Soziologie hilflos ... und wie steht es mit der Idee der Dreigliederung?

01.09.1994

Mitte Juli fand in Bielefeld der 13. Weltkongreß der Soziologie statt. 4 000 Wissenschaftler aus (fast) aller Welt waren in 600 Diskussions- und Arbeitsgruppen zusammen, 2000 Referate und Vorträge wurden gehalten. Thema des Kongresses war „Umstrittene Grenzen und sich wandelnde Solidaritäten“. Man konstatierte, daß an Stelle der alten Solidaritäten, etwa der Arbeiterklasse, „neue“ Solidaritäten treten: Fundamentalismus, Nationalismus und Neofaschismus. Zugleich ist das Erscheinen eines neuen Irrationalismus zu bemerken. Diese und ähnliche Symptome sind relativ leicht als das Ergebnis eines Modernisierungsschocks, als Protest gegen anonyme Organisationswelten, als Atavismen, die nicht in die Zeit passen, oder als antiwestliche Affekte zu deuten. Allein mit solchen Deutungen ist nicht geholfen, weil sie nicht sagen, was zu tun ist. Die nunmehr kursierenden Begriffe wie „Risikogesellschaft“ oder „Postmoderne“ geben bestenfalls eine unscharfe Beschreibung des Zustandes westlicher Gesellschaften, zeigen aber keinen Weg, der auf das Wohin eine Antwort gibt.

Neu war auf dem Soziologenkongreß allenfalls, daß bestimmte Deutungsmuster, wie sie vom Marxismus geliefert wurden, weitgehend außer Kurs gekommen sind: sie finden kaum noch ein Echo. Gleichzeitig wird aber auch klar, daß die angeblich siegreiche Marktwirtschaft, also der alte Kapitalismus, die Probleme auch nicht löst. Nach wenigen Jahren „Marktwirtschaft“ sind in Litauen, Polen und Ungarn sozialistisch orientierte Parteien in freien Wahlen wieder an die Macht gekommen, weil die Marktwirtschaft mit ihrem grausamen Wettbewerb die Bedürfnisse weiter Bevölkerungskreise verkannte und unberücksichtigt ließ. Auch in der ehemaligen DDR, in der die sozialen Folgen der Marktwirtschaft durch Hunderte von Milliarden Mark in den letzten Jahren gemildert wurden, findet die PDS zunehmend wieder Anhänger. DDR‑Nostalgie macht sich breit: das ist kein Zeichen für den Sieg der liberalistischen Konzepte der Marktwirtschaft.

Das Ergebnis des Kongresses in praktischer Hinsicht war eine allgemeine Ratlosigkeit. Ein Teilnehmer faßte zusammen: „Wir alle stochern mit der Stange im Nebel.“ Damit ist natürlich nicht gesagt, daß nicht der eine oder andere Kongreß‑Beitrag mit scharfen Analysen glänzte. Aber dem Ganzen fehlte der konkrete Sinn, der Bezug zum Leben und zu den Fragen, die die Menschen bewegen. Die Wissenschaften werden sinnlos, wenn sie sich nur noch im Kreise drehen, alte Probleme fortspinnen und Essays zu den Klassikern der Soziologie, Weber, Pareto und Dürkheim liefern, als wäre die Soziologie eine historische Wissenschaft.

Umso bedauerlicher ist es, daß es uns Anthroposophen bisher nicht gelungen ist, die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus in solcher Form in die gegenwärtige Soziologie einzuführen, daß die Bedeutung dieser Idee allgemein sichtbar wird. Die Idee der Dreigliederung der sozialen Systeme hat einige besondere Eigenschaften, die es ermöglichen, in der gegenwärtigen Ratlosigkeit Hilfe zu bieten.

Erstens genügt die Idee einer differenzierten Betrachtung der drei gesellschaftlichen Systeme der Notwendigkeit, in dem Chaos von Komplexität drei Grundstrukturen erkennbar zu machen; die Idee der Dreigliederung kann damit für die wissenschaftliche Analyse höchst hilfreich sein. Zweitens weist die Idee von der Trennung der drei Systeme auf das, was praktisch zu tun ist; sie verspricht dabei kein Utopia, sondern nur die Klärung der Verhältnisse. Drittens hat die Idee der Dreigliederung einen humanistisch‑moralischen Aspekt, der aber sachlich begründet ist. Indem Freiheit als das Prinzip beschrieben wird, das sachlich tatsächlich dem individuell produktiven Geistesleben innewohnt; indem Gleichheit als Prinzip der Gesetzgebung und des staatlichen Handelns postuliert wird und indem schließlich Kooperation und Brüderlichkeit als die sachlich leitenden Prinzipien

[„Die Drei“, Jahrgang 64, Heft 9/1994, September 1994, S. 712]

des Wirtschaftens aufgedeckt werden, gibt die Idee der Dreigliederung Auskunft über das „Wohin“ der gesellschaftlichen Prozesse. So sind in der Idee der Dreigliederung die Ansätze zur wissenschaftlichen Analyse, zum praktischen Handeln und zur gesellschaftlichen Zielsetzung vereint.

Man kann sich fragen, warum bis heute die Idee der Dreigliederung so wenig Resonanz gefunden hat, obwohl zum Beispiel ein bedeutender Soziologe wie Niklas Luhmann in seinen Analysen der Gesellschaft die drei verschieden operierenden Systeme Wirtschaft, Recht und Wissenschaft in ihrer Unterschiedlichkeit immer wieder beschrieben hat, obwohl die drei Systeme so deutlich vor Augen liegen. Gewiß sind in der Vertretung der Dreigliederungs‑Idee Fehler gemacht worden, etwa indem allzu häufig Details der Idee utopisch ausgemalt worden sind. Man hat „richtige“ Wirtschaftskreisläufe entworfen, man hat sich auf die Idee des alternden Geldes (Schwundgeldtheorie), aufs Bodenrecht oder auf eine Verbesserung der demokratischen Verfahren gestürzt und so gesprochen, als wären Reformen auf diesen einzelnen Gebieten ein Allheilmittel. Das wirkt immer sektiererisch.

Die Dreigliederungsidee besteht nicht aus Einzelheiten, sie ist nicht die Summe einzelner Reformen, sondern ein Ganzes, das in der Drei‑Gliederung auf eine dreifach verschiedene Analyse, auf dreifach zu unterscheidende Verfahren und auf eine dreifache Zielsetzung hinweist.

[„Die Drei“, Jahrgang 64, Heft 9/1994, September 1994, S. 712]