundert das Horoskop stellen. Er kann dasselbe Horoskop bekommen, wenn er das Geburtshoroskop der Blavatsky stellt! Es war dies einfach ein Symptom, daß der sich entwickelnde Weltengeist im Laufe der Zeit eine Persönlichkeit in die Welt stellen wollte, durch deren Seele das Gegenteil des Nützlichkeitsprinzipes zum Vorscheine kommen sollte.
Das Nützlichkeitsprinzip ist nun ganz und gar begründet in der Westkultur. Die Ostkultur aber hat immer Front gemacht gegen das Nützlichkeitsprinzip. Daher sehen wir auch das eigentümliche Schauspiel, daß im Westen bis in die Erkenntnis hinein das Nützlichkeitsprinzip getrieben wird im materialistischen Darwinismus, daß der Kampf ums Dasein einzieht in die wissenschaftliche Betrachtung, der brutale Kampf ums Dasein. Wissenschaftlich ist zuerst Front gemacht worden gegen den Kampf ums Dasein vom Osten her durch russische Forscher, deren emsige Geistesarbeit dann Kropotkin zusammengefaßt hat in seinem Buche, das zu lesen sehr nützlich ist, in dem er zeigt, wie nicht der Kampf ums Dasein in der Entwickelung der tierischen Arten lebt, sondern die gegenseitige Hilfeleistung. Und so haben wir um die Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinend Darwins «Entstehung der Arten», Entwickelung der Arten durch Kampf ums Dasein im Westen, im Osten haben wir bei Kropotkin den Gegenpol zusammengefaßt. Aber Kropotkin faßt eben nur eine ganze Reihe russischer Forschungen zusammen in dem Buche, das die Entwickelung der Lebewesen, die Entwickelung der Arten dadurch charakterisiert, daß gezeigt wird, wie diejenigen Arten am besten fortkommen, welche am meisten darauf veranlagt sind, daß sich ihre Individuen gegenseitig helfen. Diejenigen Tierarten entwickeln sich am besten weiter, welche am meisten zur gegenseitigen Hilfeleistung angelegte Individuen haben. Dem Kampf ums Dasein wird die gegenseitige Hilfeleistung gegenübergestellt.
So wird gelehrt auf der einen Seite, gewissermaßen am einen Pol der neueren Geisteskultur: Diejenigen Arten entwickeln sich am besten vorwärts, die am brutalsten bestehen im Kampfe ums Dasein, die die anderen am besten verdrängen können. Von Osten her, vom anderen Pole wird gelehrt: Diejenigen Arten entwickeln sich am besten, deren Individuen am meisten dafür angelegt sind, daß das eine dem anderen hilft.
