Wer den Weg der sozialen Dreigliederung nicht kennt, der sucht im Dunkeln

01.11.2009

Ibrahim Abouleish im Gespräch mit Johannes Mosmann

Am Abend des 10. Juni 2009 wurde ich Zeuge eines seltenen Schauspiels: Sichtbar vermögende Geschäftsleute teilten sich auf dem Luxus-Schiff MS-Paloma die reich gedeckten Tische mit sozialen Aktivisten diverser NGOs. Und während das Schiff lautlos über den Wannsee in die Abendämmerung glitt, lauschten wir gemeinsam den Ausführungen des muslimischen Anthroposophen Ibrahim Abouleish, in der Hoffnung, er möge etwas von dem Geheimnis seines wirtschaftlichen Erfolges verraten. Was war geschehen?

Ich war auf einer Veranstaltung der Stiftung »World in Balance«[1] gelandet. Gründer und Vorsitzender der Stiftung ist Philipp Daniel Merckle, jener junge Unternehmer also, der 2008 die Leitung des Pharmakonzerns Ratiopharm abgeben musste, weil seine »ethisch verantwortliche Firmenphilosophie« für Umsatzrückgänge verantwortlich gemacht wurde. Verstärkt tritt Merckle seither öffentlich für »ethisches Wirtschaften« ein und versucht dabei, Geschäftsleute auf alternative Wirtschaftsmodelle aufmerksam zu machen – so geschehen an jenem Abend auf dem Wannsee.

Ibrahim Abouleish ist der Mann, den man hören muss, wenn man etwas über Alternativen zu unserem Wirtschaftssystem erfahren will. Allerdings geht es Abouleish nicht darum, innerhalb des Systems Verbesserungen vorzunehmen. Er stellt das System auf den Kopf. Und das funktioniert. Nie hat die Arbeit eines einzelnen Menschen in so kurzer Zeit so viele Früchte für das soziale Leben getragen. Was Ibrahim Abouleish anzubieten hat, ist mehr als ein Modell: Es ist Praxis, funktionierende Wirtschaftspraxis – und die ist selten auf unserer Erde.

Ibrahim Abouleish

Während seines Studiums in Deutschland lernte der heutige Konzern-Chef das Werk Rudolf Steiners kennen, darunter auch die Schrift Die Kernpunkte der sozialen Frage[2], in der Rudolf Steiner die Auseinandergliederung des Nationalstaates in drei selbständige Systeme und damit eine radikale Umgestaltung der sozialen Ordnung fordert. Begeistert von der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis einerseits und der Idee einer sozialen Dreigliederung andererseits ging Ibrahim Abouleish 1977 zurück in sein Heimatland Ägypten, um dort den Kampf gegen die Not seiner Landsleute aufzunehmen. Denn der gläubige Muslim war überzeugt davon, in den Ideen aus Mitteleuropa auch den Schlüssel für die Entwicklung des nordafrikanischen Landes gefunden zu haben. Mitten in der Wüste begann er mit dem Anbau von Gemüse nach bio-dynamischem Verfahren und gründete Sekem[3].

Heute befindet sich dort, wo einst Wüste war, eine blühende Landschaft, darin ein Pharmakonzern, eine Textilfabrik, ein Krankenhaus, eine Schule, Kindergärten, eine Universität und vieles mehr. Das anthroposophische Verfahren erwies sich als so erfolgreich, dass die ägyptische Regierung angesichts des ungiftigen Wachstums landesweit die Ausbringung von Pestiziden verbot. In ganz Ägypten werden jetzt auf 800 Farmen bio-dynamische Produkte angebaut, und alle sind mit Sekem assoziiert – d.h., alle handeln ausschließlich zu Fair-Trade-Bedingungen. Sekem ist heute in allen wichtigen Ministerien beratend tätig und darüber hinaus in vielen internationalen Organisationen, wie z.B. in der UNIDO, vertreten.

