Das Soziale Hauptgesetz
Der Altruismus als soziale Gestaltungskraft

01.03.2008

Heilsam ist nur wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft, und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft.
Rudolf Steiner

«Ein moralisch-hochstehendes, aber zu idealistisches und damit wirklichkeitsfernes Wunschbild» - so lautet nicht selten das Urteil von «Praktikern» über das Soziale Hauptgesetz. Im Gegensatz dazu möchte der folgende Beitrag gerade auf das Lebenspraktische dieses «Gesetzes» hinweisen, vorausgesetzt man will durch die gegenwärtigen Erscheinungen und die sich an der Oberfläche des sozialen Lebens zeigenden Verhaltensweisen hindurch unbefangen auf den geistigen Wesenskern des Menschen und seine Entwicklungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten als eine Wirklichkeit im umfassenderen Sinne schauen. Lebenspraktisch heißt dann, dessen Keimeskräfte zu erforschen und auf ihre Wachstums-und Entfaltungsbedingungen hinzuarbeiten.

Individuelle Mündigkeit und gesellschaftliche Bevormundung

Die Verankerung der allgemeinen Menschenrechte in den meisten Verfassungen unserer Erde kann mit Recht als große Errungenschaft der modernen Menschheit gelten. Und der Kampf um ihre noch längst nicht überall selbstverständliche Anwendung in der Lebenspraxis verlangt weitere Anstrengungen. In diesen allgemeinen Menschenrechten kommt zum Ausdruck, daß der moderne Mensch reif wird, sich Richtung und Ziel seines Lebens selbst geben zu können. Das war in früheren Zeiten nicht so. Je weiter wir zurückgehen, umso mehr zeigt sich das Individuelle noch ganz eingehüllt in blutsmäßig verbundene Menschengruppierungen. Richtung und Ziel des Einzelnen waren von der Religion bis zur wirtschaftlichen Betätigung durch die jeweilige Gemeinschaft geregelt. Diese wiederum war inspiriert durch höhere Mächte, die sich in durch besondere Schulung vorbereiteten oder in auserwählten Blutsbanden lebenden Menschen offenbarten. Die den Einzelnen noch einhüllende Wirkung alter Kulturgemeinschaften führte zu der eindrucksvollen Geschlossenheit aller Lebensbereiche, die uns noch heute staunend berührt. Frühere Menschen haben dies nicht als Einengung ihrer Persönlichkeit empfunden, so wenig, wie ein Kind sein geregeltes Lebensumfeld als Unfreiheit empfindet, ja dieses von außen Geregeltsein für seine Entwicklung solange braucht, bis es «mündig» genug ist, sich diese Regeln selbst zu geben.

So wenig man nun zu einer richtigen Anschauung früherer Verhältnisse kommt, wenn man mit dem gegenwärtigen Mündigkeitsbewußtsein in die Vergangenheit zurückgeht, so wenig findet man eine zeitgemäße Gestaltung des sozialen Lebens, wenn man den Einheitsgedanken alter Gemeinschaften in die Zukunft tragen will. Das Mündigwerden aller Menschen bedeutet eine vollständige Umstülpung des Verhältnisses von Individualität und Gemeinschaft. Mit der Mündigkeitserklärung kommt das Streben nach freier Selbständigkeit zu einem gewissen Abschluß. Jetzt gilt es, die errungene Freiheit zum Quellpunkt des individuellen wie auch des gesellschaftlichen Lebens zu machen.

Zunächst vereinzelt, seit dem Ersten Weltkrieg aber mit epidemischer Rasanz wurden alle gesellschaftlichen Einrichtungen der demokratischen Legitimation mündiger Bürger überantwortet und damit diejenigen entmachtet, die sich bisher zur Führung der Menschen durch übermenschliche Beauftragung, «von Gottes Gnaden», berufen fühlten. Die neue Entscheidungsinstanz ist die demokratische Mehrheit. Diese führt in jedem Lebensbereich, den sie ergreift, zur künstlichen Vereinheitlichung: Die Gleichheit im Mündigsein wird zur Gleichheit von Meinungen und Absichten. Der vom mündigen Bürger und für den mündigen Bürger geschaffene Rechtsstaat entwickelt sich selbsttätig im Namen der Mehrheit zum Unterdrücker der Minderheiten, deren extremste, aber natürlichste Ausbildung der Einzelne, die Individualität selber, ist. Dieser Widerspruch eines modernen Gesellschaftswesens auf demokratischer Grundlage läßt sich nur lösen, wenn sich das zur Vereinheitlichung neigende Gemeinwesen aus allen Lebensbereichen zurückzieht, in denen bewußte und verantwortungsvolle, initiative Menschen selbst lebensfähige Einrichtungen schaffen können und wollen.

