Die Waldorfschule im Zeichen des Klimawandels - Positionspapier eines Waldorfvaters

01.04.2007

Es gibt nicht wenige Herausforderungen, die eine Waldorfschule organisatorisch, finanziell, und natürlich auch pädagogisch meistern muß. Sie alle haben ihren gerechtfertigten Stellenwert, und allen sollte man sich mit der gebotenen Hingabe und Aufmerksamkeit widmen. Jetzt aber, Anfang des Jahres 2007, sitzt uns allen, ob Waldorfbeteilligter oder nicht, eine inhaltlich schwergewichtige, negativ mitreißende Studie im Nacken: Gemeint ist der am 02.02.07 in Paris vorgelegte vierte UN-Klimabericht, der vorrangig düsteres prophezeit. Dieser Bericht, verfasst und verantwortet von etwa 500 Wissenschaftler aus aller Welt, zeichnet die weltklimatischen Bedingungen, unter denen die Menschheit die nächsten Jahre und Jahrhunderte ihre Existenz zu behaupten versuchen muß. Tenor: Der vom Menschen verursachte Kohlendioxid-Ausstoß ist die wichtigste Ursache des Klimawandels. Und: Die Erwärmung ist unzweifelhaft, muß endlich als unumstößliche Tatsache begriffen werden. Entscheidende Schritte sind von jetzt an unumgänglich, wollen wir ausufernde klimatische Extreme, ergo das Schlimmste wenigstens noch verhindern, abmildern, in halbwegs kontrollierbare Bahnen lenken.

Wetterwechsel

Wir, die wir uns im pädagogischen, kulturellen und sozialen Umfeld einer Waldorfschule bewegen, müßten uns einer solchen wegweisenden Einsicht ohne jegliche Umschweife anschließen können. Wir, die wir die Waldorfpädagogik seit dem ersten Kennenlernen mindestens als innovativ, mitunter vielleicht sogar als avantgardistisch, in jedem Fall aber als zukunftsträchtig begriffen und womöglich sogar lieben gelernt haben, müßten uns als glühende Verfechter eines ehrlichen Bewußtseinswandels zu erkennen geben, hier und jetzt. Man denke allein an den vielgestaltig prägenden ökologischen Hintergrund, vor dem Waldörfler seit Jahrzehnten meinungsbildend wirken und entsprechend handeln. Jetzt also erst recht, jetzt scheint endgültig die Stunde des weit in die Zukunft reichenden Welt- und Menschenbildes der Waldorfbewegung gekommen zu sein. Waldörfler (vorab Rudolf Steiner, der im zeitlosen ökologischen Moment eine charakteristische Schnittstelle der Moderne erkannt hat) könnten sich anerkennend auf die Schultern klopfen, sie könnten sich zugute halten, daß sie es doch schon immer etwas besser gewußt haben. Sie haben auf die bedingungslose Notwendigkeit eines tendenziell harmonischen, weniger reibungsstarken Miteinanders von Mensch und Natur nicht nur hingewiesen; sie haben ihr pädagogische Gestalt gegeben, haben ihr insbesondere in Landwirtschaft und Medizin sanfte, dabei nachhaltige Konturen verliehen - die tief verwurzelte Ahnung also, wenn sich wesentliches, stilbildendes aus diesen und vergleichbaren Ansichten mehrheitlich nicht durchsetzt, bekommen wir es mittel- bis langfristig mit einer Umweltproblematik zu tun, die vorangegangene Schwierigkeiten auf diesem Feld weit in den Schatten stellt. Eine solche hat sich nun unseren bis dato gediehenen Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Natur massiv in den Weg gestellt - in einer solchen kohärenten Wucht und mit einem solchen dramatischen Umfang, daß es auch und vielleicht gerade an uns ist, hierzu eindeutig Stellung zu beziehen. Und nicht nur das: Unserer unmißverständlichen Stellungnahme müssen Taten folgen, die sich wiederum auf das ganze bislang gewonnene Wissen stützen, unsere alles andere als blassen Erfahrungen und daraus resultierenden Einsichten konsequent mit einbeziehen. Es ist also, wenn man so will - und wir sollten wollen, mit insistierendem Drive - auch unsere Stunde, von mir aus die Stunde der notorischen Besserwisser. Schon deshalb, weil das Zeitfenster für die Schlechterwisser lange und weit genug geöffnet war, mit den spätestens jetzt offenbar gewordenen, verheerenden Folgen für uns alle. Mit bornierten Schlechterwissern sich auch weiterhin nachsichtig und geduldig zu arrangieren, käme einem nicht mehr austarierbaren Balanceakt gleich. Wir - und mit uns alle Menschen trotzig-progressiver Gesinnung, gleich welcher Herkunft, Hautfarbe, sozialer Zugehörigkeit, etc. - sollten den spürbaren Versuch machen, den Ursachen des beileibe noch nicht ganz faßbaren Geschehens lebendige, lebendmachende Konzepte mit den unterschiedlichsten Ansätzen entgegen zu setzen. Das mag bisweilen naiv bis - angesichts erdrückend auferlegter Zwänge globalisierter Wirtschaftsabläufe - weltfremd klingen, ist dabei jedoch so sehr waldorfaffin, daß wir im Prinzip gar nicht anders können, wenn wir das belegbar überzeugende Waldorfmaterial nicht beliebig zu verorten bereit sind. An dieser Stelle möchte ich aber auch gerne festgehalten wissen, daß es gerade die Naivität in ihrer massenkompatiblen Form war und ist, die einen unsäglichen Zustand herbeigeführt hat, wie er uns gegenwärtig eine gigantische, klimatisch veranlaßte und ausführende Existenzkrise vor Augen führt.