Daher kommt also das gemeinsame Interesse von »denen da oben« und »denen da unten« an Ibrahim Abouleish. Und tatsächlich, er hat etwas von dem Geheimnis seines Erfolges verraten: Er habe Goethe als Wissenschaftler kennengelernt und die Gesetze des Wachstums, die Goethe entdeckt hätte, aufs Soziale übertragen. Er wisse, dass irgendwann die Grenze des Wachstums erreicht sei und die Werte dann eine Wandlung durchmachen müssen vom Materiellen ins Geistige, damit sie im Geistigen wieder neues Wachstum anregen könnten. Der Sterbeprozess gehöre eben dazu, er müsse im Sozialen nur bewusst ergriffen werden: »Unser Geheimnis ist, dass wir unsere Gewinne nicht in Swimmingpools stecken oder sonst irgendwie einbetonieren, sondern vollständig in die Bildung geben.« Im Anschluss an den Vortrag hatte ich Gelegenheit, mit Ibrahim Abouleish zu sprechen und ihm noch mehr Geheimnisse zu entlocken:

Johannes Mosmann: Sehr geehrter Herr Abouleish, es klingt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht: 1977 sind Sie in die Wüste gegangen und haben nach Wasser gegraben. Heute produziert die Sekem Holding AG mit ihren 8 Tochtergesellschaften Gemüse, Obst, pharmazeutische Produkte, Textilien und vieles mehr. Allein auf der Sekem-Farm arbeiten 2000 Menschen, 800 weitere Farmen in ganz Ägypten sind bei Sekem unter Vertrag. Sekem-Produkte verstecken sich hinter den Bio-Marken von Tengelmann oder der Metro-Gruppe. Während die Wachstumsraten der meisten großen Pharmakonzerne gerade von 10% auf 5% eingebrochen sind, können sich die Mitarbeiter von ATOS, der Pharma-Tochter von Sekem, über eine Wachstumsrate von 30% freuen. Wie erklären Sie diesen sagenhaften Erfolg?

Ibrahim Abouleish: Der Erfolg kommt daher, dass Menschen die Vision haben, etwas für die Erde und den Menschen zu tun. Das ist wie bei einem Vogel: der streckt seine Flügel und dann wird er getragen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir getragen werden. Das kann man sich nicht aus materiellen Dingen erklären. Wenn man das Rechte will, dann wird man auch von dem Rechten unterstützt. Das ist das eine. Das andere ist der Mut, den ich habe, Neues zu gewinnen und der Idee der Entwicklung treu zu bleiben. Die soziale Dreigliederung selber ist ja keine Idee, für die man lebt, sondern sie ist ein Mittel, um eine Vision zu erreichen. Meine Vision ist die Entwicklung des Menschen, und die lässt sich eben nur über den Weg der sozialen Dreigliederung erreichen.

Johannes Mosmann: Wenn man sich die Sekem Holding AG anschaut, dann sieht man schnell die dreigegliederte Struktur. Es gibt einen selbständigen Rechtsbereich, einen Wirtschaftsbereich und einen Kulturbereich. Dennoch sagen Sie mir jetzt, es geht nicht darum, die soziale Dreigliederung zu verwirklichen?

Ibrahim Abouleish: Die Gliederung ist nicht die Vision. Sie ist der Weg. Es geht um die Vision der Menschenentwicklung, der Erdenentwicklung, der Gesellschaftsentwicklung. Ich denke, der Versuch der Dreigliederung war sehr erfolgreich.

Ist die Dreigliederung noch aktuell?

Johannes Mosmann: Manche glauben ja, die Dreigliederung sei veraltet. Denken Sie, die soziale Dreigliederung ist noch aktuell?

Ibrahim Abouleish: Auf jeden Fall! Jederzeit! Sie ist eine geniale Methode. Wenn man den Menschen studiert und die Weisheit, die im Menschen steckt, herausschälen kann, dann sieht man, dass der Mensch drei Glieder hat: Er hat ein Nervensystem, ein rhythmisches System und einen Stoffwechsel. Wenn diese Glieder in Harmonie arbeiten, dann ist der Mensch gesund, wenn nicht, wenn da eines das andere ein bisschen übertrumpft, dann ist er krank. Diese Weisheit wurde von Allah, von Gott in den Menschen hineingegeben, denn wir haben den Menschen ja nicht gemacht. Wenn wir aber den Menschen studieren, dann können wir von dieser Weisheit lernen. Und so ist die Gliederung des menschlichen Organismus die Inspirationsquelle für die Dreigliederung im Sozialen, für die Idee, dass Wirtschaftsleben, Rechtsleben und Geistesleben in einer Balance stehen müssen, wenn die Gesellschaft gesund bleiben soll. Die soziale Dreigliederung ist also eine Methode, eine Heilmethode für die Gesellschaft. Als ich die soziale Dreigliederung kennengelernt habe, da wollte ich sofort alle Könige und Präsidenten anschreiben, damit die das anwenden. Aber das geht ja nicht.

Allmorgendliche Mitarbeiterversammlung

Johannes Mosmann: Wieso geht das nicht?