Was die einzelnen zu einer modernen Gemeinschaft verbindet ist nicht mehr inhaltlicher Art, sondern zeigt sich in der Vielfalt der Entfaltungsmöglichkeiten individuellen Wirkens. Sucht man auch nach dem Mündigwerden aller Menschen noch eine inhaltliche Einheit des Gemeinwesens mit Hilfe demokratischer Institutionen durchzusetzen, so werden die alten Herrscherthrone aus der Zeit der Nichtmündigkeit restauriert und «von Volkes Gnaden» durch Herrscher in bürgerlichen Kleidern besetzt, denen die Tatsache der Mehrheit das stärkste und jede Handlung rechtfertigende Argument ist. Und je mehr diese, auf Mehrheitslegitimation gestützt, ihre eigenen Meinungen und Absichten zur Geltung bringen, um so mehr machen sie aus den allgemeinen Menschenrechten ihre besonderen. Der Einwand, daß eben viele Menschen ihre Freiheit noch gar nicht verantwortungsvoll zu nutzen verständen und deshalb gemeinschaftliche Regelungen ihnen als Stütze dienen müßten, darf in keinem Falle als Begründung zur Verhinderung von Einzelinitiativen dienen. Nach der einen Seite hin muß also das demokratische Gemeinwesen, will es die Mündigkeit aller Bürger in soziale Wirklichkeit verwandeln, Freiraum für das sich selbst verwaltende Ausleben individuell-geistiger Lebensimpulse aus sich heraussetzen. Neben die Gleichheit tritt die Freiheit. Dies gilt zunächst auch für die andere Seite des Gemeinwesens, das Wirtschaftsleben, denn Fähigkeiten und Bedürfnisse sind beides Wesensäußerungen individueller Art. Zu welchen gewaltigen Produktivitätsentwicklungen die Freisetzung des individuellen Potentials im Rahmen der Arbeitsteilung geführt hat, beweist der Augenschein unseres Wohlstands.

Sowohl Freiheit für Fähigkeiten und Bedürfnisse, als auch aus der Rechtsgleichheit fließende Regelungen z. B. der Arbeitsbedingungen reichen jedoch als Grundlage eines modernen Wirtschaftslebens nicht aus. Zum einen ist es die Arbeitsteilung selbst, die entsprechend der vollzogenen Teilungen Zusammenarbeit verlangt. Da als weitere Konsequenz der Arbeitsteilung meine Leistungen gar nicht mehr für meine Bedürfnisse bestimmt sind, meine Leistungen sich also erst über Verkauf und Kauf mit denen anderer tauschen müssen, entsteht zusätzlich die Frage nach einem gerechten Preis und damit nach der sozial-gerechten Verteilung der Früchte der Zusammenarbeit. Der demokratische Staat gerät auf diesem Feld ebenfalls in einen Widerspruch. Läßt er dem Freiheitsimpuls des Einzelnen in Form unbeschränkt sich auslebender Egoität freien Lauf, dann besteht die Tendenz, daß dieser selbstverständlich für seine Bedürfnisse möglichst viel für das in Anspruch nimmt, was seine Fähigkeiten geschaffen haben. Da er diese Früchte seiner Arbeit von anderen einfordern muß, schlägt die Freiheit des Einzelnen vom Standpunkt des Sozialen aus in Anspruchs-Egoismus um und zerstört die Grundlagen der Zusammenarbeit. Will aber der Staat aus Gleichheitsgründen das Wohl aller von vornherein vor Schäden bewahren, so müßten demokratisch die individuellen Rechte erheblich beschnitten und damit auf wirtschaftlichem Gebiet ein Entmündigungsprozeß betrieben werden. Die Diskussion nun, ob das Wirtschaftsleben das Wirkensfeld individueller Egoität sein darf oder von der Gesellschaft her kollektiv geregelt werden muß, beherrscht die Wirtschaftswissenschaft seit ihrem Bestehen.

