Liberaler Rassismus

01.03.2010

Erstmals erschienen in Die Zeit vom 25.02.2010. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin Carolin Emcke: www.carolin-emcke.de

Von dem afro-amerikanischen Komiker und Entertainer Bert Williams stammt der Satz: »Es ist keine Schande schwarz zu sein. Aber es ist enorm ungünstig.« Dieser Tage gilt: Es ist keine Schande, Muslim in Europa zu sein, aber es ist enorm ungünstig.

Muslime im Singular scheint es nicht mehr zu geben. Sie sind als Individuen unsichtbar, als Leute, denen ihre Mitgliedschaft bei dem lokalen Fußballverein oder ihre Arbeit als Krankenpfleger wichtiger sein könnte als ihre Herkunft aus Bosnien oder Afghanistan. Muslime gibt es gegenwärtig selten als Lehrer oder Schlosser, als Liebhaber von Neil Young oder Munir Bashir, Muslime gibt es selten als gläubig und schwul, als Atheisten und Opelaner ­ nicht, weil es sie nicht gäbe, sondern weil sie so nicht mehr wahrgenommen werden.

Jeder einzelne Muslim wird verantwortlich gemacht für Suren, an die er nicht glaubt, für orthodoxe Dogmatiker, die er nicht kennt, für gewalttätige Terroristen, die er ablehnt oder für brutale Regime in Ländern, aus denen er selbst geflohen ist. Muslime müssen sich distanzieren von Ahmadinedschad in Iran, den Taliban in Afghanistan, von Selbstmordattentätern und Ehrenmördern, und diese Distanzierung glaubt ihnen doch keiner, weil alles gleichgesetzt wird: Islam und Islamismus, Glaube und Wahn, Religiösität und Intoleranz, Individuum und Kollektiv.

Zum Vergleich: Es wird gegenwärtig eine Debatte über sexuellen Missbrauch in katholischen Schulen geführt, es wird auch nach den Strukturen gefragt, die den Missbrauch ermöglicht haben. Aber man erwartet nicht von beliebigen Gläubigen, dass sie sich von solchen Taten distanzieren, und niemand würde den bekennenden Katholiken Harald Schmidt auffordern, die Praktiken ihm fremder Jesuitenpatres zu verdammen.

Früher nannte man es Rassismus, wenn Kollektiven Eigenschaften zugeschrieben wurden ­ heute dagegen gelten dumpfe Vorurteile als »Angst, die man ernst nehmen muss«. Was diesen neuen Rassismus rhetorisch so elegant aussehen lässt, ist, dass das Unbehagen gegenüber Muslimen niemals als Unbehagen gegenüber Muslimen artikuliert wird. Vielmehr kommen die Angriffe stets im Gewande des Liberalismus und als Verteidigung der Moderne daher. Es sind Werte einer aufgeklärten, sympathisch pluralen Lebensweise, die in Stellung gebracht werden gegen den Islam.

Dabei werden Muslimen jene Eigenschaften und Überzeugungen zugeschrieben, die eine moderne Gesellschaft als intolerant geißeln muss. Ein typisches Beispiel sind die Einwanderungstests des CDU-regierten Landes Baden-Württemberg, bei denen die Frage der Einbürgerung von der Haltung der Einwanderer zur Homosexualität abhängig gemacht wurde ­ oder die des Landes Hessen, die ein modernes Frauenbild abfragen wollten. Wer wollte nicht die modernen Vorstellungen des Zusammenlebens verteidigen? Das ist ja der Konsens, auf dem unser Grundgesetz und unsere Gesellschaftsordnung beruhen.

Es klingt auch irgendwie besser und emanzipierter als die Ideologie von Leuten, die dogmatisch an repressiven Familien- oder Sexualitätsvorstellungen festhalten. Implizit wird dabei immer auch die eigene liberale Fortschrittlichkeit behauptet. Vergessen sind die Versuche der CDU, gegen die Eingetragene Partnerschaft zu votieren, vergessen die Rückständigkeit des Familienbildes der christlich-demokratischen Union, das Festhalten am Institut der Ehe als eines zwischen Mann und Frau oder das Verweigern des Adoptionsrechts für homosexuelle Paare.

