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Corona-Virus: Die Abschaffung der Urteilskraft
„Bischöfe verbreiten Verschwörungstheorien“ las ich jüngst auf tagesschau.de.[1] Das ist keine Information, sondern ein Werturteil. Die etablierten Medien haben offenbar die Rolle des Berichterstatters gegen die des Volkspädagogen getauscht. Sie fürchten, die Menschen könnten sich mit „falschen“ Meinungen infizieren. Der Deutschlandfunk erklärt: „Fake News können viral gehen und sind oft deutlich ansteckender als verlässliche Nachrichten.“[2] Deshalb fordert der Kultursender: „Wir brauchen ein Kontaktverbot für Fake News“. Glücklicherweise habe der Messengerdienst WhatsApp bereits „einen Anfang gemacht und so etwas wie digitale Kontakteinschränkungen eingeführt.“ Noch weiter gehen Google, Youtube und Facebook, wie die Süddeutsche Zeitung weiß: „Wenn Faktenprüfer wie die Rechercheorganisation Correctiv oder die Deutsche Presse-Agentur solche Falschaussagen identifizieren, beeinflusst das die Empfehlungsalgorithmen der Netzwerke.“[3] Unter „Falschaussagen“ versteht die Süddeutsche dabei vor allem die Ansicht, dass Bill Gates eine „Gesundheitsdiktatur“ errichten wolle: „Immer wieder geht es gegen Microsoft-Gründer Bill Gates, dessen Stiftung zu den Großspendern der Weltgesundheitsorganisation WHO zählt.“
Solche „Falschaussagen“ können nun also Dank entsprechender Algorithmen nur noch schwer gefunden werden. Aber eines beunruhigt die Redaktion der Süddeutschen Zeitung dennoch: „Die meisten Menschen, die solche Videos sehen wollen, sind ohnehin längst auf Messenger wie Telegram ausgewichen. Dort schicken sie sich die Links direkt, die Algorithmen der Plattformen spielen dann keine Rolle mehr.“[4] Wie löst man dieses „Problem“, wie kann man verhindern, dass Person A Person B eine „falsche“ Meinung direkt kundtut? Christian Drosten hat hierzu eine Idee. Mit seiner Unterschrift unter eine Online-Petition fordert Deutschlands populärster „Experte“ die Digitalkonzerne auf, jedem Menschen, der Kontakt mit einer „falschen“ Meinung hatte, automatisch die Wahrheit zuzusenden. Die Menschheit habe es nämlich „nicht nur mit der COVID-19-Pandemie“ zu tun, sondern auch mit einer „weltweiten Infodemie.“[5]
Die Corona-Krise legt eine viel tiefere und gefährlichere Krise offen, nämlich die Tatsache, dass die freie Urteilskraft als potentielles Risiko gesehen wird. Das begann bereits mit der Ukraine-Krise, als plötzlich „Putin-Versteher“ zum Schimpfwort wurde. Ich fragte mich damals: wie kann das „Verstehen“ negativ besetzt werden? Selbst den Teufel sollte man zu verstehen suchen. Wer davor Angst hat, verwechselt die Erkenntnis mit dem Sein – so als würde etwas von dem Geist des anderen auf mich überspringen wie ein Corona-Virus, sobald ich ihn verstehe. Doch das ist Gespensterglaube. Die Gefahr einer Ansteckung mit „falschen“ Meinungen ist ungleich geringer als diejenige, die aus der Erschlaffung der freien Urteilskraft durch ihre permanente Missachtung erwächst.
Wir verstehen uns nicht mehr. Unsere Meinungen vermitteln nämlich keine Erkenntnis-Perspektiven, sondern definieren unser jeweiliges Sein. Wer sich kritisch über Bill Gates äußert, der „ist“ Verschwörungstheoretiker. Und wer am Rosa-Luxemburg-Platz gegen die Corona-Maßnahmen protestiert, „ist“ zumindest ein „verirrter Bürger“, wenn nicht gar ein „Rechtsradikaler“. Wer will das schon sein? Besser ist es, ein etablierter Bürger zu sein. Dazu braucht es aber auch die passende Meinung. Als ich meinen Essay "Corona-Virus: Menschheit am Scheideweg" (siehe unten) an eine anthroposophische Einrichtung schickte, schrieb der Vorstand zurück: „private Meinungen“ dürfen nicht an Dienstadressen geschickt werden, weil sonst, wenn jemand diese Meinung weiterleiten würde, dies ja mittels der Dienstadresse geschähe, wodurch die Empfänger wiederum die Meinung für dienstlich, und somit für den offiziellen Standpunkt der Institution halten könnten. Der Vorstand hat völlig recht damit. Aber man sieht eben, worum es bei der „Meinungsbildung“ gegenwärtig geht: innerhalb der bereits definierten Landkarte möglicher Meinungen die eigene Existenz zu sichern. Unter dieser Voraussetzung ist Erkenntnis oder gar ein Sich-Verstehen-Können vollkommen ausgeschlossen.
„Wenn ich den Gedanken, den ein anderer Mensch denkt, wahrnehmen will, muss ich mein eigenes Denken für einen kurzen Moment auslöschen und in das andere Denken eintauchen. Das Denken der anderen Persönlichkeit ist dann ganz in meinem Bewusstsein, wodurch ich es unmittelbar wahrnehme. Dann muss ich mich dagegen wieder behaupten und mein eigenes Denken aufleben lassen.“ So beschreibt Stephan Eisenhut in seinem Essay „Soziale Dreigliederung als Aufgabe der Waldorfpädagogik“ das Sich-Verstehen. Und Sylvain Coiplet berichtet im Interview über seine Erfahrungen mit dem Grundlagenseminar: „Am ersten Tag habe ich die Zuhörer verstört, weil ihnen alles so ungewohnt, so abstrakt vorkommt. Dann höre ich mir alle Einwände an, nehme sie ernst und bewege sie in mir. Wenn die Zuhörer das merken, fassen sie Vertrauen und können weiter mitdenken …“ Nur eine solche Haltung gegenüber Andersdenkenden, auch gegenüber vermeintlichen „Rechtsradikalen“, könnte eine weitere Radikalisierung der Gesellschaft noch verhindern.
Johannes Mosmann
[1] https://www.tagesschau.de/inland/verschwoerung-corona-101.html
[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/infodemie-in-coronazeiten-wir-brauchen-ein-kontaktverbot.2165.de.html?dram:article_id=474480
[3] https://www.sueddeutsche.de/digital/coronavirus-verschwoerungstheorie-bill-gates-youtube-telegram-1.4904814
[4] Ebd.
[5] https://secure.avaaz.org/campaign/de/health_disinfo_letter/