Unterschiede statt Gemeinsamkeiten der Religionen

Quelle: GA 121, S. 138-140, 5. Ausgabe 1982, 14.06.1910, Oslo (Kristiania)

Wenn man die Entwickelung der germanisch-nordischen Geschichte und die darin geschilderten geistigen Impulse studieren will, dann hat man nötig, den Grundcharakter der germanisch-nordischen Mythologie zunächst ins Auge zu fassen, und es ist schon das letzte Mal darauf aufmerksam gemacht worden, daß diese germanisch-nordische Mythologie, trotz manchem, worin sie Ähnlichkeit hat mit anderen Mythologien und Götterauffassungen, doch etwas ganz Eigentümliches ist. Dabei bleibt doch richtig, daß ein sehr weitgehender Grundkern mythologischer Auffassung sich über alle germanischen Völker und Stämme Europas hin erstreckt, so daß bis weit nach Süden hin eine einheitliche mythologische Auffassung, im Grunde genommen ein gleichartiges Verständnis jener verwandtschaftlichen Beziehungen möglich ist. Gerade für das Eigenartige der germanisch-nordischen Mythologie muß durch alle Volksgebiete, in denen in der einen oder anderen Form diese Mythologie ausgebreitet war, einstmals ein gleiches Verständnis vorhanden gewesen sein; denn es unterscheidet sich das, was gemeinsam ist in der Mythologie der germanisch-nordischen Völker, ganz gewaltig schon von dem Wesenskern der griechischen Mythologie, ganz zu schweigen von der ägyptischen, so daß alles, was verwandt ist in der germanischen Mythologie, einander ganz nahe steht und weit entfernt ist von dem, was das Wesentliche in der griechischen und römischen Mythologie ist. Man kann aber dieses Wesentliche heute nicht sehr leicht verstehen, aus dem Grunde nicht, weil aus Erkenntnisvoraussetzungen - über welche zu sprechen hier zu weit führen würde - heute eine gewisse Sehnsucht, ein gewisser Trieb herrscht, die Religionen der verschiedenen Völker einfach miteinander zu vergleichen. Vergleichende Religionswissenschaft, vergleichende Mythologie, das ist etwas, wofür heute viel Enthusiasmus herrscht. Es ist dies ein Gebiet, auf dem es möglich ist, den allergrößten Unfug zu treiben. Was geschieht denn gewöhnlich, wenn man Mythologien und Religionen einzelner Völker miteinander vergleicht? Man vergleicht die Äußerlichkeiten, die in den Göttergeschichten vorliegen, sucht nachzuweisen, daß die eine Göttergestalt in der einen Mythologie vorkommt und in ähnlicher Weise auch in der anderen und dergleichen mehr. Diese Religionsvergleichung ist für denjenigen, der den Tatbestand, der darin vorliegt, wirklich kennt, so ziemlich das Unbehaglichste in unserer gegenwärtigen Wissenschaftsrichtung, deshalb, weil man eigentlich überall nur die Äußerlichkeiten vergleicht. Eine solche Religionsvergleichung macht auf den, der den Tatbestand kennt, ungefähr den Eindruck, wie wenn jemand sagte: «Vor dreißig Jahren lernte ich einen Menschen kennen. Der trug eine Uniform, die war so und so beschaffen. Der Mann hatte blaue Hosen, einen roten Rock und diese oder jene Kopfbedeckung und so weiter» und schnell dann fortfährt: «Dann habe ich vor 20 Jahren einen Menschen kennen gelernt, der trug dieselbe Uniform und vor zehn Jahren wieder einen, der trug wieder dieselbe Uniform.» Wenn der Betreffende nun glauben würde, die Menschen, die er da kennengelernt hat vor dreißig Jahren, zwanzig Jahren und zehn Jahren, weil sie gleiche Uniform trugen, auch ihrer Wesenheit nach miteinander vergleichen zu können, so kann er sich sehr irren; denn es kann ein ganz anderer Mensch, in den verschiedenen Zeiten, in der Uniform drinstecken, und es kommt doch im wesentlichen darauf an, was für ein Mensch in der Uniform steckt. Das Gleichnis ist scheinbar weit hergeholt, und dennoch kommt es bei der Religionsvergleichung auf dasselbe hinaus, wenn man den Adonis nimmt und ihn mit dem Christus vergleicht. Da vergleicht man nur die äußere Uniform. Kleidung und Eigenschaften der Wesen in den Sagen können sehr ähnlich oder gleich sein, aber es handelt sich darum, was für geistig-göttliche Individualitäten darinnen sind, und wenn das ganz andere Individualitäten sind, die im Adonis und im Christus darinnen stecken, so hat eben diese Vergleichung nur den Wert einer Vergleichung der Uniform. Dennoch ist diese Vergleichung heute ungemein beliebt. Es kommt also auf das vielfach durchaus gar nicht an, was heute die vergleichende Religionswissenschaft mit ihren ganz äußerlichen Methoden auf diesem Gebiete zutage fördern kann. Es kommt vielmehr darauf an, daß man kennenlernt, gewissermaßen aus der Differentiation der Volksgeister heraus, die Art und Weise wie dieses oder jenes Volk, sei es zu seiner Mythologie, sei es zu seiner sonstigen Götterlehre, sei es selbst zu seiner Philosophie, gekommen ist.