Ibrahim Abouleish: Die hätten vorher schon eine Vision von dem Menschen und der Erde haben müssen. Sie müssten eine Freude daran haben, dass sich etwas entwickelt. Wenn man aber Entwicklung will, dann erreicht man das durch die soziale Dreigliederung. Man sieht es immer wieder: Wer den Weg der sozialen Dreigliederung nicht kennt, der sucht im Dunkeln. Deshalb versuche ich, anderen Menschen diesen Weg zu zeigen.

Johannes Mosmann: Was konnten Sie denn bei Sekem von der Dreigliederung umsetzen?

Ibrahim Abouleish: Alles!

Der Wirtschaftsbereich

Johannes Mosmann: Alles? Wie ist es denn z.B. mit dem Wirtschaftsbereich. Der müsste dann ja von Zusammenschlüssen aus Produzenten, Händlern und Konsumenten, von sogenannten Assoziationen verwaltet werden. Inwiefern finden sich bei Sekem assoziative Strukturen?

Ibrahim Abouleish: Wir haben eine Assoziation von den Bauern bis zu den Konsumenten. Sie haben es ja gesagt, mit unseren drei Farmen sind 800 weitere Bauern verbunden. Deren Farmen gehören uns nicht, die sind nur mit uns assoziiert. Es gibt keine Beteiligungen an Land oder an Unternehmen, sondern nur ein gegenseitiges Vertrauens- und Vertragsverhältnis. Jeder verpflichtet sich, dem anderen zu einem festgesetzten Zeitpunkt ein Produkt zu liefern, und jeder verpflichtet sich, dem anderen Geld zu geben, und zwar unabhängig von den Marktpreisen. Die Bauern kommen zu uns, weil sie an uns zertifizierte Produkte teilweise weit über dem Marktpreis verkaufen können. Und auch, weil jeder innerhalb der Assoziation weiß, was der andere verdient. Es ist alles transparent. Jeder kann an der Ware zu jedem Zeitpunkt erkennen, welche Prozesse hinter ihr liegen, woher sie kommt, wohin sie geht und auf wen welche Anteile am Preis fallen. Das ist die assoziative Struktur von Sekem, ohne die würde es Sekem nicht geben.

Johannes Mosmann: Und der Konsument, ist das für ihn auch transparent?

Ibrahim Abouleish: Auch der Konsument kann das sehen, selbst in Europa. Auf unseren Obst- und Gemüsekisten befindet sich ein Code[4], anhand dessen er die Supply Chain nachvollziehen kann. Das Transparenz-Problem können wir dadurch lösen. Wir haben ein System entwickelt, damit jeder an der Ware erkennt, woher das Produkt kommt! Nur das wollte man auf der Konferenz der United Nations Industrial Development Organisation von uns wissen: Wie habt ihr das geschafft, das transparent zu machen?

Johannes Mosmann: Gilt das wirklich auch für den Endpreis? Erfährt der Konsument in Europa, auf wen welcher Anteil des Preises fällt, den er bezahlt?

Ibrahim Abouleish: Nun, er kann das verfolgen, er sieht, wer welche Vorteile hat in der Kette und wer welche Leistungen erbringt. Darum geht es ja. Das ist der Weg, auf dem Afrikaner oder Asiaten ihre Produkte in Europa absetzen können. Wenn die Transparenz nicht da ist, interessiert das keinen auf tiefere Weise. Das ist eine unserer Stärken. Jeder hat uns für verrückt gehalten, als wir damit angefangen haben.

Die Wüste lebt

Johannes Mosmann: Das Geheimnis ist das Wissen um die Herkunft der Ware, dass man ehrlich ist zueinander, dass der Käufer in Europa in eine Beziehung zu dem Menschen kommt, der die Ware für ihn hergestellt hat.

Ibrahim Abouleish: Genau das ist es. Er kann ihn sogar besuchen[5]. Das ist der assoziative Gedanke. Die Farmen gehören uns nicht, sondern sind mit uns assoziiert. Das ist unser Kapital.

Johannes Mosmann: Über 90% der Sekem Produkte sind Demeter Produkte, das heißt, sie werden nach einem von Rudolf Steiner entwickelten Verfahren angebaut. Bei Kaisers oder Real wird das Demeter-Gemüse von Sekem aber als ganz normales Bio geführt. Wie kommt das?

Ibrahim Abouleish: Der Kunde will zuerst einmal Bio, und das ist schon mal das Wichtigste. Was jetzt das besondere an der biologisch-dynamischen Verfahrensweise ist, das können wir nicht immer kommunizieren. Aber das ist uns völlig egal. Das ist erst eine spätere Phase, in der wir Verständnis dafür bekommen können, was da noch drinnen ist in unseren Bio-Produkten.