Es ist eine eigenwillige Allianz aus atheistisch-kritischem Feminismus und christlichem Konservativismus, die etwa das Kopftuch als Projektionsfläche für berechtigte Kritik an Misshandlung von Frauen einerseits und zugleich für eine phobische Scheu vor Andersartigkeit instrumentalisiert. Da überrascht es gelegentlich, wem es da auf einmal so außerordentlich um Frauenrechte geht, und der Verdacht liegt nahe, dass Missachtung vor allem dann entdeckt wird, wenn es sich um muslimische Formen des Patriarchats und des Machismo handelt ­ als seien die nicht genauso widerwärtig, wenn sie von Nicht-Muslimen ausgeübt werden. Wieviele nicht-muslimische Bewohner Baden-Württembergs oder Hessens ihre Staatsbürgerschaft entzogen bekämen, müssten auch sie den Test ihrer aufgeklärten Toleranz ablegen, bleibt unklar. Intolerant und illiberal sind immer nur die Anderen.

So ist eine Diskussion um den Islam in Europa entbrannt, die nicht mehr nur am rechten Rand Gemüter aufstachelt, sondern das bürgerliche Zentrum erreicht hat. Das Misstrauen gegen muslimische Europäer wird nicht mehr nur von den schrillen Vertretern rechts-nationalistischer Parteien geschürt ­wie Nick Griffin von der British National Party (BNP) in England, der eine Re-Patriierung von »nicht-indigenen« Briten fordert oder Geert Wilders von der Freiheits-Partei (PVV) in den Niederlanden, der den Koran mit Hitlers »Mein Kampf« vergleicht. Solche Parteien haben es vielmehr geschafft, dass auf einmal die bürgerliche Mitte über Konfliktlinien diskutiert, die von Rechts-Außen diktiert wurden: in der Schweiz sollen Minarette verboten werden, in Frankreich die Totalverschleierung, und in den Medien wird eine Debatte über die »Eroberung Europas durch den Islam« geführt.

Was aber hat dieser Blick auf den Islam mit Europa zu tun? Was sagt diese Diskussion über uns Nicht-Muslime, Christen, Juden oder Atheisten, aus? Wenn eine Minderheit die Mehrheit so verunsichern kann, wie gefestigt ist dann die eigene Identität? Muslimische Fanatiker gab es schon früher, Ehrenmorde und Selbstmordattentate auch. Vielleicht ist es aber kein Zufall, dass der Blick auf die Integration der europäischen Muslime sich gerade in jener historischen Phase verschärft, in der Europa sich mit seiner eigenen Integration befasst. Möglicherweise gibt es auch einen Zusammenhang zwischen schrittweiser Emanzipation und gleichzeitiger Diskriminierung der eben emaniziperten Bürger. Es könnte sein, dass gerade die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts unter der rot-grünen Bundesregierung 1999 zu Paradoxien bei der Anerkennung der Muslime geführt hat. Wer vorher als Tunesier oder Iraker wahrgenommen wurde, ließ sich national unterscheiden. Sobald die Einwanderer Deutsche werden konnten, mussten sie mindestens Muslime bleiben, sonst wären sie ununterscheidbar gewesen. Erst in den Jahren nach der rechtlichen Anerkennung als Staatsbürger wurde deutlich, dass die formale Gleichstellung keineswegs eine soziale bedeutete. Wie auch die französischen und die Schweizer Islamdiskussionen in eine Zeit der nationalen Verunsicherung fallen.

Wenn die Konflikte mit Muslimen aber weniger mit den Muslimen als mit uns selbst und mit Europa zu tun haben, dann sollten wir uns fragen, was die europäische Aufklärung kennzeichnete, was die historischen Prozesse und Prinzipien, die sie etablierte ­ Säkularisierung, Liberalismus und Toleranz ­ wirklich bedeuten und was diese Werte im Umgang mit Muslimen verlangen.

Ursprünglich bezeichnete »Säkularisierung« lediglich den Rechtsakt, durch den der Besitz und die weltlichen Güter der Kirche geschmälert wurden. Im weiteren Sinne bezeichnet der Begriff die Verdrängung kirchlicher Autorität aus dem Bereich weltlicher Herrschaft. Säkularisierung stellt also nicht die Praktiken der Gläubigen in Frage, sondern etabliert das politische System als unabhängig von kirchlichen Einflüssen ­ Säkularisierung ist nicht antireligiös, sondern antiklerikal. Die individuelle Frömmigkeit, aber auch die öffentliche Sichtbarkeit von religiösen Symbolen sind eine ganz andere Frage.