Also: Die Ökologie in all ihren relevanten Facetten ist so ein Material, und wer glaubt, dies einer unter Umständen trendgeschuldeten Beliebigkeit ausliefern zu können, erweist nicht nur der Waldorfbewegung einen Bärendienst; er macht sich insgesamt lächerlich, gibt massiv Verantwortung an einer Stelle ab, die nicht zögert, verhängnisvolle Strafen auszuteilen, lokal, regional, und - wie wir es ja jetzt erleben dürfen - sukzessiv global.

Aus dem Ganzen schöpfen

Im Einzelfall bleibt jede konkrete Maßnahme ein ernsthaftes Anliegen der damit jeweils befaßten Koryphäe. Experten sollen und müssen initiativ werden, ihre ausgewiesenen Kompetenzen nachhaltig in die Waagschale werfen, kompetenzübergreifend auf andere Experten zugehen und zurückgreifen. Ein Experte in Sachen vernünftigen Umgangs mit sich selbst und seiner Umwelt war und ist jedoch auch der wohlwollend-intensiv mit Waldorfpädagogik (ggf. auch Anthroposophie) beschäftigte Mensch. Dieser Mensch vermag in manchen praktischen Ausprägungen der Waldorflehre den richtigen, den unbedingt notwendigen Ansatz zu erkennen, um die Welt zu einem insgesamt besseren Ort zu machen. Er kann davon felsenfest überzeugt sein, er mag vielleicht auch nur liebäugeln damit: In jedem Fall sieht er die Welt mit anderen, mit eben nicht staatlich oder ökonomisch verordneten Augen. Und genau darin, die Welt mit anderen Augen zu sehen, liegt eine gewisse, gleichwohl realistische Chance: Nämlich die Chance, das Ruder so weit rumzureißen, das die streckenweise fatalistisch beschworene Ereigniskette letztendlich nicht an dem Punkt kulminiert, den scharf im Auge zu behalten wir zu einer unserer vornehmsten Aufgaben machen sollten.

