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100 Jahre Betriebsrätegesetz – seine Entstehung im Kampf um die Selbstbestimmung der Arbeit
Bibliographische Notiz und Zusammenfassung
Vorbemerkung
Der folgende Text ist das Manuskript eines Vortrags, der im Herbst 2023 auf der Betriebsversammlung eines Trägers der freien Jugendhilfe in Berlin gehalten wurde. Der Inhalt wurde in der Versammlung wohlwollend aufgenommen und als Konsequenz anschließend an alle Mitarbeiter (ca. 360) verschickt. Der Vortrag gibt eine Übersicht über die Entstehung und eine wertende Einschätzung des Betriebsrätegesetzes von 1920 mit seinen Auswirkungen. Bezug genommen wurde hierbei auch kurz, aber dezidiert, auf das Wirken Rudolf Steiners in dieser Thematik, vor einem Publikum, für welches wohl überwiegend der Rätegedanke selbst nur noch einen eher historischen Wert darstellte und der Bezug Rudolf Steiners dazu, sicher vollkommen fremd war. Das Manuskript kann als Anregung verstanden werden in Betrieben mit Betriebsräten diese Thematik zu beleben, da sich die Folgen dieses Vorgangs aus dem Jahre 1920 sowohl gesamtgesellschaftlich, als auch in der betrieblichen Arbeit und Konstitution wieder finden.
Harald Weil
Ist das Betriebsrätegesetz von 1919 ein Erfolg für die Rechte der Arbeitnehmer, oder eine Niederlage ihrer Forderungen?
Im Jahre 2020 konnte man die 100 Jahrfeier des Betriebsrätegesetzes begehen. Am 4. Februar 1919 verabschiedet, etablierte es gesetzlich die Betriebsräte als Vertretung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft.
Um die Bedeutung dieses Vorgangs zu verstehen und angemessen beurteilen zu können, muss man die Geschichte seiner Entstehung rekapitulieren.
Die folgende Darstellung widmet sich der eingangs erhobenen Fragestellung.
Ist das Betriebsrätegesetz von 1919 ein Erfolg für die Rechte der Arbeitnehmer, oder eine Niederlage ihrer Forderungen?
Primär ist festzustellen, dass das Betriebsrätegesetz das Ergebnis einer revolutionären Erhebung war. Ohne den massiven Druck, den Kampf der Arbeiterschaft um eine neue Wirtschaftsordnung, wäre das Gesetz nicht möglich gewesen. Die Revolution in Deutschland 1918/1919 war also die Voraussetzung für das Betriebsrätegesetz.
In Kürze daher der Ablauf, der zur Revolution in Deutschland geführt hat:
Ende September 1918 erkannte die Oberste Heeresleitung (OHL), dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. General Ludendorff, der faktische Chef der OHL und der wahre, diktatorische Herrscher Deutschlands zu diesem Zeitpunkt, überzeugte den SPD Vorsitzenden Friedrich Ebert, in die Regierung einzutreten, sofortige Waffenstillstandsverhandlungen einzuleiten und eine Parlamentarisierung des Deutschen Reiches vorzunehmen.
Das von den Sozialdemokraten damals nicht erkannte Interesse Ludendorffs dabei war, der neuen Regierung letztlich die Schuld an der Niederlage zuzuschieben. Dies wurde später zur Grundlage der „Dolchstoßlegende.“
Die von Ludendorff lancierte Regierung wurde dann Anfang Oktober unter Beteiligung von zwei Mitgliedern der SPD, mit Max von Baden als Reichskanzler, gebildet.
Die Intention Friedrich Eberts dabei war, eine parlamentarische Monarchie zu etablieren. Dazu die Abdankung des Kaisers und den Verzicht des Kronprinzen zu erzwingen. Nachfolger sollte ein anderes Mitglied der Hohenzollernfamilie werden.
Diese Forderung, nach Abdankung des Kaisers, war in der Arbeiterschaft schon lange virulent.
Die Forderung nach Abdankung des Kaisers war Teil einer vorrevolutionären Unruhe in der Arbeiterschaft. Bereits in den Kriegsjahren führte diese zu großen lokalen, aber auch gesamtdeutschen Streikbewegungen.