Johannes Mosmann: Kürzlich habe ich Urlaub auf einem Demeter-Bauernhof gemacht. Der Bauer erzählte mir, dass er zwei Drittel seines Gemüses nicht unter dem Label Demeter verkaufen kann, und deshalb an die Supermarktkette Edeka verkauft, die es dann als normales Bio und daher entsprechend billig anbietet. Macht der Demeter Bund was falsch?

Ibrahim Abouleish: Wir haben viele Kunden. Der eine will Demeter, das bekommt er. Der andere will Bio. Das bekommt er. Wir können selber aber nur Demeter produzieren. Demeter zertifiziert nur, und bekommt dafür seinen Anteil. Die sind aber keine Händler.

Die Eigentumsfrage

Johannes Mosmann: Rudolf Steiner wollte das Eigentum so umgestalten, dass es keinen Eigentümer der Produktionsmittel mehr gibt, der »Arbeitgeber« sein oder das Produktionsmittel verkaufen könnte. Vielmehr sollte das Eigentum umgekehrt erst durch die Arbeit an dem Produktionsmittel definiert werden. Die Arbeiter, zu denen natürlich auch der Arbeitsleiter gehört, sollten ihr Einkommen dann auf dieser Grundlage einer Gleichberechtigung untereinander aushandeln[6]. Wie ist das bei Sekem?

Ibrahim Abouleish: Diese Frage stellen Sie mir bitte nicht. Das ist etwas, das zu früh für die Menschheit ist. Das hängt auch von dem Bewusstsein der Mitarbeiter ab.

Johannes Mosmann: Dann frage ich anders: Wie weit können Sie in diese Richtung gehen?

Ibrahim Abouleish: Provozierend würde ich sagen: Wir besitzen das Kapital. Das ist noch zu früh, was Sie da wollen. Sie haben es ja eben im Vortrag gehört, GLS Bank und Triodos Bank sind bei uns mit jeweils 9% eingestiegen. Langsam geht das Kapital über in deren Hände.

Johannes Mosmann: Widerspricht das nicht der sozialen Dreigliederung, wenn einer Eigentümer ist, der nicht selbst mitarbeitet, wenn also ein an der Arbeit ganz unbeteiligter Mensch Geld aus dem Unternehmen herausbekommen kann?

Ibrahim Abouleish: Aber die GLS-Bank ist doch nicht irgendjemand! Das sind Menschen, die dieselbe Gesinnung haben. Die wissen, man darf die menschliche Arbeitskraft nicht kapitalisieren, die wissen, der Gewinn muss immer wieder zurückgehen.

Johannes Mosmann: Ich sehe das anders. Es geht darum, ob der Geldempfänger mitarbeitet, ob da eine reale Leistung dahintersteht, und nicht darum, ob er Gesinnungsgenosse ist. Ich halte die Eigentumsfrage deshalb für eine der Kernfragen.

Ibrahim Abouleish: Da machen Sie einen Fehler. Wenn Rudolf Steiner so etwas sagt, dann gibt er uns Ziele, die näher oder ferner liegen, je nachdem, wie wir an sie herankommen. Das muss man doch praktisch sehen. Ich wollte mein ganzes Eigentum an eine Stiftung geben, das hat aber nicht geklappt.

Johannes Mosmann: Das ist Schade. Es gibt in Deutschland Initiativen, die Wege gefunden haben, wie sich das Eigentum so umgestalten lässt, dass es nicht mehr gehandelt werden kann, z.B. das Mietshäuser Syndikat oder die Stiftung trias.

Ibrahim Abouleish: Sehr interessant. Aber das ist jetzt nicht mehr Wirtschaftsleben.

Kulturleben

Johannes Mosmann: Stimmt, das ist Rechtsleben. Vielleicht darf ich Sie dann zum Schluss noch etwas zum Kulturleben fragen. Es gibt bei Sekem auch eine Universität, die »Heliopolis« Universität. Wie ist das Verhältnis zwischen Universität und Holding?

Ibrahim Abouleish: Die Universität ist frei. Die Überschüsse aus der Holding fließen in die Universität, aber die Uni- versität gehört der Holding nicht. Träger ist ein selbständiger Verein.

Johannes Mosmann: Ihr Sohn, Helmy Abouleish, der ja mittlerweile Finanzchef und Vorsitzender der Sekem Holding ist, hat in einem Interview gesagt: »Wissen ist unser Konkurrenzvorteil.« Das klingt wie die übliche Denkweise, gemäß der jeder sein Wissen für sich behält, um eben einen Konkurrenzvorteil zu haben. Wie geht Sekem mit ihrem Wissen um, ist das etwas, worum Sekem ein Geheimnis macht, ist das Privatbesitz von Sekem?