Allein, die Welt mit anderen, mit waldorfnahen Augen zu sehen, kann nur der Anfang sein. Der Anfang von etwas, in dessem weiteren Verlauf dem Dogmatismus von allem Paroli geboten werden muß. Das klingt ein bißchen gewagt, und es wird uns mit einiger Sicherheit vor ungemeine Zerreißproben stellen. Aber die zu erwartenden klimatischen Veränderungen werden uns erst recht ungeahnte Verhaltensweisen abfordern - und tun es doch schon jetzt, heute, wenn wir nur endlich zur Kenntnis nehmen würden, daß Weltklima und Biosphäre unserem gegenwärtigem, allen voran westlichen Lebenswandel alles andere als gewachsen sind. Das ist sattsam bekannt, es kommt einem längst zu den Ohren raus, bloß: Wie kann es das, wenn es offenbar doch keinen Weg in unseren vermeintlichen Verstand hinein gefunden hat? Manchen genügt die Erwähnung des Begriffs vom Artenschwund, um ihn umgehend mit Hirnzellenschwund beim Menschen zu übersetzen. Viel zu vielen dagegen ist die schier unermeßliche Vielfalt an Lebensformen ein solcher Dorn im Auge, daß sie geneigt sind, ihn als Damoklesschwert aus der schwelenden Glut des Höllenfeuers zu begreifen. Ein Gedanke, der übrigens generell fanatisch anschwellt, sobald es der willfährige Mensch mit abweichenden, von ihm (aus guten Gründen) abrückenden Lebensformen zu tun bekommt, auf die er nicht gut zu sprechen sein will, weil sich deren Eigenwille nicht so recht in Einklang zu bringen versteht mit dem vorherrschenden Willen, blind zu folgen. Leider auch so ein dogmatisches Monstrum, daß erkennbar abzuschwächen wir gut beraten wären. Und ganz bestimmt eines jener zu Recht furchteinflößenden Monster, von dessen mächtigen, blindwütigen Prankenhieben sich beileibe nicht allein das Klima noch auf Jahrhunderte hinaus nicht erholen wird.

Mutig den Weg zu gehen wissen

Das ernsthaft und aufrichtig betriebene, theoretische wie praktische Umfeld der Waldorfpädagogik hat das Potential, als durchweg negativ erkannte Entwicklungen in Zaum zu halten, ihnen im Lichte der Weisheit einen Strich durch ihre niemals aufgehende Rechnung zu machen. Aber wie gesagt: Das Angebot der Waldorfpädagogik muß auf fruchtbaren Boden treffen - mindestens also auf Menschen, die ihre bekannten Grundzüge zweifelsohne bejahen können, die dahinter stehen, ohne auf einem dogmatischen Weg versuchen zu wollen, offene Türen einzurennen. Bejahen heißt bei Waldorf freilich immer auch, einen pragmatischen Konsens erlangen zu wollen. Nur: Konsens muß bestehen in grundlegenden Überzeugungen, gerade im Hinblick auf den Klimawandel. Als wegweisende Errungenschaft im Waldorfkontext unbedingt anzuführen ist die gefestigte Vorstellung von einem ressourcenschonenden Umgang mit nutzbar gemachtem Boden und Nutztieren in absolut zeitgemäßer Gestalt der ökologischen (biologisch-dynamischen) Landwirtschaft. In dem Punkt sollte man einer möglichen Kompromißbereitschaft nur soviel Raum zugestehen, wie ihr tatsächlich zuträglich ist. Und tatsächlich zuträglich kann nur heißen, der nachhaltigen Relevanz des Öko-Landbaus das Wort zu reden, ohne dessen stichhaltigen und entscheidenden Merkmale als relative Kategorien zerreden zu lassen. Wer einmal angebandelt hat mit dem schönen und zarten Gebilde der Ganzheitlichkeit, der weiß um seine scheue, gleichwohl immense Bedeutung auf allen Ebenen lebendigen Daseins. Also nichts, daß man so ohne weiteres einem interessengelenktem Schicksal überlassen darf; der Öko-Landbau weiß um so viele notorische Zusammenhänge, und die Menschen, die sich davon positiv betroffen fühlen, tun nicht viel anderes, als lieber weniger verzweifelt hinzuweisen auf einen Abglanz jener möglichen Wahrheit, die unsere größte Geliebte sein kann - oder aber auch unser größter, weil auf unbestimmte Zeit undurchschaubarer Feind.