Bereits der zweite politische Massenstreik 1917 erbrachte eine bis dahin nicht gesehene Beteiligung, vor allem in Berlin: „Der Streik nahm ungeahnten Umfang an. Nach den Berichten des Metallarbeiterverbandes beteiligten sich 300 Betriebe, und über 200.000 Streikende passierten die Kontrolle. Erfahrungsgemäß bleibt ein Teil der Streikenden der Kontrolle fern, sodass die Zahl mit 300.000 nicht zu hoch geschätzt sein dürfte.[1]
Erheblichen Anteil an dieser Mobilisierung hatten die Berliner „Revolutionären Obleute“, Vertrauensleute der Arbeiter, welche sich nicht der Gewerkschaftslinie unterworfen hatten. Diese Revolutionären Obleute rekrutierten sich aus der Metallarbeiterschaft, vor allem aus dem damals höchstqualifizierten Beruf der Dreher, mit entsprechender Reputation. Diese nahmen dann auch später in dem Ringen um die Betriebsräte eine bedeutende Position ein.
Der dritte politische Massenstreik vom 28. Januar bis 3. Februar 1918 mit „ca. einer Million Menschen mit Schwerpunkt in Berlin bringt einen Großteil der deutschen Rüstungsproduktion für einige Tage zum Erliegen. Trotz anschließender Massenverhaftungen und Einberufungen zum Militärdienst beginnen die Revolutionären Obleute aus den Rüstungsbetrieben Waffen abzuzweigen und verstärkt Propagandamaterial für die Revolution in Umlauf zu bringen.“[2]
Die SPD unter Friedrich Ebert nahm diese Bewegungen sehr ernst und war bemüht, sich vordergründig an deren Spitze zu stellen, um sie dann letztlich abzubiegen.
Max von Baden überlieferte dazu eine vielzitierte Aussage Friedrich Eberts „Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich will sie aber nicht, ja ich hasse sie wie die Pest.“
Man muss diese Einstellung des Vorsitzenden der SPD, der sogenannten „Mehrheitssozialisten“, kennen, welche auch schon frühzeitig bestanden hat, um sein weiteres Vorgehen zu verstehen und warum später, mit gutem Recht, von der verratenen Revolution die Rede sein wird ( u. a. Sebastian Haffner „Die verratene Revolution – Deutschland 1918/1919“ ).[3]
Die Regierung unter Max von Baden, mit dem Auftrag eine Parlamentarisierung einzuleiten, währte bis zum 9. November, ganze 37 Tage. Die Auflösung der gerade gebildeten Regierung erfolgte unter dem Druck der Revolution, die am 9. November Berlin erreicht hatte. Max von Baden erklärte den Kaiser für abgesetzt, trat zurück und übergab die Geschäfte an Friedrich Ebert. Beide Maßnahmen waren schon nicht mehr durch die Verfassung gedeckt.
Wie hinlänglich bekannt, war der Ausgangspunkt der Revolution, der Kieler Matrosen- und Arbeiteraufstand, begonnen am 3. November 1918.
Dem vorangegangen waren weitläufige Meutereien auf der Deutschen Hochseeflotte. Deren Kommandanten hatten die Absicht, die Flotte, gegen den ausdrücklichen Befehl der OHL, in eine letzte aussichtslose Seeschlacht gegen die britische Grand Fleet zu führen. Die revoltierenden Matrosenverbände entwaffneten Offiziere und bildeten Soldatenräte.
In Kiel kam es zu diesem Zeitpunkt zu Massendemonstrationen der Arbeiter, welche sich dann mit den Soldatenräten verbündeten.
Von der SPD wurde in aller Eile der später berüchtigte Gustav Noske zu den Revolutionären geschickt, um sich scheinbar an die Spitze der Bewegung zu stellen, ganz im Sinne der oben geschilderten Linie Friedrich Eberts. Diese Versuche, die Revolution zu verhindern, schlugen fehl.
Von Kiel verbreitete sich die Revolution in wenigen Tagen über das ganze Reich. In allen großen Städten bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. In den folgenden Tagen wurde Berlin eines der Zentren der Bewegung.
Der 9. November begann dann mit einem Generalstreik und einer Massendemonstration.