Ibrahim Abouleish: Unser Wissen kann jeder haben, und unser Wissen wird sofort umgesetzt. Darum geht es ja. Wir wollen den Menschen Werkzeuge geben, um aus der Armut herauszufinden. Etwas, das nur in irgendwelchen Archiven abgelegt wird, das ist gar kein Wissen.

Heliopolis-Universität

Johannes Mosmann: Es ist Ihnen gelungen, die ägyptische Regierung von der Effektivität der Biodynamischen Landwirtschaft zu überzeugen, so dass die Regierung landesweit die Ausbringung von Pestiziden verboten hat. Die Pestizid-Hersteller fühlten sich deshalb von Ihrem Wissen so bedroht, dass sie mit Hetzartikeln die Bevölkerung gegen Sie aufzubringen versuchten. In Ihrem Buch Die Sekem-Vision[7] erzählen Sie, wie dann die muslimischen Führer, die Imame, zu Ihnen kommen, und Sie zur Rede stellen wollen, weil sie aufgrund jener Hetzartikel einen Sonnenanbeter in Ihnen sehen. Sie sprechen dann mit den erzürnten Menschen, aber sie sprechen so, dass diese in der Art, wie Sie die Dinge aus der Perspektive Ihrer Wissenschaft betrachten, den Islam wieder erkennen. Sie beschreiben die Naturvorgänge aus anthroposophischer Sicht, und die Muslime finden sich darin wieder. Das hat mich sehr berührt, wie das zusammengeht, und ich hatte das Gefühl, dass Sie das nicht gekünstelt haben, um aus der heiklen Situation herauszukommen, sondern dass Sie das tatsächlich so erleben.

Ibrahim Abouleish: Weil Sie offenbar ein Schüler der Anthroposophie sind, können Sie die Wahrheit von mir erfahren. In der Anthroposophie haben Sie so etwas wie eine Taschenlampe, mit der Sie in dunkle Ecken leuchten können. Auch die Anthroposophie als Ganze ist nur eine Methode, um zu erfahren, wie Rudolf Steiner in Gebiete hineingeleuchtet hat, die keiner von uns je gesehen hat. Und wenn man anthroposophisch geschult ist, wenn man gewisse Übungen gemacht hat, dann kann man auch die verborgenen Weisheiten des Islam erkennen. Wenn nicht, dann geht man an ihnen vorüber, liest darüber hinweg. Die Anthroposophie ist ein Erkenntniswerkzeug. Erkenntnis der jeweils anderen Kultur ist aber die Vorraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Kulturen.

Johannes Mosmann: Wie haben Sie damals die erste Begegnung mit diesen merkwürdigen Mitteleuropäern, den Anthroposophen, erlebt?

Ibrahim Abouleish: Ich bin dem Geist begegnet. Durch Martha Werth und der Arbeit an der Philosophie der Freiheit. Die Philosophie der Freiheit[8] war für mich eine Art Einweihungsbuch. Das habe ich in meinem Buch ja beschrieben. Die Anthroposophen, die liebe ich. Ohne die gäbe es so vieles in Europa und in der Welt nicht. Was die in der Erziehung, in der Landwirtschaft, Medizin, Kunst und in so vielen anderen Bereichen des Lebens machen, das ist doch genial.

Anmerkungen

  • [1] www.world-in-balance.de
  • [2] Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage (1919), Sozialwissenschaftliche Ausgabe (SWA), Berlin 2002, www.dreigliederung.de/download/800.pdf
  • [3] www.sekem.com
  • [4] Eine genauere Beschreibung dieses Versuchs von Sekem, eine Preistransparenz zu gewährleisten, und ein Vergleich mit anderen Versuchen in Deutschland wird Sylvain Coiplet vom Institut für soziale Dreigliederung in einer der kommenden Ausgaben von die Drei veröffentlichen.
  • [5] Reisen zu SEKEM über: www.sekem-reisen.de oder www.demeterreisen.de
  • [6] Quellen dazu unter www.dreigliederung.de/eigentum/
  • [7] Ibrahim Abouleish: Die Sekem-Vision: Eine Begegnung von Orient und Okzident verändert Ägypten, Stuttgart 2004.
  • [8] Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit (1894, 1918; GA 4), Dornach 2005.

Weiterführende Links


Erschienen in die Drei, Zeitschrift für Anthroposophie in Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben, Ausgabe 11/2009.