Wer das Kopftuchtragen an öffentlichen Schulen oder den Bau von Minaretten untersagen will, sollte sich daher nicht auf die Säkularität berufen. Das ist einer der Gründe, warum die Verfechter des Kopftuchverbots den Schleier auch nicht als Ausdruck religiösen Glaubens anerkennen, sondern ihn als Instrument und Symbol der Unterdrückung deklarieren ­ so, wie die Anhänger des Minarettverbots die Moschee nicht als Gotteshaus, sondern als Raum der Terror-Vorbereitung definieren. Was dem einen die rhetorische Keule der Terrorgefahr ist dem anderen die der Unterdrückung von Frauen. Das Problem ist weniger die Frage, ob es muslimische Mädchen und Frauen gibt, die zum Tragen des Schleiers gezwungen werden ­ das kann nicht bezweifelt werden -, die Frage ist: was unterdrückt? Wirklich das Stück Stoff selbst? Oder die patriachalen Beziehungsgeflechte, die die Autonomie der Frau ignorieren? Stoppt das Verbot des Kopftuchs die Strukturen der Unterdrückung? Oder ergänzt diese Entscheidung nur das Gefühl der Entmündigung durch Vater oder Ehemann um das Gefühl der Entmündigung durch Gesellschaft und Staat? Das Kopftuch darf oder muss die Frau dann nicht mehr tragen, aber wird sie damit auch schon aus der Struktur der Unterdrückung befreit? Wären nicht Ausbildungs- oder Job-Angebote an muslimische Frauen ein erfolgversprechenderes Instrument der Emanzipation als ein Burka- oder Kopftuchverbot? Wenn wir die häusliche Verwahrlosung eines Kindes an seiner Kleidung in der Schule erkennen, glauben wir dann, die Anordnung von Schuluniformen würde das Problem beheben?

Der Rationalismus der Aufklärung und der liberale Individualismus, auf den sich die Islam-Kritiker gern berufen, orientieren sich stets an der Autonomie des einzelnen Menschen. Was Aufklärung und Liberalismus verteidigen, ist das Selbstbestimmungsrecht des Individuums: nicht Kirche, nicht soziale Klasse, nicht Herkunft sollen über das moderne Subjekt bestimmen dürfen, sondern die autonome, freie Wahl des Einzelnen muss vom Staat geschützt und verteidigt werden.

Wer das Kopftuch prinzipiell verbietet, muss sich also fragen, ob es wirklich undenkbar sein soll, dass eine Frau freiwillig ein Kopftuch tragen möchte. Wenn eine Muslima ein Kopftuch tragen möchte, muss das in einem liberalen Staat ebenso schützenswert sein wie ihre Entscheidung, keines zu tragen. Wer Frauen verteidigen will, sollte ihnen eine selbstbestimmte Wahl ermöglichen, sollte Gewalt gegen Frauen (ob muslimisch oder nicht) ahnden und die, die sie misshandeln, verurteilen.

Nun bleibt die Gefahr, die Befürworter eines Burka-Verbots zurecht benennen, dass das soziale Umfeld, in dem Frauen die Burka tragen, eine solche freie Wahl vielleicht nicht zulässt. Das ist ein ernstzunehmender Einwand. Aber wenn Frauen, wie in Frankreich erörtert, das Burkatragen in Bussen oder U-Bahnen verboten wird ­ werden die Frauen, die zur Burka gezwungen werden, dann von ihren Ehemännern wirklich unverschleiert auf die Straße gelassen? Oder müssen sie zuhause bleiben? Die Publizistin Hilal Sezgin hat in der Frankfurter Runschau dazu den Vorschlag gemacht, Frauen mit Burka sollten lieber Übersetzer zur Seite gestellt bekommen, um ihre Spielräume zu vergrößern.