„Am Morgen werden in Berlin Flugblätter mit Revolutionsaufrufen der Revolutionären Obleute und der Spartakusgruppe verteilt. Zwischen 8.00 und 10.00 Uhr beginnt der allgemein befolgte Generalstreik.
Es formieren sich in den Großbetrieben riesige Demonstrationszüge, die zu den Kasernen ziehen, und zur Verbrüderung aufrufen und die Offiziere entwaffnen. An der Maikäferkaserne (Gardefüsiliere) in der Chausseestraße gibt es die ersten drei Toten der Revolution, als ein Offizier in die eindringende Menge schießt.
Obwohl die SPD-Führung am Morgen noch versucht hat, den Generalstreik zu verhindern, unterstützt sie diesen schon mittags … Gegen 14.00 Uhr ruft Scheidemann am Reichstagsgebäude die Republik aus, einige Stunden später Liebknecht vom Balkon des Schlosses die „Sozialistische Republik.“[4]
Am 10. November ernannte eine Vollversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte ein Regierungskollegium, den sechsköpfigen „Rat der Volksbeauftragten“, paritätisch besetzt mit je drei Mitgliedern von SPD und USPD. Als vorläufige oberste Kontrollinstanz für das gesamte Reich, wurde ein „Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates Groß-Berlin“ gebildet. Vorsitzender wird Richard Müller. Metallarbeiter und Mitglied der „Revolutionären Obleute.“
Nur wenige Tage später verkündete die neue Regierung ein bürgerlich-demokratisches Regierungsprogramm. Es dauerte nicht lange bis sich die Diskrepanz zwischen diesem Programm und den drängenden Forderungen der Arbeiterschaft auftat.
„Diese allmählich unruhig werdenden Arbeiter waren … weder radikale sozialistische Revolutionäre, noch gar Bolschewisten. Sie waren nach wie vor bereit, sich – wenigstens für die nächsten Zukunft – mit der demokratischen Republik zufrieden zu geben; aber ihre Vorstellungen von einer wirklichen Demokratie unterschieden sich recht beträchtlich von den Vorstellungen der sozialdemokratischen Volksbeauftragten und der ersten Reichsregierung. Dieser Gegensatz enthüllte sich vor allem im Streit um die Räte.“[5]
Die Arbeiter rebellierten in der noch gärenden revolutionären Situation zusehends gegen die Vorrechte der Unternehmer, den autoritär-bürokratischen Staat und in der Summe gegen ihre Rechtlosigkeit im Unternehmensabsolutismus.
„Die Form in der diese Rebellion ihren Ausdruck fand, war die der Räte: Soldatenräte zur Kontrolle der Offiziere, Arbeiterräte zur Kontrolle der Regierung und Verwaltung, Betriebsräte zur Kontrolle der Unternehmer. In den Räten verwirklichte sich – spontan, ungeordnet, nicht durchdacht, aber für kurze Zeit unwiderstehlich – der Wunsch großer Teile des Volkes, insbesondere der Arbeiterschaft, nicht mehr länger kommandiert zu werden, sondern die Dinge irgendwie selbst in die Hand zu nehmen.“[6]
Im Dezember wurde auf dem 1. Berliner Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte beschlossen, im Januar 1919 Wahlen zur Nationalversammlung abzuhalten. Damit war der Weg geebnet für eine parlamentarische Demokratie.
Entgegen einer weit verbreiteten Darstellung, war dies jedoch keine Entscheidung gegen eine Sozialisierung der Wirtschaft.
Neben dem Beschluss für eine Nationalversammlung, aus welcher sich dann eine Regierung ergeben sollte, erfolgte auf dem Reichskongress eine Abstimmung über die für die Arbeiterschaft grundlegende Frage einer neuen Wirtschaftsordnung.
„Der Antrag, die Regierung zu beauftragen, mit der Sozialisierung aller hierzu reifer Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen, wird mit großer Mehrheit angenommen.“[7]
„Seit dem Dezember 1918 wurde es immer deutlicher, dass Millionen von Arbeitern und Angestellten, Anhänger der USPD, der SPD, des Zentrums, aber auch bisher konservativ oder gänzlich unpolitisch gewesene, von der bestehenden Wirtschaftsordnung wegstrebten.“[8]
Gewerkschaften und die SPD arbeiteten aus den verschiedensten Gründen gegen diese Entwicklung.