Nicht etwa, weil es politisch korrekt wäre, sich in diesem Sinne zu äußern, fallen diese wohlmeinenden Äußerungen zum Öko-Landbau. Und auch nicht, weil ich es für das Größte halte, mich selbst mittels sympathieheischender Feststellungen zum Über-Gutmenschen aufzuschwingen - es ist schlicht und ergreifend die gereifte Einsicht in die Notwendigkeit, dem Bestmöglichen den Vorrang zu geben. Keine Einsicht, für die es in der Gegenwart eine sonstwoher geholte Legitimation braucht. Es mutet beileibe nicht überstürzt an festzustellen, daß es jetzt an der Zeit ist, dieser Einsicht auch im Alltag zu einem konturenhaften Etwas zu verhelfen. Etwas, daß soviel mit uns zu tun haben muß, daß wir gerne bereit sind, dessen Konturen nach und nach schärfer zu zeichnen. Als Freunde und Unterstützer der Waldorfpädagogik vielleicht sogar so scharf, daß Menschen, denen notwendige Einsichten auch nicht bei einer Fahrt mit ihrem heißgeliebten Premium-Geländewagen (übrigens ein veritabler Klimakiller) über ein ökologisch bewirtschaftetes Gurkenfeld begegnen wollen, plötzlich die Spitze eines von uns allen kräftig in Fahrt gesetzten Eisbergs im Nacken sitzt. Der allerdings nicht grob skizziert von spitzfindigen Waldorfschülern, sondern bloß spürbar näher herangerückt von willentlich sensibilisierten Menschen, die sagen, was aus dem Waldorfkontext deutlich genug hervorgeht.

Damit an dieser Stelle keinerlei Mißverständnisse aufkommen: Weder sollen hierbei in der Waldorfküche die längsten Messer gewetzt werden, noch besteht ernsthaft Grund zur Sorge, das ganze Szenario könnte sich zu einem opulenten Demokratiedefizit auswachsen, bloß weil sich diejenigen verstärkt zum Handeln aufgerufen fühlen sollen, die es naheliegend bewußtseinsgeprägter in der Hand haben, der betreffenden Problematik zu wesentlich mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Und die anderen, die dieses aufgeregte Treiben noch nicht so recht einordnen können - persönlich wie gesamtgesellschaftlich -, sich deshalb gleich über den Tisch gezogen fühlen könnten, bloß weil sie es so überraschend (was es in Wahrheit längst nicht mehr ist) an ihren wundesten Punkten trifft: Wohlstandsdenken, Energieverbrauch, grenzenlose Mobilität, ergo: Liebgewonnene, alltägliche Gewohnheiten, die neu zu durchdenken uns endgültig allen auferlegt ist.

Ich glaube sogar, daß wir, indem wir unseren wunden Punkten eben nicht entschieden kritisch gegenübertreten, dem demokratischen Selbstverständnis schwerste Schäden zufügen können. Demokratie heißt immer Wahlfreiheit, und Wahlfreiheit schließt immer auch die Wahl des vermeintlich besseren ein. Entscheiden wir uns jedoch wider besseren Wissens für das belegbar schlechtere, ergeben wir uns in der ganzen Breite der Gesellschaft hartnäckig vorhandenen geschlossenen Machtstrukturen, die einzig auf rücksichtslose Besitzstandswahrung ausgerichtet sind. Wohlgemerkt, betroffen hiervon ist beinahe die ganze Bandbreite der Gesellschaft - niemand von uns sollte sich also etwas vormachen, selbstgerechtes Gebaren hinsichtlich gewisser materieller Errungenschaften ist wohl so gut wie keinem von uns fremd. Aber genau hierin liegt dann auch eine absehbare Gefahr für das demokratische Selbstverständnis: Rigide halten zuviele von uns fest an Dingen und Überzeugungen, die sich letztlich als ernste Bedrohung für das Überleben unserer Gattung entpuppen. Ein entscheidender Grund mehr, warum wir mit unserem Waldorf-Erfahrungsschatz nicht hinter dem Berg halten sollten: Werfen wir doch seine strahlendsten Perlen mitten hinein in die laufende Klimaschutz-Diskussion, zeigen wir stolz die tiefgründig schimmernden Rohdiamanten her, auf denen vielfältige Erkenntnisse gewachsen sind, wie wir sie gerade jetzt bitter benötigen. Und zu den herausragendsten Erkenntnissen gehört nun mal ein nachhaltiges, umfassendes und explizites Verständnis von Ökologie als unumstößliche Realität eines großartigen Geschenks im Auftrag allen Lebens; dazu gehört, den Menschen das Wissen nicht ersparen zu können, sich in höchst lebendigen Ökosystemen angemessen und rücksichtsvoll gerieren zu müssen. Im besten Fall eignen sich Erkenntnisse dazu, alltäglich angewandt werden zu können - worauf also noch warten, wenn im Zeichen des Klimawandels derlei Erkenntnisse verstanden und aufgegriffen werden müssen als Handlungsanweisungen ohne wenn und aber?

