Freiheit überall: Geist, Politik, Ökonomie

Quelle: GA 032, S. 223-226, 2. Ausgabe 1971, 21.10.1898

Der alte Literaturhofrat in Leipzig, Rudolf von Gottschall, leitet mit einem Aufsatze, der obigen Titel trägt, eine neuerscheinende Halbmonatschrift «Das literarische Echo» ein. Es ist wahrhaftig nicht meine Absicht, dem neuen Unternehmen das Leben sauer zu machen, trotzdem sein genannter Vorredner recht geschmackvoll den Artikel mit einem Ausfall auf die bestehenden literarischen Zeitschriften schließt. Er rechnet das «Magazin für Literatur» wahrscheinlich unter diejenigen Literaturblätter, die er als «ein Sammelsurium von Meinungen und Maßstäben», «einen Tummelplatz für eine Kritik, die nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstrebt», bezeichnet.

Es ist nicht gerade leicht, aus des Herrn von Gottschalls Artikel zu erkennen, was er will. Er klagt darüber, daß die allgemeine, humanistische Bildung im Abnehmen begriffen sei. Er klagt sogar darüber, daß «der lateinische Aufsatz aus den Schülerarbeiten der höheren Gymnasialklassen gestrichen worden ist». Ich kann aus dem Aufsatz des Herrn von Gottschall nur das eine herauslesen- Er beklagt das Aussterben der literarischen Schönredner von der Art des salbungsvollen Moriz Carriere und des - Herrn von Gottschall selbst, die den Gipfel der Weisheit erklommen haben durch Aneignung einiger Brocken der Hegelsehen Philosophie und Ästhetik, und welche die große Revolutionierung der Geister nicht mitgemacht haben, die sich durch die naturwissenschaftliche Denkweise in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts vollzogen hat. Recht charakteristisch für Herrn von Gottschall ist, daß er sagt: «Im ganzen bleibt als Hauptträgerin der literarischen Bildung die Frauenwelt übrig.» Er hat natürlich die Frauenbildung im Sinne, welche sich die charakterisierte ästhetische Schönrednerei angeeignet hat, und von der sich die Frauen abwenden, die den Geist der Gegenwart verstehen.

Redigierte Herr von Gottschall heute eine literarische Zeitschrift, so fände man darinnen nur Meinungen, die im Jahre 1832 ganz gut hätten geschrieben werden können. Ebenso wie man in den ermüdenden vier Bänden «Deutsche Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert» nur solche Meinungen findet.

Die auf Grund der naturwissenschaftlichen Errungenschaften des Jahrhunderts mögliche Denk- und Empfindungsweise ist für Herrn von Gottschall nicht da. Er hat keinen Sinn dafür, die Jugend in dieser Denkweise zu erziehen, er möchte vielmehr, daß der lateinische Aufsatz in die Schülerarbeiten der höheren Gymnasialklassen wieder eingeführt werde.

Herr von Gottschall gehört zu jenen Glücklichen, die alles wissen. Sie können genau unterscheiden, was künstlerisch wertvoll ist und was nicht. Sie wissen zu klassifizieren. Sie werden also eine Zeitschrift redigieren wie folgt: Ich nehme alles an, was meinem ästhetischen Urteile entspricht. Denn ich habe recht, und alle andern haben unrecht. Meine Zeitschrift muß ein einheitliches Gepräge tragen.

Wir andern sind nicht so glücklich wie Herr von Gottschall. Wir haben unsere Anschauungen und Empfindungen unter dem Einflusse der naturwissenschaftlichen Fortschritte gebildet. Daß durch Darwin alle durch die Jahrhunderte großgezogenen Empfindungen und Vorstellungen umgestaltet worden sind: davon sind wir nicht unberührt geblieben wie Herr von Gottschall. Aber wir wissen zugleich, daß die neue Weltanschauung in den einzelnen Köpfen verschiedene Formen annehmen kann. Wir haben keine schablonenhaften Ansichten wie Herr von Gottschall. Wir lassen auch den andern gelten. Wir wissen, daß es einen Kampf ums Dasein der Meinungen gibt.

Deshalb müssen wir eine Zeitschrift anders redigieren, als Herr von Gottschall will. Der Herausgeber vertritt seine Ansicht mit aller Kraft, deren er fähig ist. Aber er läßt auch andere Meinungen zu Worte kommen. Er ist sogar stolz darauf, seinen Lesern einen «Tummelplatz für eine Kritik zu bieten, die nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstrebt». Er will, daß jede auf genügenden Voraussetzungen gebildete Anschauung vertreten wird.

Was in Herrn Gottschalls Augen ein Nachteil ist, das nehme ich zum Beispiel als einen Vorzug in Anspruch.

Ich liebe die Freiheit. Ich liebe sie nicht nur auf politischem Gebiete in dem Sinne, wie ich es in meiner Antwort auf J. H. Mackays Brief an mich in Nummer 39 ausgesprochen habe, ich liebe sie auch auf dem Felde des geistigen Verkehrs, den eine Zeitschrift zu vermitteln hat. Und wie ich das Vertrauen habe, daß die Menschen in ökonomischer und ethischer Beziehung am besten in der Sonne der Freiheit gedeihen können, so habe ich auch den Glauben, daß das geistige Leben am besten fährt, wenn die Meinungen und Ansichten in freier Entwickelung miteinander kämpfen.

So habe ich es gehalten, seit ich das «Magazin für Literatur» redigiere, und so werde ich es halten, auch wenn Herr von Gottschall diese Zeitschrift verächtlich einreihen sollte in die Schar derer, die ein «Tummelplatz» sind «für eine Kritik, die nach allen Richtungen der Windrose auseinanderstrebt».