Mit dem Beschluss zur Wahl einer Nationalversammlung verloren die Arbeiter- und Soldatenräte jedoch auf dem politischen Feld zusehends an Einfluss. Der Rat der Volksbeauftragten verbündete sich zudem auf Grundlage des Ebert-Groener-Pakts mit den antidemokratisch eingestellten alten Eliten des Kaiserreiches, vor allem im Militär.
Eine Protestaktion gegen die Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten, der den Schießbefehl gegen eine Marinedivision verweigerte, die sich aus Protest gegen ausstehende Entlohnung zu Weihnachten im Berliner Schloss verschanzt hatte, entwickelte sich zu Kampfhandlungen, welche im Januar 1919 als Spartakusaufstand in die Geschichte einging.
Am Vorabend der sich zuspitzenden Ereignisse hatten die Berliner Revolutionären Obleute und die USPD zu einer Demonstration gegen die Entlassung und das Handeln der Volksbeauftragten aufgerufen, der Hunderttausende folgten.
Hieraus entwickelten sich erbitterte Kämpfe, bei denen eine Vielzahl von Toten zu beklagen waren, wobei die willkürliche Ermordung von über hundert Aufständischen und auch Unbeteiligten, durch die Freikorps, als besondere widerwärtige Verbrechen im Gedächtnis bleiben.
Einige Tage nach dem Ende des Aufstands wurden dann Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von rechtsgerichteten Kräften ermordet. Im März Leo Jogiches.
Die erst vor kurzem gebildete KPD wurde dabei marginalisiert. Auch die USPD konnte wenig Schlagkraft entwickeln.
So ging die revolutionäre Kraft dorthin zurück, wo sie entstanden war, zu den unmittelbaren, direkten Vertretern der Arbeiter. In Berlin zu den Revolutionären Obleuten und im übrigen Deutschland zu den Arbeiterräten, die sich dadurch immer deutlicher und bewusster den wirtschaftlichen Fragestellungen widmeten.
In den folgenden Monaten wurden im gesamten Deutschen Reich, unter der Führung des Sozialdemokraten Noske, politische Bewegungen, welche nicht der Linie der SPD und der Gewerkschaften folgten, rücksichtslos niedergeschlagen. Willkürliche Ermordungen, standrechtliche Erschießungen revolutionärer Matrosen, Soldaten und Arbeiter fanden republikweit statt.
In einigen Regionen wurden spontan Räterepubliken ausgerufen. Die lokalen Versuche, eine Form der direkten Demokratie durch ein Rätesystem über ein größeres Gebiet zu verwirklichen, wurden jedoch blutig niedergeschlagen. Die Zahl der Opfer ging in die Tausende.
In der Folge verlagerte sich die Energie der Arbeiterschaft noch deutlicher auf eine Veränderung der wirtschaftlichen Verfassung des Landes. Zentraler Punkt war dabei die Betriebsräteschaft.
Angesichts der Restauration der herrschenden Eliten des Kaiserreichs, unter dem Deckmantel der parlamentarischen Demokratie, konzentrierte sich nun die Energie auf eine Umgestaltung der Herrschaftsverhältnisse in der Wirtschaft.
„Unter dem Druck landesweiter Streiks und vielerorts immer wieder aufflammender Unruhen in den Betrieben, kündigte die Regierung im Frühjahr 1919 einen Betriebsräte-Gesetzentwurf an, der Anfang Mai den verschiedenen Verbänden zur Begutachtung vorgelegt wurde.“[9]
Um dieses Gesetz entspannen sich nun bis zum Februar 1920 die Auseinandersetzungen.
„ ‚An sich‘ bedeutet die Räteidee nichts weiter als radikale Demokratie; aber in der Anwendung auf die Struktur der Wirtschaft kann sie die Kontrolle oder völlige Beseitigung der bisherigen Unternehmer bedeuten und insofern einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Sozialisierung, zur „Expropriation der Expropriateure“ und zur „Emanzipation der Arbeiterklasse“ darstellen. Und genau so haben große Teile der Arbeiterschaft die Räte in der Revolution von 1918/19 verstanden.“[10]
Die irreführende, aber gleichwohl wirkungsvolle Propaganda gegen die Räte, unterstellte dabei den führenden Kräften dieser Bewegung, den Versuch ein bolschewistisches System in Deutschland herbeizuführen.