Gelebte Verantwortung als grenzenüberschreitendes Projekt

Als Vater von derzeit 2 Kindern an einer Waldorfschule ist mein Bildungsbegriff selbstverständlich ein vielschichtiger, mitnichten der einer effizienzbesessenen, unverbesserlich eindimensionalen Heerschar aus Politik, Wirtschaft und Bürokratie. Praktizierte Waldorfpädagogik läuft eben nicht auf den fertigen Menschen auf Bestellung hinaus, im Gegenteil steht die Erziehung hin zum ganzen Menschen im Vordergrund, der genannten Heerscharen selbstbewußt- und bestimmt entgegenzutreten in die Lage versetzt werden soll. So zumindest will es ein dominierendes Ideal, und allein dafür lohnt sich bereits der vielfältige Einsatz für eine Waldorfschule. In geduldiger Erwartung des großen Klimaschocks scheint mir einleuchtend, daß fundierter, also auch argumentativ überzeugender Widerstand gegen das (schlimmstmöglich) Vermeidliche genau aus jenen Reihen kommen muß, die es kraft ihres schulischen Hintergrunds und Werdegangs gewohnt sind, vorgelebt-vorgefertigter Eindimensionalität mit individuellen Facetten ihrer psychischen und physischen Existenz entgegenzuwirken. Eine Vorstellung, die man übrigens nur dann als idealistisch abtun kann, wenn man der Waldorfpädagogik begegnet wie einem zufällig verfügbarem Bildungsinstrument, von dem es weithin heißt, es macht mehr richtig als falsch. Ziemlich wahrscheinlich nach macht es mehr richtig als falsch, aber es ist halt nicht nur zufällig deshalb da: Die Bildungsideale der Waldorfpädagogik stellen eine unablässige, sanftmütig komplexe Herausforderung dar, vor denen man nicht einfach davonlaufen kann, wenn sie konkrete Gestalt annehmen. Und das tun sie eigentlich ganz gerne, sofern man ein wenig Offenheit, Geduld, Aufnahme- und Risikobereitschaft mitbringt. So darf man sich dann aber auch nicht allzu sehr wundern, wenn bestimmte Themen konkrete Gestalt annehmen, die ganz wesentlich in einem inneren Zusammenhang auch mit der eigentlichen Botschaft der gegenwärtigen Klimakrise stehen. Die Themen lauten dann nicht ganz zufällig Ernährung, Gesundheit, Ökologie, und noch viel weniger zufällig: Meine ganz persönliche Verantwortung diesen Themen gegenüber. Und die Botschaft, mit der es man dann zwangsläufig zu tun bekommt, ist leicht verständlich, wenn das mit dem Davonlaufen aus zwingenden Gründen nicht gelingen will: Der menschengemachte Teil der Klimaveränderung fußt auch auf dem Nichtverstehenwollen von Themen, die - einmal entlassen in die Beliebigkeit - ohne einen persönlichen Verantwortungsbegriff den Stellenwert geschminkter Leichname für sich veranschlagen können. Darum: Gelebte Verantwortung für die Welt von Morgen muß allerhöchste Priorität einnehmen. Und um diese so wahrzunehmen, daß sich auch Menschen außerhalb unseres eigentlichen Wirkungskreises davon mitreißen lassen, sollte jeglicher mutmaßliche ideologische Anstrich außen vor bleiben. Auch wenn das Kernanliegen zweifellos immer schon eines auch der Waldorfpädagogik gewesen ist, muß übergreifend herausgestellt werden, daß es allen Menschen damit ernst sein muß. Wir können wunderbare Stich- und Schlagworte liefern, wir können unstrittige Zusammenhänge verdeutlichen, wir können unsere Einstellung sublim ausmalen und pointiert begründen, aber wie schon an anderer Stelle gesagt: Dogmatismus ist dabei absolut fehl am Platz. Keiner von uns täte sich einen Gefallen, die ökologische Kompetenz der Waldorfpädagogik quasi als alleiniges Errettungsmodell anzupreisen und verbindlich einführen zu wollen. Es geht schlichtweg darum, unsere Einsichten, Erkenntnisse und Erfahrungen als tragfähige Komponente einer weltweiten Überlebensstrategie vorzustellen und dabei dergestalt zu gewichten, daß sich ihre unbestreitbaren Vorzüge mit an die Spitze der Diskussion stellen. Es konstruktiv besser zu wissen als so mancher befangene und allein aus seinem vorhersehbaren Vorteilsdenken argumentierende Debattenteilnehmer, darin sollten wir uns mit allem Respekt versuchen. Heftige Kontroversen sind dabei natürlich unausweichlich, aber sind wir das nicht sowieso gewohnt als Menschen, die bewußt andere, neue Wege vorschlagen und dabei selbst auch ein gutes, ein entscheidendes Stück gehen, die andere auf ihrer existenziellen Landkarte als extrem unbequeme Route markiert haben?

