Tschernobyl und die finnische Milchmädchenrechnung

26.05.2002

Der finnische Reichstag hat am 24.05.2002 in Helsinki den Ausbau der Atomkraft gebilligt. Damit wird zum ersten Mal seit der Katastrophe von Tschernobyl 1986 in einem EU-Land ein neuer Atomreaktor in Auftrag gegeben. Bei der seit Monaten mit Spannung erwarteten Abstimmung im Parlament in Helsinki sprachen sich 107 Abgeordnete für und 92 gegen den Bau des fünften Reaktors in Finnland aus. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Paavo Lipponen begrüßte die Entscheidung und sagte vor Journalisten: "Jetzt haben wir damit langfristige Sicherheit für unsere Energiepolitik." Finnland könne nun auch die eigenen Verpflichtungen aus dem Klimaprotokoll von Kioto zur Begrenzung von Co2-Emissionen einhalten.

Es ist ein merkwürdiges Sicherheitsgefühl, das in Finnland zur Geltung kommt. Die Sicherheit von Leben und Gesundheit der Bewohner Finnlands, aber auch der Nachbarn, ist der Sicherheit einer angeblich wirtschaftlichen Energiepolitik geopfert worden.

Die Politiker versagen in ihrem ureigensten Auftrag, nämlich dem basalen Anspruch auf menschenwürdiges Dasein. Dies wird nun wirtschaftlichen Interessen geopfert. Auch wenn das Risiko eines Supergaus statistisch gering ist, zeigt Tschernobyl, dass es existent ist, und dass nun auch die finnische Regierung russisches Roulette mit ihren Bürgern spielt.

Wenn auch das Grundübel darin besteht, dass die Politiker versuchen Wirtschaftspolitik zu betreiben, muß man doch sagen, dass sie diesen Versuch ganz jämmerlich anpacken.

Atom-Kilowattstrom ist momentan zwar wesentlich billiger, als Alternativenergie, wie z.B. Wasser, Wind und Wellenkraft. Aber während ersterer ein Auslaufsmodell ist, befindet sich das Segment der Alternativenergie in einer kräftigen Entwicklung. Die Energiepolitik Finnlands ist ohnehin auf die Zukunft gerichtet, zumal das Atomkraftwerk erst in 6-7 Jahren ans Netz geht und eine lange Laufzeit besitzt - da sollte Alternativenergie als Zukunftsenergie doch noch lieber eine Chance eingeräumt werden. Und apropos langfristige Perspektiven: Während Atomenergie im Augenblick ihrer Entstehung geringe Kosten verursacht, produziert die Endlagerung von Atommüll über viele tausend Jahre hinweg Kosten, die die Endrechnung ganz anders aussehen läßt, - aber da ist die Legislaturperiode der Politiker ja längst abgelaufen.

Dabei würde Finnland, mit seiner großzügigen Natur doch ideale Bedingungen für die Produktion von Alternativenergie bieten, obwohl es nicht mit demselben Wassergefälle ausgestattet ist, wie seine Nachbarländer.

Aber im Grunde genommen geht es in erster Linie auch nicht um Wirtschaftspolitik, sondern um das alte Taktieren mit der latenten Umarmung des russischen Bärs. Um nicht in der eigenen Existenz vom Nachbarn Russland bedroht zu werden, hat sich Finnland lange geübt autonom und ohne übernationale Zusammenarbeit zu leben, um einerseits nicht von Russland abhängig zu werden, und andererseits nicht den Argwohn Russlands zu erwecken. Deshalb geht die Atompolitik vor allem um die Unabhängigkeit vom russischen Energiemarkt. Im 21. Jahrhundert hat Finnland diese alte Masche eigentlich gar nicht nötig. Finnland ist in der EU eingespannt und an seinen Grenzen stehen keine Rotgardisten mehr auf dem Sprung.