Die leninsche Ideologie einer bolschewistischen Führung stieß jedoch in der revolutionären Arbeiterschaft in Deutschland auf klare Ablehnung. Nur eine Minderheit trug sich mit den entsprechenden Gedanken. Die Mehrheit wollte ein demokratisches System mit weitreichendem Einfluss der Arbeiter auf die betrieblichen Belange.
Selbst eine der radikalsten Verfechterin einer Sozialisierung, wie Rosa Luxemburg, hatte schon lange vorher, ihre fundamentale Ablehnung des Bolschewismus artikuliert:
„Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dass es steuern soll: Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.“[11]
In ihrer Charakterisierung dieses Systems wird sie unmissverständlich deutlich:
„ … eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne ...“[12]
Ein erster Entwurf der Regierung zum Betriebsrätegesetz, im Sommer 1919, wurde vom Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte entschieden abgelehnt. Der Zentralrat erarbeitete einen Gegenentwurf.
Die Vorschläge der Regierung reduzierten die Rechte der Betriebsräte auf soziale Maßnahmen in den Unternehmen. Die Forderungen der Arbeiterschaft, welche sich erst schrittweise entwickelten, drangen dagegen auf eine umfassende Sozialisierung und Demokratisierung der Wirtschaft.
„Die Grundlage der wirtschaftlichen Räteherrschaft ist der Betrieb. Durch die Räte soll der Gedanke der proletarischen Selbstverwaltung unmittelbar innerhalb des Betriebes und nicht nur mittelbar auf dem Weg über die Leitung des Staates verwirklicht werden. Auch hier ist die Auflehnung gegen den Zustand des Beherrschtseins das treibende Motiv ...“[13]
Die Lebensrealität der Arbeiter in der damaligen Industriegesellschaft machten ihnen den Grundwiderspruch, den Friedrich Engels in seiner Broschüre „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ dargestellt hatte, täglich bewusst.
„Die moderne industrielle Produktion als solche ist wesentlich – durch ausgedehnte Arbeitsteilung und weitverzweigte Kooperation bedingt – gesellschaftliche Produktion; Austausch und Aneignung der Güter hingegen verbleiben – auf der Grundlage des aus dem, der rein handwerklich- bäuerlichen Produktionsstufe übernommenen Privateigentum an den Produktionsmitteln – individuelle Akte.“[14]
Und so entwickelte sich der Gedanke der Betriebsräte im Laufe des Jahres 1919 in den verschiedensten Variationen. Die Konzepte, die dabei in den einzelnen Regionen entworfen wurden, hatten eine Bandbreite, welche von der Kontrolle der Produktion, der Unternehmertätigkeit, in den unterschiedlichsten Ausmaßen, bis zur vollständigen Übernahme der Unternehmensleitung durch einen Betriebsrat gingen.
Grundlegend dabei, blieb ihr basisdemokratischer Charakter.
„Das gebundene Mandat der gewählten Vertreter, die Möglichkeit, sie jederzeit abzuberufen, die scharfe Kontrolle durch den Zwang dauernder Rechenschaftsablegung und die Tendenz, Ungleichheit des Einkommens und des Prestiges zwischen Gewählten und Wählern nicht aufkommen zu lassen, sollen verhindern, dass die Inhaber der Herrschaftspositionen diese trotz Wahl für sich monopolisieren.“[15]
„Die Rätebewegung drückte ein neues soziales Bewusstsein der Arbeiter aus, es wurzelte in ihrer Überzeugung, dass sie selbst ihre Interessen besser vertreten könnten, als die traditionellen bürokratischen Führungsschichten in Staat, Parteien und Gewerkschaften, und es fand seinen Niederschlag in Idee und Praxis der direkten Demokratie, d.h. im Rätesystem.“[16]
Die Vorstellungen über die Rechte der Betriebsräte erstreckten sich in den Entwürfen der einzelnen Gruppen von der reinen Kontrolle der Produktion, über die gleichberechtigte Beteiligung an den betrieblichen Entscheidungen, bis zu einer vom Staat losgelösten Wirtschaftsverfassung, durchaus vereinbar mit einem parlamentarischen System, in der die Wirtschaft vollständig von den Betriebsräten geleitet wird.