Vorbildende Wirksamkeit ist die soziale Erneuerungskraft des Menschen

Die allgegenwärtige Bequemlichkeit erweist sich gerade jetzt als schier unüberwindliches Hindernis, und gerade sie sollten wir konsequent anprangern in dem Maße, wie sie nicht lassen will von ihrem verhängnisvollen Ballast. Es wäre ein ebenso fataler Irrtum anzunehmen, eine wie auch immer erfolgte Anpassung an prophezeite Klimaverhältnisse würde genügen - eine solche positivistische Annahme focussiert hauptsächlich auf die technologischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten hochindustrialisierter Länder, völlig außer Acht läßt sie dabei jene Regionen der Welt, die mit den zu erwartenden Folgen völlig überfordert wären. Daher wäre es dringend angebracht, relevante Erscheinungsformen der Trägheit nicht weiterhin als alternativlos hinzunehmen; im Gegenteil sollten wir nichts unversucht lassen, verantwortliches Handeln an die Stelle von selbstsüchtiger Nabelschau zu setzen, eingefahrenen Gleisen kreative Weichenstellungen zu demonstrieren, und nicht zuletzt dem ureigenen Waldorf-Prinzip der Nachahmung zu entschieden mehr Geltung zu verhelfen. Das Vorbild taugt durchaus noch immer als lebendiges Werkzeug, aber es findet nun mal nur so viel Verbreitung wie sich Menschen dafür finden, die dies eindringlich und dabei immer authentisch vorzuleben imstande sind. Ich würde sie zunächst im nahen Umfeld von Waldorfeinrichtungen vorzufinden wünschen, beileibe nicht nur beim pädagogischen Personal: Gerade die Eltern sind und bleiben aufgefordert, ihren Kindern greifbare Resultate positiver Erfahrungen nahtlos, ohne diffuse Schwellenängste anzubieten. Scheitert die Vorbildfunktion, hält Kinder nur noch wenig davon ab, sich mehr und mehr der Beliebigkeit als zukunftsweisendes Motiv anzuschließen. Dabei ist es doch gerade die Vorbildfunktion, aus der sich enorm viel ungeschminktes Leben saugen läßt; es fordert heraus, Rückgrat zu zeigen, eine Haltung einzunehmen - bildhafte Tugenden, auf die es in einer marktdominierten Massengesellschaft kontinuierlich weniger ankommt, weil nur das Gegenteil Verwertungs- und Verwaltungsaspekten entspricht, wie sie ökonomische und bürokratische Megatendenzen geradezu zwanghaft auferlegen. Erst die Beliebigkeit schafft ein drangvolles Universum für unendliche Konsumgelüste, und gleichzeitig muß das alles mit immensen organisatorischen Mitteln aufgefangen und kontrolliert werden. Eine selbstbewußte Haltung widersetzt sich dem entfesselten Prinzip einer sinnentleerten Warenwucherung schon deshalb, weil sie es gar nicht nötig hat, dem Verlangen anderer permanent nachzugeben. Sie gibt selbst vor, von woher der Wind wehen soll, und das Woher wiederum ist Ergebnis ihrer lebendigen, lebendmachenden Sammlung aus Erfahrungen, Erkenntnissen und eben Vorbildern, denen ein wiederholter, tiefer Blick in überall mündende Sackgassen genügte, um das eigene Leben für das womöglich Bessere in die Pflicht zu nehmen. Und insbesondere die Waldorfschule, die sich dem Aufrichten eines starken