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Deutsch-türkische Verfassungskeule
Das türkische Verfassungsgericht hat am 20.06.2001 nach einem mehr als zweijährigen Prozess die Auflösung der Tugendpartei angeordnet, die nach Überzeugung des Gerichts zu einem Zentrum von Aktivitäten gegen die säkulare Staatsordnung der Türkei geworden war. Dies verstößt gegen den in der türkischen Verfassung verankerten Laizismus, der die Trennung zwischen Kirche und Staat festschreibt. Die Tugendpartei war die drittstärkste Partei im Parlament von Ankara.
Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin kritisierte das Verbot der islamischen Tugendpartei. In Deutschland sei das Urteil des Verfassungsgerichts gegen die Partei mit "außerordentlich großem Befremden" aufgenommen worden, sagte Däubler-Gmelin am 25.06.2001 nach einem Gespräch mit ihrem türkischen Kollegen Hikmet Sami Türk in Ankara. Auch der Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Straßburg, Lord Russel-Johnston, kritisierte das Parteiverbot. "Ich bedauere zum wiederholten Mal, dass die türkischen Behörden, sobald sie vor sozialen und politischen Herausforderungen in ihrem Land stehen, Zwang statt Dialog bevorzugen", sagte Russel-Johnston. "Das türkische Verfassungsgericht hätte die Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes in dieser Angelegenheit abwarten sollen", fügte er hinzu. In Deutschland und auch anderswo in Europa seien die Hürden für Parteiverbote weit höher als in der Türkei, sagte Däubler-Gmelin.
Der türkische Außenminister Ismail Cem verteidigte gegenüber der EU das Verbot der islamistischen Tugendpartei. In Westeuropa würden Neo-Nazis als Bedrohung für die öffentliche Ordnung und die Demokratie angesehen, sagte Cem am 26.06.2001 in Luxemburg am Rande einer turnusmäßigen Beratung mit den EU-Außenministern. "In meinem Land haben wir kein Neo-Nazi-Problem, wir haben dagegen ein Problem des Ausbeutens religiöser Gefühle mit Blick darauf, das (politische) Regime zu ändern. Wir betrachten das als Bedrohung."
Europa, und besonders die Bundesrepublik Deutschland, hat in Sachen Verfassungschutz zweierlei Maße. Das bevorstehende NPD-Parteiverbot gründet, genauso wie das Parteiverbot der Tugendpartei, auf verfassungswidrigem Verhalten der Partei, die sich gegen die gesellschaftliche Grundordnung richtet. Insofern sind der Mechanismus und die Struktur in Deutschland nicht anders. Der deutsche Eiertanz um die Verfassung ist sogar noch virulenter als in der Türkei: Hier werden noch zahlreiche Organisationen und Vereine, und sogar die Bundestagspartei PDS weiterhin unter Beobachtung der Inlands-Geheimdienste genommen.
Wer es mit Meinungsfreiheit ernst meint, sollte nicht mit der Verfassungskeule kommen und die Entwicklung der demokratischen Öffentlichkeit hindern. Es ist nicht demokratisch, wenn durch Verfassung bestimmt wird, in welchem Rahmen der demokratische Wille des Volkes gelenkt werden soll. Die Türkei ist mit der Trennung von Geistesleben und Staat der Bundesrepublik voraus, obwohl dies dort nur eine einseitige Trennung ist. Eine solche Trennung in Deutschland durchführen zu können, wird unweigerlich auf Verfassungshürden stoßen, und jeder der von einem solchen Bestreben beseelt ist, würde als Verfassungsstürzer eingestuft und mit der Verfassungskeule politisch erschlagen.