Immer wieder neu in den Diskussionen und Entwürfen tauchte auch die Frage des Lohnsystems, der Arbeitskraft als Ware, auf. Mit der Abschaffung des von Marx so benannten „verfluchten Lohnsystems“, verband sich die Hoffnung auf eine würdigere Arbeitssituation, als die, in welche sich der Arbeiter genötigt sah.
Mit dieser Frage verbunden, war naturgemäß die der Sozialisierung. Ein erst zunehmend sich mit Inhalt füllender Begriff. In einem entwickelten Zustand der Sozialisierung wäre dann die Möglichkeit gegeben, an die Stelle des Arbeitsvertrags einen Verteilungsvertrag treten zu lassen, welcher das Lohnsystem aufhebt.
Aus den überlieferten Forderungen über die Gestalt der Betriebsräte, lässt sich ein Verlangen herauskristallisieren, welches sich erst allmählich entwickelte, aber zwei klare Abwehrhaltungen beinhaltete. Eine Abwehrhaltung zeigte sich gegen eine weitere Übernahme der wirtschaftlichen Macht durch den privaten Kapitalbesitzer, die andere gegen die Übernahme der wirtschaftlichen Macht durch den Staat.
Das Bestreben war deutlich, dass eine Emanzipation der Arbeiterschaft weder in der Unterordnung durch das Privatkapital, noch in der Abhängigkeit vom Staat zu erreichen war. Mit letzterem war auch die schon geschilderte Ablehnung des bolschewistischen Systems in einer sozialistischen Verfassung verbunden.
Fast 20 Jahre später formulierte Diego Abad de Santillian, letzteres, während der Spanischen Republik, vor ihrer Zerschlagung durch Franco, mit den folgenden Sätzen:
„Entweder gibt die Revolution das Gesellschaftsvermögen den Produzenten, oder sie gibt es ihnen nicht. Wenn sie es ihnen gibt, wenn die Produzenten sich organisieren, um gemeinsam zu erzeugen und zu verteilen, hat der Staat nichts mehr zu tun. Wenn sie es ihnen nicht gibt, dann ist die Revolution nur ein Trugbild ...“[17]
Diese und ähnliche Vorstellungen wurden in nächtelangen Sitzungen und Versammlungen der Arbeiterschaft über Monate diskutiert und entworfen. Wichtige Beiträge lieferten dazu die Arbeiterräte aus dem Ruhrgebiet, in dem die sogenannte „Neunerkommission“ das Rätesystem für den Bergbau beschloss, die Entwürfe der Berliner Industriearbeiterschaft und die Konzepte der Industrien und des Bergbaus in Mitteldeutschland.
Neben Berlin, dem Ruhrgebiet, sowie den Chemischen Industrien und des Bergbaus in Mitteldeutschland, war die Bewegung der Betriebsräte in Württemberg von Bedeutung. Hier, wie auch anderswo, wurden dann auch in vielen Betrieben, als Reaktion auf die mangelhaften Entwürfe der Regierung, „wilde“ Betriebsräte gewählt. So kanalisierte sich der Unmut der Arbeiterschaft unter anderem auf diesem Wege, gegen welche die Regierung weiterhin, immer wieder in Verbindung mit den Kräften des alten Kaiserreichs, rücksichtslos Gewalt anwandte.
