Wird die Schweiz noch demokratischer?

01.05.2013

Ein Schweizer Weg zur Dreigliederung

Die Abstimmung am 9. Juni 2013 über die Volkswahl des Bundesrates ist ein Schritt, die sehr demokratische Schweiz noch demokratischer zu machen. Dahinter könnte das Ziel der Dreigliederung nach Gleichheit im Rechtsleben gesehen werden. Für eine genaue Betrachtung kann bei dieser zur Abstimmung stehenden Initiative aber nur von einer Kompromisslösung die Rede sein.

In der Dreigliederung findet man die Forderung nach Gleichheit im Rechtsleben. Dazu gehört auch, dass Politiker demokratisch gewählt werden. Ebenso demokratisch stimmt das Volk über die Gesetze ab, welche der Politiker ausarbeitet.
Die Gleichheit im Rechtsleben unterscheidet sich vom Prinzip der Freiheit im Geistesleben. Es gibt aber auch so etwas wie Geistesarbeiter im Rechtsleben. Das sind die Politiker. Sie sind intellektuelle tätig, indem sie Gesetze entwerfen. Ein Kennzeichen des Geisteslebens ist es, dass jeder selbst bestimmt, mit wem er welche Art von Beziehung eingeht. Das ist das Prinzip der Freiheit. Nun gilt etwas Ähnliches auch für den Geistesarbeiter in der Politik. Die Politiker werden zwar alle demokratisch gewählt, was keine individuelle, sondern eine Mehrheitswahl darstellt. Auch das Verhältnis der Politiker untereinander ist nicht ein selbstbestimmtes. Ihre Zusammenarbeit ist durch ihre Wahl durch das Volk geprägt. Etwas Anderes ist es aber bei dem Verhältnis eines Politikers zu dem, der seine Gesetze umsetzt. Das kann beispielsweise jemand sein, der eine Einrichtung für Invalide realisiert. Diese Person wird nicht vom Volk gewählt, sondern vom Politiker eingesetzt, der das Volk davon überzeugen konnte, dass es eine solche Einrichtung braucht. Das Verhältnis zwischen Politiker und Umsetzendem entspricht dem zweier Geistesarbeitern. Es ist geprägt von einem gemeinsamen Denken.
Der Politiker wird vom Volk gewählt, weil ihm die intellektuellen Fähigkeiten zugetrauten werden, Gesetze zu entwerfen, die das Volk will. Wird er gewählt und sein Vorschlag angenommen, braucht er Leute, die es verstehen, seine Denkweise nachzuvollziehen. Der Politiker sucht sich also intellektuell Gleichgesinnte, wie man das sonst im Geistesleben findet. Die Grundlage bildet die persönliche Denkart.

Die heutige Unterteilung von Bundesrat und Parlament entspricht derjenigen der Exekutiven und der Legislativen. Der Parlamentarier wird durch das Volk gewählt. Der Bundesrat hingegen wird demokratisch vom Parlament bestimmt.
Was hier somit nicht spielen kann, ist die Wahl der Exekutive durch die freie Einsicht des Parlamentariers (das entspricht dem Politiker, wie ich ihn oben genannt habe). Dadurch, dass die Bundesratswahl ebenfalls demokratisch ist, wird der individuelle Bezug des Parlamentariers zu demjenigen, der seine Gesetzesentwürfe umsetzt, aufgehoben. Die Mehrheitswahl setzt ein Gremium ein, das für die Umsetzung zuständig ist, ohne dass es einen intellektuellen Bezug zu demjenigen hat, der die Gesetze entworfen hat.

Damit der Parlamentarier die Umsetzenden individuell einsetzen kann, muss ein Verständnis für die freiheitlichen Beziehungen zwischen Geistesarbeitern vorhanden sein. Dies ist heute nicht der Fall.
Umso interessanter ist der Vorstoss der SVP, den Bundesrat durch Volkswahlen zu bestimmen. Das entspricht zwar nicht dem Gedanken aus der Dreigliederung, aber man stösst sich offensichtlich an der Wahl durch das Parlament. Man empfindet den jetzigen Bundesrat als zu volksfern. Dem durch eine Volkswahl entgegenzuwirken könnte als etwas Urschweizerisches bezeichnet werden. Der Schweizer fühlt sich in hohem Mass der Demokratie verpflichtet und sucht zu diesem Ideal zurück, wo für ihn Missverhältnisse unter den Politikern auftauchen. Das ist für einen Dreigliederer ein sehr spannendes Phänomen. Zu einem der drei Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zeigt sich ein natürlicher Hang. Eine scharf umrissene Idee ist es für ihn nicht, geschweige denn eine Idee, die er fähig wäre, in Bezug zu anderen Ideen zu setzen. Die Demokratie bleibt isoliert für sich stehen.
Eine fruchtbare Erweiterung seines Denkens würde darin bestehet, zu begreifen, dass es innerhalb des Politikbereiches Elemente gibt, die er nicht aus dem Prinzip der Gleichheit verstehen kann. Das ist der Politiker als Geistesarbeiter. Zudem lassen sich auch wirtschaftliche Aspekte hinzufügen, welche augenscheinlich machen können, dass innerhalb des Rechtslebens drei soziale Glieder ineinandergreifen, die es in ihrer viel ausgeprägteren Form auch ausserhalb des Rechtslebens gibt.
Dies ist ein möglicher Weg einem schweizerischen Denken die Dreigliederung näher zu bringen.

Die Volkswahl des Bundesrats ist aus der Sicht eines Dreigliederers keine ideale Form. Das ist eine typisch schweizerische Art, mit Problemen im Rechtsleben umzugehen. Wichtiger wäre es, neben dem Sinn für Gleichheit ein Verständnis für Freiheit und für eine brüderliche Wirtschaft zu bekommen.
Die Forderung nach mehr Demokratie zeigt einen Schweizer, der sich in seiner Identitätssuche an Altbewährtes hält. Das Problem dabei ist nur, dass ein gesundes Selbstverständnis im Rechtsleben das Selbstverständnis im Kultur- und Wirtschaftsbereich nicht ersetzen kann. Dafür muss Neuland betreten werden.
Demokratie da zu fordern, wo der Parlamentarier und der Bundesrat eine individuelle Beziehung eingehen sollten, zeigt, dass die Befürworter der Initiative die Demokratie für einen Ausdruck ihres Kulturlebens halten. Das ist ein Irrtum. Demokratie kann nicht zum Inhalt der Kultur werden. Es ist eine Verwaltungsform. Genauso wenig kann Brüderlichkeit Inhalt des Wirtschaftslebens sein, weil es da um Sachfragen geht in Bezug auf Warenproduktion und –konsumation. Es ist ebenso ein Verwaltungsprinzip. Würde man hingegen Demokratie zum Verwaltungsprinzip des Kultur- und Bildungslebens machen, würde man Minderheiten unterdrücken.

Die entscheidende Frage ist, ob es schwieriger ist, die Exekutive dem Volk wieder wegzunehmen oder dem Parlament, um es in ein gesundes Verhältnis zur Legislative zu bringen. Meiner Meinung nach ist das Volk eher fähig, den Bundesrat in eine individuelle Beziehung zu den Parlamentariern zu entlassen, als das Parlament. Letzteres hat zu wenig zu tun mit freiem Geistesleben, als dass von ihm eine solche Entwicklung zu erwarten wäre. Das freie Geistesleben muss sich bei den Einzelnen bilden. Bei der Bevölkerung. Wird das Geistesleben unabhängig von der Politik stark, wird es auch stark genug, um positiv auf die Politik zurückzuwirken.