Beide Fragen, diejenige nach der Form der Zusammenarbeit und diejenige der gerechten Verteilung der Leistungen, gehören innerlich so zusammen, wie Fähigkeiten und Bedürfnisse zwei Seiten eines Wesens sind. Der angedeutete Konflikt läßt sich nur lösen, wenn im Wirtschaftsleben ein Individualverhalten bis in die Gestaltung der sozialen Einrichtungen Platz greift, das sich am Wohl der Gesamtheit der Menschen und damit auch am Zustandekommen sozialer Gerechtigkeit orientiert. Man kann ein solches Verhalten Brüderlichkeit nennen. Brüderlichkeit ist die Ergänzung der rechtlichen Gleichheit auf dem Feld des Wirtschaftslebens. Sie ist wie die Freiheit ebenfalls eine Konsequenz des Mündigkeitsverhaltens und ihre praktische Ausgestaltung ist notwendig, wenn sich die Würde des Menschen auch in der sozialen Wirklichkeit behaupten soll. Das Soziale Hauptgesetz beschreibt brüderliches Verhalten und seine Konsequenzen für die so miteinander verbundenen Menschen. Dem steht das Dogma vom Egoismus entgegen.

Der Egoismus - eine Naturkonstante?

Das Wirtschaftsleben ist das Ergebnis bewußter und gewollter menschlicher Arbeit und damit von allem Anfang an ein Stück menschlicher Kultur. Zwar werden die Stoffe und Kräfte der Natur zur Produktion von Gütern und Leistungen benutzt, Antriebe und Motive menschlicher Arbeit und des wirtschaftlich-sozialen Verhaltens dagegen entstammen dem menschlichen Seelenleben. Damit ragt die Wirtschaftswissenschaft einerseits in den Bereich der Naturwissenschaft und andererseits in denjenigen der Wissenschaften vom Menschen. Um eine möglichst exakte Wissenschaft zu werden, hat sie schon früh nach berechenbaren Zusammenhängen im menschlichen Beziehungsgefüge, d. h. nach «Naturgesetzen» des sozialen Lebens, gesucht.

Wonach richtet sich der Mensch im Wirtschaftsleben? In einer Zeit der zur Eigenständigkeit erwachenden, gleichzeitig jedoch auch von alten geistigen Impulsen abgeschnittenen und sich fortlaufend weiter abschneidenden Individualität, lautete die Antwort: «Nach sich selbst». Vom Hintergrund des naturwissenschaftlich-materialistischen Menschenbildes aus interpretiert, bezeugt sich darin der Selbsterhaltungs- und Selbstbehauptungstrieb des Menschen, der ihn im Daseinskampf überleben läßt: Dieser Überlebenstrieb ist der Stärkste aller Triebe, der eigene Vorteil das ihm entsprechende und damit auch stärkste Motiv.

Mit der Ansicht vom «Homo oeconomicus», dem Menschen, der innerlich zwangshaft jeden Vorteil sucht und für sich wahrnimmt, glaubt man einen unumstößlichen Fixpunkt innerhalb der menschlichen Wesenheit gefunden zu haben, der als naturhafte Konstante den Seelen aller Menschen gemeinsam ist und sich damit der statistischen Berechenbarkeit so erschließt, wie das Naturphänomene auch tun. «Daß die statistischen Gesetze der Wirtschaft letzten Endes auf menschlichen Anlagen und Handlungen beruhen, ändert nichts an diesem ihrem Charakter (eines Naturgesetzes, d. Verf.). Ihre Geltung bleibt unerschüttert, solange die für das Wirtschaftsgeschehen maßgebende Haltung des Menschen sich nicht ändert. Diese Haltung ist der Selbsterhaltungstrieb (Egoismus), d. h. der wirtschaftliche Existenzkampf und das Streben nach wirtschaftlichem Vorteil mit allen erlaubten Mitteln, der unnachgiebige Wille, eine Sache, von der man selbst nicht den geringsten Nutzen hat (durch die Arbeitsteilung, d. Verf.), die aber der andere aus irgendwelchen Gründen heftig begehrt, ihm nicht etwa umsonst zu überlassen, sondern nur gegen den höchstmöglichen Kaufpreis, der sich herausschlagen läßt.» [1] Für andere zu arbeiten und mit ihnen zu teilen, wäre danach schon im Ansatz eine Verwässerung des Selbsterhaltungstriebes: «Wer mit einem Genossen arbeitet, ist schon weniger ausdauernd als derjenige, der die Frucht der Arbeit allein genießt. Sind es 10-100-1000 Genossen, so kann man den Arbeitstrieb auch durch 10-100-1000 teilen; soll sich gar die ganze Menschheit in das Ergebnis teilen, dann sagt sich jeder: auf meine Arbeit kommt es überhaupt nicht mehr an, sie ist, was ein Tropfen für das Meer ist. Dann geht die Arbeit nicht mehr triebmäßig vonstatten; äußerer Zwang wird nötig. [2] Und ein anderer Autor sagt: «Der Eigennutz soll in der Hauptsache den Antrieb zur Arbeit geben. Darum muß alles, was diesem Antrieb mehr Kraft und Bewegungsfreiheit geben kann, unterstützt werden ... Das ist der Grundsatz, von dem man ausgehen und den man mit unerschütterlicher Folgerichtigkeit anwenden muß, unter Verachtung kurzsichtiger philantropischer Entrüstung und der kirchlichen Verdammnis.» [3]