Das Erbe der Aufklärung bedeutet, einen Freiraum zu verteidigen, in dem individuelle Vorstellungen des Glücks gelebt werden können, ohne dass der Staat intervenieren darf. Säkularisierung war insofern auch immer gekoppelt an das Prinzip der Glaubensfreiheit. Das politische System, die Gesetze des Staates, das Bildungswesen sollten weltlich und dem Einfluss der Kirche entzogen sein, aber innerhalb dieser politischen Ordnung sollte den Bürgern ihre eigene Religiösität, ihre eigene Weltanschauung, ihre eigene Vorstellung vom guten Leben, gestattet sein.

Dieses Erbe bedeutet die Möglichkeit, sich rational oder irrational, religiös oder nicht religiös zu orientieren, es bedeutet die Freiheit, sich nach einer anderen Welt zu sehnen, aber den Rechtsstaat und die Glaubensfreiheit der anderen anzuerkennen. Diese Freiheit, sich selbst oder die Realität überschreiten zu wollen, ist es, die Menschen kreativ sein lässt. Es mögen religiöse oder atheistische Visionen sein, die uns über uns hinauswachsen lassen. Aber wir verkümmerten in unserem Gemeinwesen und in unserer Lebensfreude, wenn wir sie beschneiden würden.

Eine Glaubensfreiheit, die eigentlich Zwangsatheismus als einzige Form der Modernisierung akzeptiert, ist keine. Eine Glaubensfreiheit, die nur den christlichen Glauben meint, ist auch keine. Toleranz ist in Wahrheit immer Toleranz von etwas, das einen anwidert oder irritiert. Toleranz dämmt Abneigung, nicht Zuneigung. Und in modernen, pluralen Gesellschaften, mit unterschiedlichsten existentiellen, sexuellen oder ästhetischen Neigungen, wird das Tolerieren von Praktiken und Überzeugungen anderer von jedem verlangt: die Geißelungen bei den Osterprozessionen in Sevilla erscheinen den einen so pervers wie anderen die Sado-Maso-Spielchen auf den Christopher-Street-Day Paraden in Paris oder Berlin; der männliche Blick, der junge Mädchen unter den Schleier zwingt, erscheint den einen ebenso sexistisch wie anderen der, der sie sich in High Heels quetschen und rundum entblößen lässt; die Vorstellung der Eucharistie ist den einen so befremdlich wie den anderen der Glaube an 72 Jungfrauen im Paradies; die Wagnerbegeisterten in Bayreuth wirken auf die einen so befremdend wie auf andere die St. Pauli-Fans am Millerntor. Wer denkt, nur Muslime glaubten an unwahrscheinliche Geschichten, sollte gelegentlich in eine Messe gehen oder Chatrooms im Internet besuchen. Für ähnlich geartete Lebensformen oder Überzeugungen braucht es keine Toleranz.

Natürlich gibt es eine richtige und notwendige Kritik an radikalem Fundamentalismus und Gewalt, ob sie nun von Muslimen oder Christen ausgeht (wer meint, nur unter Muslimen gebe es Antisemiten oder religiös motivierte Kriminelle, sollte sich die Pius-Brüder ansehen oder die gewalttätigen evangelikalen Abtreibungsgegner). Aber der Unterschied zwischen Aufklärung und Rassismus macht sich daran fest, ob diskriminierende Praktiken und Verbrechen angeklagt werden ­ oder ganze Bevölkerungsgruppen. Die Gefahr für das Erbe der Aufklärung sind nicht Andersgläubige, sondern die Ideologen, die politische oder soziale Fragen in religiöse oder ethnische umdeuten. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind ebenso Feinde der europäischen Idee wie Glaubensfuror und Terrorismus.

Die europäischen Ideale der Aufklärung, der Säkularisierung, der Toleranz und der Rechte des Individuums, scheinen in Europa immer mehr in Vergessenheit zu geraten. Verteidigt werden sie gegenwärtig am ehrlichsten nicht in Berlin oder in Paris, sondern in Teheran. Es sind junge Frauen mit Kopftuch, die gegen ein religiös-fundamentalistsches Regime kämpfen, junge Menschen, die »Allahu Akbar«, Allah ist groß, rufen, und ihr Leben riskieren im Kampf gegen Despotie. Sie sind der Beweis dafür, dass Aufklärung und Menschenrechte, Toleranz und Glaubensfreiheit, universal gelten müssen, für Gläubige oder Ungläubige, Muslime oder Christen, Juden oder Atheisten. Daran sollten wir in Europa uns erinnern.

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