Rückgrats verpflichtet fühlt, zeigt griffige Konzepte auf, die Kindern zunächst eine leise Ahnung, später dann ein vielschichtiges Bild von Haltung und Verantwortung vermitteln. Davon hat dann langfristig auch das Klima etwas, wenn sich derlei universelle Werte auf breiter Basis durchsetzen. Verzicht, ohne sich dabei selbst aufgeben zu müssen, wäre zum Beispiel ein richtig lebendiger Ausdruck von Haltung. Aber dieser Weg bleibt ein nur bestenfalls am Rand begehbarer, wenn es Eltern zuhauf gibt, die Waldorfschule erst nach PISA zu buchstabieren begonnen haben. Oder Eltern, die der durchaus folgenreichen Tragweite der Waldorfpädagogik nur insoweit folgen können oder wollen, wie sie sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner abspielt. Den eigenen Zöglingen ein eventuelles Sitzenbleiben ersparen zu können, hat Charme. Auch nicht unsympathisch ist der Gedanke, die Waldorfschule wird vielleicht schon richten, was wir Eltern an fahrlässigen, manchmal auch desaströsen Mangelerscheinungen bei unseren Kindern haben durchblicken lassen. Von all dem (und ähnlichem mehr) weiß man an Waldorfschulen Bescheid, und oft genug hemmen dergestaltende individuelle Motive die dynamische Weiterentwicklung an den Schulen selbst. Nur: Der kleinste gemeinsame Nenner reicht nicht. Nicht mehr. Viele Waldorfeltern müssen eindeutig mehr von sich abverlangen, unter anderem: Eindeutigkeit, Zweifellosigkeit. Im Hinblick auf den Klimawandel ist Eindeutigkeit ein Gebot der Stunde. Das Menschenmögliche steht eindeutig als Mittel zur Verhinderung noch schlimmerer Konsequenzen zur Verfügung. Waldorfeltern müssen das Menschenmögliche absolut in Erwägung ziehen, vorausgesetzt, sie beziehen ihr ganzes Bewußtsein mit ein. Und daß muß gleichermaßen von Kritik und Skepsis geprägt sein, wie es völlig zu Recht Zuversicht und Hoffnung zuläßt. In jedem Fall aber muß es geöffnet bleiben, will es ein Niveau behalten oder erreichen, daß den Klimawandel von seinem tiefgreifenden, weit ausholendem Wesen her versteht. Warum nur nimmt sich unser Klima heraus, uns völlig neuen Tatsachen auszuliefern, auf die entscheidend zu reagieren wir nurmehr relativ wenige Jahre Zeit haben? Klar, unsere Sensibilität komplexen ökologischen Systemen gegenüber lag zu lange im Argen. Und da liegt sie überwiegend noch immer. Ihr dabei ein großes Stück heraus zu helfen, halte ich unsereins für prädestiniert. Weil wir eigentlich immer bestrebt sind, etwas seinem eigentlichen Wesen nach zu verstehen. Sogar, wenn es so weit ausholt, daß es umso heftiger auf uns zurückschlägt. Dem Wesen auf den Grund gehen, nicht seinen unmenschlichen Verformungen auf den Leim, daß zeichnet unsere ausholende Neugier aus. Der wollen wir an einer Waldorfschule entsprechen, indem sich das Bildungsangebot dort an den ganzen Menschen richtet. Und weil der ganze Mensch voller Geheimnisse steckt, hilft ihm der dortige Orientierungsrahmen, so viel Klarheit als möglich zu erreichen, um der langwierigen Entdeckungsreise hinter den Mysterien Anfang und Ziel zu geben.