Der Mensch war, ist und bleibt vermutlich auch für alle Zukunft ein Egoist - das ganze Gebäude heutiger Wirtschaftswissenschaft ruht letztlich auf diesem nicht ökonomischen, sondern weltanschaulichen Axiom vom Wesen des Menschen. Soweit sich ein solches Urteil auf die Beobachtung menschlichen Verhaltens stützt, ist ja nicht abzuleugnen, daß der Egoismus gegenwärtig ein alles überwucherndes Motiv wirtschaftlicher Betätigung darstellt. Nun ist aber die Entwicklung der Mündigkeit untrennbar verbunden mit derjenigen der menschlichen Vernunft: Freies Handeln und Verantwortlichkeit sind ohne denkendes Bewußtsein nicht vorstellbar. Und nur von diesem könnte das triebhaft veranlagte Motiv des Egoismus durch andere Motive ersetzt werden. Dann müßte aber im menschlichen Denken eine Kraft zur Wesensverwandlung und zur sozialen Umgestaltung liegen.

Egoismus und Arbeitsteilung

Treibende Kraft hinter dem Egoismus sind unsere Bedürfnisse, von denen ein großer Teil sogar so eng mit unserer Leiblichkeit verbunden ist, daß deren Nichtbefriedigung unsere leibliche Existenz in Frage stellen würde. An sie sind wir gefesselt, solange wir eine Leiblichkeit brauchen und daher auch erhalten müssen. Eine andere Frage aber ist, ob uns dieser Egoismus der Leiblichkeit zwingt, uns auch in der Menschengemeinschaft, dem sozialen Umfeld, egoistisch zu verhalten.

Solange übergeordnete Gemeinschaftsimpulse dem Einzelnen seinen Lebensplatz zuwiesen und seiner Seele einen geistigen Standort gaben, war der Egoismus für das soziale Gefüge verkraftbar, ja er wirkte sogar tendenziell in die Richtung der Weltentwicklung im Hinblick auf die Absonderung zur Selbständigkeit. Seit aber diese Selbständigkeit errungen wurde und damit das Wohl und Wehe der Gemeinschaft vom Verhalten des Einzelnen abhängt, kann der Egoismus die Rolle einer sozialen Bildekraft seinem Wesen nach gar nicht mehr spielen. An diesem Punkt setzt nun eine der großartigsten sozialen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte ein, die Arbeitsteilung, in der der Einzelne nicht mehr für sich, sondern für die anderen, die man zusammengefaßt als der «Markt» bezeichnet, arbeitet. Seine Produktion dient ihm nur noch mittelbar zur Bedürfnisbefriedigung, indem er sich im Verkauf die zum Kauf notwendigen Geldmittel verschafft. Je weiter dieser Prozeß fortschreitet, um so stärker kommt das in ihm veranlagte Prinzip zum Vorschein: Alles, was ich produziere, ist für andere Menschen bestimmt; alles, was ich brauche, haben andere für mich hergestellt. Auf der Leistungsebene ist dieses Prinzip heute weitgehend realisiert. Die Arbeitsteilung zwingt in ihrer sozialen Urgebärde zur Hingabe der Leistung an andere Menschen. Diese hingebende Gebärde nennt man altruistisch, selbstlos, im Gegensatz zur an sich raffenden Gebärde des Egoismus. Die Arbeitsteilung erweist sich damit als soziale Einrichtung, eine «Schule zur Selbstlosigkeit». Der Einzelne kann gar nicht anders, als für die Gesamtheit arbeiten: «Nicht ein Gott, nicht ein sittliches Gesetz, nicht ein Instinkt fordert im modernen wirtschaftlichen Leben den Altruismus im Arbeiten, im Erzeugen der Güter, sondern einfach die moderne Arbeitsteilung. Also eine ganz volkswirtschaftliche Kategorie fordert das.» [4]

