Bildungspolitischer Zentralismus wird kein Garant für Qualität sein

01.09.2009

Künftig sollte Bildungspolitik ordnungspolitisch anders vorgehen

Das deutsche Schulwesen ist zentralistisch geprägt – ebenso das bildungspolitische Denken. Der Staat plant, gestaltet und lenkt das Schulwesen. Vereinheitlichung erscheint in der bildungspolitischen Diskussion immer als die wichtigste Verbesserung, als sei sie ein Garant für pädagogische Qualität. Für pädagogische Autonomie und Kreativität der einzelnen Schule hört man zwar viele goldene Politikerworte, doch einen gesetzlichen Schutz vor nivellierender Vereinheitlichung sucht man vergeblich. Schule ist schon lange eine Veranstaltung des Staates; er hat ein faktisches Monopol. Pädagogische Freiheit fristet ein Nischendasein. Aber die politische Rhetorik wird zunehmend autonomiefreundlicher.

Der Staat ist, wenn es um das Schulwesen geht, das Bundesland, in dem die Schule liegt. Das Schulwesen der verschiedenen Bundesländer hat sich zunehmend auseinanderentwickelt, obwohl sich die „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK)“ immer für bundesweiten pädagogischen Konsens für eine Vereinheitlichung über die Landesgrenzen hinweg eingesetzt hat. Die Konsensmaschine KMK stottert schon lange. Gesundbeten gehört zu den bildungspolitischen Ritualen, ist aber immer weniger wirksam. Hamburg hat für seine schwarz-grünen schulpolitischen Kapriolen den Allparteienkonsens der KMK nicht abgewartet.

Wache Politiker spüren im Bundestagswahlkampf, dass die Bevölkerung die Föderalismusreform, die zu Beginn der jetzt endenden Legislaturperiode beschlossen wurde, für einen Missgriff hält. Damals, im Jahre 2006, wurden Bestimmungen des Grundgesetzes wieder gestrichen, die erst 1969 aufgenommen worden waren und dem Bund eine Mitwirkung an der Bildungsplanung gewährt hatten. Auf dieser verfassungsrechtlichen Grundlage war 1970 die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) geschaffen worden, die 1973 einen Bildungsgesamtplan vorlegte, der unter Bildungspolitikern zunächst konsensfähig war, aber am Widerspruch der Finanzminister scheiterte und deshalb nie in Kraft gesetzt, geschweige denn verwirklicht wurde.

Bald darauf verflüchtigte sich auch der Konsens unter den Bildungspolitikern. Einige Länder realisierten Reformen aus dem Bildungsgesamtplan, andere wandten sich energisch davon ab. Die Grundgesetzartikel von 1969 blieben jahrzehntelang unverändert, aber wirkungslos. Sie wurden erst 2006 wieder abgeschafft und sogar durch ein Kooperationsverbot ersetzt, das den Bund hindert, sich dort mit Geld politisch Einfluss zu verschaffen, wo die Länder, wie beim Schulwesen, die Zuständigkeit für die Gesetzgebung haben. Seitdem ist Bildungspolitik so klar wie nie zuvor nur noch Ländersache. Es besteht keine Aussicht mehr auf Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat für eine Wiederholung des Versuchs des kooperativen Föderalismus mit Beteiligung des Bundes in der Bildungspolitik.

Das bildungspolitische Denken sollte sich ordnungspolitisch fundamental neu orientieren. Zentrale Planung und Zentralverwaltung tun auch dem Schulwesen nicht gut. Schon deshalb hat ein Bundeszentralismus keinen Sinn. Aber auch der gewohnte Landeszentralismus ist in Frage zu stellen. Er führt in Partikularismus, eifersüchtige Kleinstaaterei, denn er ist die Ursache für die meisten Schwierigkeiten beim Wechsel der Schüler von einem Bundesland in das andere. Im neuen Land sind die Schulen nicht nur anders, sondern alle gleich anders. In einem vielfältigen Schulwesen wäre dagegen immer eine Schule zu finden, die weniger anders ist als die sonstigen erreichbaren Schulen. Nur soweit ein pädagogischer Konsens wirksam ist, sind die Schulen einheitlich – auch über die Landesgrenzen hinweg. Die bildungspolitische Zukunftsaufgabe wäre, die Vielfalt der pädagogischen Meinungen zu akzeptieren, um sie als Motor kulturellen Reichtums zu nutzen. Erfolge des Landeszentralismus, des Strebens nach Vereinheitlichung der Schulen im Land, sind die wahre Ursache der vielen unerfüllten Reformwünsche, die eine kreative Wissenschaft der Pädagogik und der Blick in andere Länder der Bundesrepublik, Europas und der ganzen Welt ständig neu hervorrufen. Warum realisieren wir nicht mehr Reformwünsche in jedem Land? Warum ziehen wir immer eine Reformvorstellung vor und unterdrücken alle anderen?