„Die Entstehungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes spielte sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Radikalisierung der Arbeiterschaft ab. Zu Hunderttausenden verließen im Sommer und Herbst 1919 die Arbeiter die Sozialdemokratie und strömten zum größten Teil den Unabhängigen zu. Der Grund dafür war, neben dem allgemeinen Unwillen über die politische Entwicklung und neben der ‚Entrüstungsopposition‘ gegen die Noske`sche Politik der militärischen Befriedung Deutschlands, nicht zuletzt die Enttäuschung über das Verhalten der Mehrheitssozialisten in der Rätefrage.“[18]
„Alle ernsthaft auf dem Rätesystem aufgebauten Entwürfe einer Wirtschaftsverfassung gehen darin einig, dass von der untersten Ebene, bis zur Spitze, die Arbeitnehmer unmittelbar, als Produzenten und nicht als Staatsbürger, an der Planung und Lenkung des Produktionsprozesses beteiligt sein müssen.“[19]
Der Betriebsrat eines Betriebes ist dabei die kleinste Einheit, die Grundlage des Rätesystems, aus dem sich darüber regionale und überregionale, indirekt gewählte, Räteorganisationen bilden.
„Die Betriebsräte sind die Wahlmänner für die indirekt gewählten oberen Räte; ihre Verwurzelung in der sozialen Welt der Arbeiterklasse garantiert den direkten und unverfälschten Charakter der Rätedemokratie.“[20]
Aus den Diskussionen in den Versammlungen der Arbeiterausschüsse der großen Betriebe Stuttgarts, Daimler, Bosch etc., im Sommer 1919, lässt sich eine treffende Charakterisierung durch Rudolf Steiner, für eine der geforderten Formen der Betriebsräte entnehmen. Diese Charakterisierung steht in starkem Kontrast zu den Entwürfen der Regierung.
„Die Betriebsräte sind als wirkliche Leiter der Betriebe gedacht. Ein wirklicher Betriebsrat würde entweder den heutigen Unternehmer, wenn er sich dazu bereit erklärt, als einen Betriebsrat unter sich haben, ebenso Personen aus dem Kreis der Angestellten, der geistigen Arbeiter, ferner der physischen Arbeiter, oder aber der Unternehmer müsste sich zurückziehen.
Man muss sich eben durchaus darüber klar sein, dass der Betriebsrat als solches gedacht ist, dass er der wirkliche Leiter eines Betriebes sein wird, so dass alles Unternehmertum im heutigen Sinne neben diesem Betriebsrat verschwindet.“[21] Mit der Übernahme der wirtschaftlichen Entscheidungsgewalt durch die Räte erhob sich die Forderung, dass die entsprechende Betriebsverfassung auch durch diejenigen entworfen wird, die sie dann letztlich mit ausfüllt, die Arbeiterschaft selbst. Damit war auch in Zweifel gezogen, ob es grundsätzlich möglich ist, von Regierungsseite eine entsprechende Regelung zu entwerfen, welche den sachlichen Bedingungen des Wirtschaftslebens und den erhobenen Forderungen der Arbeiterschaft gerecht wird.
Eindeutige Worte dafür fand der Unternehmer Emil Molt auf einem der Diskussionsabende mit den Arbeiterausschüssen der großen Stuttgarter Betriebe. Emil Molt hatte schon selbst die ersten Schritte der Sozialisierung unternommen und war als Unternehmer Mitglied des Betriebsrats in seinem Unternehmen.
„Wir sind uns klar darüber, dass die Betriebsräte nicht normiert werden können, weil jeder Betrieb anders ist. Das Wirtschaftsleben kann weder durch politische Macht, noch durch Gesetze geregelt werden, sondern es kann sich nur aus sich selbst regeln. Wenn das Gesetz einmal da ist, so ist es schwer, dagegen anzugehen, da muss man schon Revolutionär sein … Wenige Wochen trennen uns noch von diesem Gesetz. Diese Zeit muss genutzt werden. Wird sie nicht genutzt, so ist es einfach zu spät mit den Betriebsräten und mit dem Sozialisieren.“[22]
Diese Warnung sollte sich bewahrheiten. Trotz monatelanger erbitterter Kämpfe um eine wirkliche Sozialisierung durch die Betriebsräte, legte die Regierung im Beginn des Jahres 1920 einen Entwurf vor, der lediglich tendenziell das Alte bestätigte. Die Rolle der Betriebsräte beschränkte sich auf die Sozialpolitik im Betrieb.
Die Chancen und Impulse für eine Emanzipation der arbeitenden Menschen wurden nicht aufgegriffen. Die wirtschaftlichen und damit gesellschaftlichen Machtkonstellationen blieben bestehen und führten nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs in die nächste, noch gewaltigere Katastrophe.