Durch die Arbeitsteilung allein wird aus dem Egoisten noch kein Altruist. Da der Egoismus im Wirtschaftsleben auf der Produktebene in der beschriebenen Weise stark gefesselt erscheint (auch wenn er viele Wege sucht, doch immer wieder an sein Ziel zu kommen), konzentriert er sich nämlich heute auf den Moment des Leistungstausches, der sich ja notwendigerweise vollziehen muß. In Verkauf und Kauf kann der Egoist nach wie vor sein Glück versuchen, aus der Bedürfnislage des anderen den bestmöglichen Preis herauszuschlagen und damit das Austauschverhältnis menschlicher Leistungen zu seinen Gunsten zu verschieben. Nicht mehr im Produkt, sondern im Preis und Lohn lebt sich der Egoismus gegenwärtig aus. Dort müssen wir ihn als nächstes aufspüren.

Das «wirtschaftliche Prinzip» - Produktivitätsentfaltung und Kontraproduktivität

«Mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag erreichen» - dieses Prinzip wird oft zum Credo des «homo oeconomicus» erhoben, mit Hilfe dessen er das Optimum seiner Vorteilsbestrebungen erreichen will und kann. Bei diesem Prinzip nun kommt es genau darauf an, in welchem Lebensbereich es gelten soll. Bezieht man es auf die Güter- und Leistungserzeugung, so zeigt sich sofort seine Fruchtbarkeit. Denn konsequent angewandt, führt es zu folgenden Effekten:

  1. Es bewirkt den sparsamsten Umgang mit Material, Kapital und menschlicher Arbeit;
  2. durch die Verbesserung der Beziehung Einsatz zu Ergebnis verbessert es die Produktivität und schafft damit Möglichkeiten weiterer Produktion;
  3. es steigert die Versorgungsmöglichkeiten der Gemeinschaft;
  4. die Produktivitätserhöhung kann aber auch als Produktverbilligung, Kapitalbildung oder Arbeitszeitverkürzung verwendet werden.

Hervorgerufen werden diese Folgen durch die Wirksamkeit des menschlichen Geistes, der mit Rationalität und Phantasie in bestehende Arbeitsverhältnisse verändernd und damit verbessernd eingreifen kann. Damit erweist sich das wirtschaftliche Prinzip geradezu als Ausdruck für die Produktivitätskraft unseres Geistes, wenn er sich dem Wirtschaftsleben zuwendet. Es ist das «Produktivitätsprinzip des Geistes».

Der aus dieser Quelle fließende Leistungsstrom kommt dann am besten der Gesamtheit zusammenarbeitender Menschen zugute, wenn der einzelne das wirtschaftliche Prinzip so gegen sich anwendet, daß er den Aufwand auf sich selbst, den Ertrag aber auf die Gemeinschaft bezieht. Das geschieht im Sozialen Hauptgesetz, das sich damit als in das Soziale gewendete Metamorphose des wirtschaftlichen Prinzips zeigt.