Jede Reform muss im zentralistischen System erst mehrheitsfähig werden, bevor sie verwirklicht werden kann. Zurück bleiben immer viele unerfüllte Wünsche an die Bildungspolitik und damit Unzufriedenheit bei Lehrern, Eltern und überstimmten Bildungspolitikern. Der Reformstau ist Dauerzustand, weil die Reformideen sich immer rascher und vielfältiger entwickeln als der mühsame demokratische Prozess einer Konsens- oder auch nur Mehrheitsbildung, der Voraussetzung einer Vereinheitlichung ist. Ganz kritisch wird es, wenn die Mehrheit für entschiedene Reformen, wie gegenwärtig in Hamburg, über Koalitionsvereinbarungen zusammengezimmert wird, ohne auf einem inhaltlichen Konsens zu beruhen. Dann sind nicht nur die Oppositionsparteien unzufrieden, sondern auch weite Teile der Regierungskoalition.

Wer bessere Schulen und zufriedene-re Bürger will, muss den Reformstau überwinden, indem er Vielfalt im Schulwesen zulässt. Es muss zur politischen Maxime werden, jeder Schule pädagogische Reformen zu erlauben, für die es in der Lehrer- und der Elternschaft dieser Schule einen Konsens gibt. Wer mit seiner Schule unzufrieden ist, muss das Recht haben, sie gemeinsam mit den anderen an ihr Beteiligten zu verändern oder sich eine andere Schule zu suchen. Den pädagogischen Konsens zu finden wird zur Aufgabe jeder einzelnen Schule. Ohne ihn geht es nicht. Aber es ist viel leichter, den notwendigen Konsens in einer überschaubaren Schulgemeinschaft zu finden als in politischen Organisationen auf kommunaler, regionaler, Landes- oder Bundesebene, die sich noch um viele andere als pädagogische Fragen kümmern müssen.

Wenn sich die Bildungspolitiker aus der Entscheidung pädagogischer Fragen zurückziehen und diese der einzelnen Schule überlassen, entstehen ihnen neue Aufgaben. Sie müssen die Finanzierung der Schulen so gestalten, dass diese an der Aufnahme von Schülern auch ökonomisch interessiert werden und ihren Lehrern ordentliche Gehälter zahlen können. Der Leitgedanke dafür ist, die Landes- und die kommunalen Mittel für das Schulwesen künftig restlos nach der Schülerzahl aufzuteilen und an die Schulen zu verteilen. Man kann, um das Prinzip deutlich sichtbar zu machen, die Kopfbeträge auf Bildungsgutscheine schreiben, die die Schüler ihrer Schule zur Einlösung bei den staatlichen und kommunalen Kassen übertragen. Dann weiß künftig jeder, warum wie viel Geld an die einzelne Schule fließt. Wichtig wird dann in jeder Schule, durch gute Pädagogik eine ausreichende Schülerzahl dauerhaft zu binden. Wie viele Schüler sie aufnehmen will, wie große und wie viele Klassen sie bildet, wie viel Einzelbetreuung sie ihren Schülern bietet, ob sie unterstützende Sozialpädagogen oder Verwaltungskräfte einstellt, entscheidet dann jede Schule selbst. Schulen in freier Trägerschaft sind dazu schon lange in der Lage und werden in vielen Ländern heute schon durch gesetzlich geregelte Kopfbeträge wettbewerbsgerecht gefördert – der Struktur nach, wenn auch nur selten der Höhe nach. Auch Schulen in staatlich-kommunaler Trägerschaft können sich selbst organisieren, wenn man sie nur lässt und ihnen politisch einen verlässlichen Rahmen gestaltet.