Am 13. Januar erfolgte die 2. Lesung des Gesetzes im Berliner Reichstag. Der aufgestaute Unmut der Arbeiterschaft entlud sich in einer Massendemonstration, an der ca. 100.000 bis 150.000 Arbeiter teilnahmen. Der Protest gegen das Betriebsrätegesetz endete in einem Blutbad. Die Sicherheitspolizei schoss mit schweren Waffen in die Menge. 42 Menschen starben, über hundert wurden, teils schwer, verletzt.
Im Februar 1920 wurde dann das Betriebsrätegesetz beschlossen, um das so bitter gerungen worden war und mit dem so viele Hoffnungen verbunden waren und welches letztlich „in seiner praktischen Bedeutung mehr oder minder auf den Wirkungsbereich der früheren Arbeiterausschüsse zusammengeschrumpft“[23], wurde.
Der Versuch der Emanzipation des Wirtschaftslebens, eines dritten Weges dieses gesellschaftlichen Bereichs, zwischen Privatkapitalismus und Bolschewismus war gescheitert. Die Loslösung der arbeitenden Menschen aus den Zwängen des Lohnsystems, der vorläufig letzten Stufe der Treppe der Fremdbestimmung, von der Sklaverei über den Feudalismus zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft an den Meistbietenden, ist bis heute nicht erfolgt.
Diese scheinbar aus der Zeit gefallene Forderung, welche jedoch nur verschleiert ist und angesichts der Verheerungen des Privatkapitalismus im Grunde so drängend ist, wie nie zuvor, lässt sich auch, jenseits des sozialistischen Vokabulars, mit den Worten Martin Bubers beschreiben. Martin Buber hat mit diesen Worten im Grunde eine Definition des organisatorischen Prinzips des Rätegedankens gegeben.
Es sei nötig „ … alle Funktionen des Leitens in so weitgehendem Maße als jeweils möglich zu entpolitisieren, d.h. ihnen die Möglichkeit zu nehmen, zur Machtakkumulation auszuarten. Nicht darauf kommt es an, dass es nur Leiter und keine Geleiteten mehr gebe … sondern darauf, dass Leitung Leitung bleibe und nicht Herrschaft werde.“[24]
Anmerkungen
[1] Richard Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution, Berlin 2018, S. 95
[2] Ebd., S. 763
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/ Der_Verrat
[4] R. Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution, Berlin 2018, S. 764/765
[5] Peter v. Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution, Dietz 1976, S. 56
[6] Ebd., S. 58
[7] R. Müller, S. 768
[8] P.v. Oertzen, S. 59
[9] Rudolf Steiner, Betriebsräte und Sozialisierung, 1989, S. 16
[10] P.v.Oertzen, S. 60
[11] Rosa Luxemburg, Ein Leben für die Freiheit. Reden, Schriften, Briefe, Fischer 1987, S. 283
[12] Ebd.,S. 284
[13] Kurt Brigl-Matthiaß, Das Betriebsräteproblem in der Weimarer Republik, Oll&Wolter, 1978, S. 4
[14] P.v.Oertzen, S.229
[15] Ebd., S.332
[16] Ebd., S.323
[17] Daniel Guerin, Anarchismus, Suhrkamp 1969, S. 29
[18] P.v. Oertzen, S. 154
[19] Ebd., S. 305
[20] Ebd., S. 308
[21] R.Steiner, S. 222
[22] R. Steiner, S. 260
[23] Brigl-Matthiaß, Das Betriebsräteproblem in der Weimarer Republik, Berlin 1978, S. 246
[24] P.v.Oertzen, S. 344
Literaturverzeichnis
- Kurt Brigl-Matthiaß, Das Betriebsräteproblem in der Weimarer Republik, 1978
- Daniel Guerin, Anarchismus, Suhrkamp 1969
- Rosa Luxemburg, Ein Leben für die Freiheit, Fischer 1987
- Richard Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution, Berlin 2018
- Peter v. Oertzen, Betriebsräte in der Novemberrevolution, Dietz 1976
- Rudolf Steiner, Betriebsräte und Sozialisierung, 1989