Längst kein Geheimnis mehr: Eine mächtige Ursache hinter dem Klimawandel läuft zwingend auf den Menschen zu. Das hat die empirische Wissenschaft nicht nur herausgefunden, das haut sie uns nun eindrucksvoll um die Ohren. Zuviel wurde versäumt, vernachlässigt, nicht ernst genug genommen, um sich jetzt noch herausreden zu können auf nicht vorhersehbare Umstände. Und es war zu keiner Zeit ein Geheimnis, daß der industriell vorgefertigte Lebenswandel einen hohen Tribut fordert. Auf Kosten armer und ärmster Weltregionen, natürlich auf Kosten der Umwelt, und weil der Himmel über unseren Köpfen halt auch noch irgendwie dazugehört: Auf Kosten des Klimas und seines weltumspannenden Beziehungsgeflechts. Aus dem nicht ganz zutreffenden Begriff der Klimakatastrophe (weil sehenden Auges darauf zugesteuert) läßt sich also unschwer der Begriff der Beziehungskatastrophe entwickeln, womit der Nagel auf dem Kopf getroffen wäre: Bei genauerem Hinsehen stellt sich tatsächlich als Katastrophe (weniger als Schicksalsschlag, weit mehr als Trauerspiel oder Drama) heraus, wie wir unsere Beziehungen zu lebensnotwendigen Rahmenbedingungen gestalten. Einseitigkeit mag sich ja lange genug als förderlich für Wohlstand und gefühlten Fortschritt herausgestellt haben, aber sich dabei so ziemlich alles zu verkneifen, was der anderen Seite ein angemessenes Maß an Würde und Respekt verschafft hätte, das kann die Kurve zum paritätischen, ausgewogenen Miteinander nicht kriegen. Mein aktueller, gefestigter Eindruck ist: Die Waldorfpädagogik ist sich hierüber völlig im Klaren, hat das schon lange erkannt. Bloß: Will sie das für sich behalten, oder ist sie bereit, mit Mitteln der offensiven und kontroversen, dabei konstruktiven und undogmatisch-sachlichen Auseinandersetzung ein gerütteltes Maß an Öffentlichkeit herzustellen?

An dieser Stelle wollen wir noch dem kurzen Zwischenruf des Klimas lauschen, was man ihm vorab hoch anrechnen muß; es tut sich zusehends schwerer, zwischen all den Wirbelstürmen, extremen Hitzeperioden und kapriziösen Überschwemmungsszenarien noch Gehör zu finden:

Ihr habt mich dazu verleitet, meine einigermaßen festgezurrte Weltordnung aufzugeben. Ihr wart es doch, die mich schon völlig überlastet aufgefordert haben, bloß nicht unangenehm aufzufallen! Und weil euch das typische Erscheinungsbild der Jahreszeiten auch nicht immer zupaß kam, habt ihr euch egoistisch verzehrt auf der Suche nach Hitze im Winter und Schnee im Sommer; ein offenes Ohr habt ihr ja dafür in jedem Reisebüro gefunden... und solange die Sonne nur da geschienen hat, wie es der Katalog, der Wetterbericht oder eure Erwartungshaltung vorhergesagt hat, war die Welt in Ordnung. Daß sich diese Fassung der interpretierten Wirklichkeit lange schon nicht mehr aufrechterhalten läßt , darüber haben sich viel zu viele lieber ausgeschwiegen. Jetzt hockt ihr tief drin im Schlamassel, und eure Anstrengungen werden gewaltig sein müssen, um euch daraus zu befreien. Also sagt, was gedenkt ihr, mir gutes zu tun? Oder anders gefragt: Wie sieht euer Konzept aus, daß mir eine reelle, eine glaubwürdige Chance gibt, langfristig wieder Tritt zu fassen?

Wie könnte unsere Antwort darauf aussehen? Wollen wir überhaupt eine Antwort geben, die sich explizit vor unserem Hintergrund auszudrücken vermag? Haben wir die Courage, über das geschwätzig wiederkehrende Mittelmaß aus Energiespartipps und Atomkraft-Kraftausdrücken hinausgehende Feststellungen zu treffen? Und nehmen wir (Eltern!) auch wirklich ernst genug, was uns die ökologische, auf das Ganzheitliche, den ganzen lebendigen Organismus ausgerichtete Komponente der Waldorfpädagogik auferlegt?

Auch wenn es hinreichend Anlaß zur Genugtuung gibt: Setzen wir unseren aktuellen Schwerpunkt nicht mehr allein auf die Waldorfpädagogik nach PISA. Spätestens nach Paris verdient sie ebenfalls Beachtung und Zuwendung in einem Grad, der geeignet ist, im Verbund mit Menschen der selben Entschlossenheit, Authentizität und argumentativen Überzeugungskraft unbequeme und (warum nicht?) überraschend andere Wege aus einer beklemmenden Klimakrise aufzuzeigen.

Autor: © Michael Ibach
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