Die Bildungspolitiker müssen nicht nur lernen, mit der Vielfalt der Schulen im eigenen Land umzugehen, sondern auch mit der Vielfalt an Bildungswegen, die Schüler und Lehrer aus anderen Ländern mitbringen. Sie sollten die Anerkennung der fremden Ausbildungen nicht mehr von der Gegenseitigkeit der Anerkennung abhängig machen, womit sie sich nur in endlose KMK-Verhandlungen verstricken, sondern wie auf der europäischen Ebene der Funktionsfähigkeit andersartiger Bildungswege vertrauen – diese also grundsätzlich anerkennen. Wenn eine Schule glaubt, ein Lehrer passe in das Kollegium, mag sie ihn einstellen. Wenn eine Schule glaubt, einen Schüler aus einem anderen Land zum Erfolg führen zu können, mag sie ihn aufnehmen. Das Land enthalte sich der Einmischung und beschränke sich auf echte Rechtsaufsicht, so wie im Hochschulbereich. Die Folgen von Fehlentscheidungen trägt die Schule selbst mit der Verschlechterung ihres Rufes im Wettbewerb um künftige Lehrer und Schüler. Wenn sie nicht lernt, Fehler zu vermeiden, wird sie Lehrer und Schüler verlieren und damit auch Finanzmittel. Wenn die Wahlbürger wahrnehmen, dass das Geld den Schülern an die besseren Schulen folgt, werden sie auch bereit sein, mehr Steuergeld für das Bildungswesen bereitzustellen. Ein vielfältiges Schulwesen, das vom pädagogischen Wettbewerb geprägt ist, wird rasch ein lernendes System und als solches Vertrauen gewinnen.

Jedes Bundesland kann jederzeit die ordnungspolitische Wende vollziehen, ohne die Zustimmung der anderen Bundesländer einzuholen. Es kann sich darauf beschränken, an der Kultusministerkonferenz nur noch zur wechselseitigen Orientierung teilzunehmen.

Jedes Bundesland kann im zentralistischen System verharren, aber kein anderes Bundesland daran hindern, es aufzugeben und seine Schulen in die Freiheit und den pädagogischen Wettbewerb zu entlassen. Über die vielen Einzelschritte zum Abbau des alten und zum Aufbau des neuen ordnungspolitischen Rahmens entscheidet der Landtag mit einfacher Mehrheit. Die Bürger werden die Chance ergreifen, ihre Schule zu ihrer eigenen Angelegenheit zu machen. Den Wettbewerb der Bundesländer um die beste Bildungspolitik werden nicht die zentralistisch orientierten, sondern die freiheitlichen gewinnen.

Nach der Ausschaltung des Bundes aus dem kooperativen Föderalismus blieb der KMK-Konsensföderalismus politisch unangetastet. Er konnte sich nur immer weniger durchsetzen, wie nicht nur das Hamburger Beispiel zeigt. Immer mehr Länder gehen stillschweigend eigene, aber leider immer noch zentralistische Wege. Sie schüren damit ungewollt die Unzufriedenheit mit der Schulpolitik und setzen sich so der Gefahr aus, dass im Bundestagswahlkampf mit der Fata Morgana des Bundeszentralismus weiter Proteststimmen gesammelt werden.

Die Zukunft gehört weder dem Bundeszentralismus noch dem pädagogischen Wettbewerb zentralistisch agierender Länderminister, sondern dem freien Bildungswettbewerb der Schulen. Die Wege, die wegführen vom vormundschaftlichen Bildungszentralismus und schrittweise hinführen zu Autonomie und Wettbewerb der Bildungseinrichtungen, werden im Politikwettbewerb der Länder gefunden werden. Darin liegt die immer noch weitgehend unbekannte Chance der Föderalismusreform des Jahres 2006.

Der Autor ist Jurist und Volkswirtschaftler, in der FDP politisch aktiv und war zuletzt Dezernent für Studium und Lehre der Universität Heidelberg.


Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.09.2009 Seite 8. Nachdruck mit freundlichen Genehmigung des Autoren.