Ein völlig anderes Bild aber ergibt sich, wenn auch der Ertrag beim Produzierenden maximiert werden soll. Denn dann bedeutet das wirtschaftliche Prinzip, daß das Bestreben des Einzelnen darauf abzielt, für möglichst wenig eigene Leistung möglichst viele Leistungen anderer einzutauschen. Was sich im produktionstechnischen Sinne leistungssteigernd auswirkte und damit zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse beitrug, erweist sich nun als tendenziellleistungsmindernd: Je weniger ich hergebe oder je höher die Differenz zwischen eigenem Aufwand und Erträgnis ist, um so größer mein Wohl. Ein Ideal solchen Verhaltens wäre das Nichtstun bei gleichzeitig unbeschränkter Versorgung durch die anderen, eine Art Schlaraffenland. Der eigene Vorteil entsteht dabei durch die Veränderung der Austauschverhältnisse der Leistungen (Preise) zu meinen Gunsten. Dies durchzusetzen, verlangt Ausübung von Macht («Marktmacht»), die anzustreben der Egoismus zwingt. Gelingt die Durchsetzung, so geht mit dem egoistischen Aufstieg des Eigenwohls ein Abstieg des Gesamtwohls einher.

Im sozialen Umfeld der Arbeitsteilung wirkt das so angewandte wirtschaftliche Prinzip deshalb kontraproduktiv. Diese Wirkung ist allgemein bekannt und tritt immer ins Bewußtsein, wenn es um das Verhalten innerhalb einer Gemeinschaft geht. Die Betriebswirtschaft z. B. ist heute ganz am wirtschaftlichen Prinzip ausgerichtet: möglichst billig herstellen, möglichst teuer verkaufen. Wendet aber der einzelne Mitarbeiter eines Unternehmens dieses Prinzip für sich an, versucht er also, sich mit einem Minimum an Einsatz das Gehalt zu verdienen, so erhebt sich großer Protest mit Hinweis auf die Schädigung des Unternehmens als Ganzem, und ihm droht die Kündigung als Ausschluß aus der sozialen Gemeinschaft. Ähnliches gilt bis hinauf in die Weltwirtschaft, wo ja ebenfalls die permanente Verschlechterung der Austauschverhältnisse zu Lasten der Entwicklungsländer beklagt wird. Das wirtschaftliche bedeutet demnach, auf soziale Zusammenhänge egoistisch angewandt, die Verarmung der Gesamtheit infolge der Bereicherung einzelner Mitglieder dieser Gesamtheit. Damit koppelt sich der einzelne von dieser Gemeinschaft ab. Sie ist ihm nur Mittel zum Zweck, sie bedeutet ihm nichts. In Anlehnung an die Darstellung des wirtschaftlichen Prinzips als Produktivitätsprinzip des hervorbringenden Geistes können wir jetzt seine Auswirkungen auf die soziale Gemeinschaft zusammenfassen:

  1. Die eigene Leistung wird so weit als möglich gemindert;
  2. die wirtschaftliche Produktivitätssteigerung, die sich für den Einzelnen als Differenzrechnung zwischen Leistungsminderung und Erträgnissteigerung zeigt, erweist sich volkswirtschaftlich als Scheinverbesserung, denn ihr entspricht eine gegenläufige Produktivitätssenkung der Vertragspartner;
  3. es werden soviel als möglich Leistungen der anderen beansprucht;
  4. die eigene Leistung verteuert sich für die anderen. Die eigene soziale Bedeutung erscheint aufgeblasen, denn sie beruht auf Macht;
  5. durch Leistungsentzug und -verweigerung werden dem sozialen Organismus die Produktivitätskräfte des einzelnen entzogen; die Gesamtheit erleidet Schaden;
  6. da das Ich des Menschen sich in der Entfaltung seiner schöpferischen Kräfte selbst gestaltet, bedeutet das Verkümmern dieser Kräfte eine Schwächung der eigenen Individualität; («...daß die Idee der Leistung, im weitesten Sinne begriffen, von der Idee des Menschen nicht zu lösen ist.» So schreibt Prof. Sontheimer in einem Aufsatz «Zwischen Leistungsglück und Leistungsdruck»); der Mensch fällt zurück in den Bereich des Egoistisch-Gattungshaften;
  7. das soziale Verhalten nach dem wirtschaftlichen Prinzip führt zur sozialen Desintegration; der einzelne sondert sich selbst aus der sozialen Gemeinschaft aus, auch wenn er mitten unter ihr lebt.

So segensreich sich das wirtschaftliche Prinzip im Schaffensprozeß auswirkt, so zerstörend macht es sich im sozialen Prozeß geltend, sobald nicht das Heil der Gesamtheit, sondern der Eigennutz Ziel der eigenen Anstrengungen ist.

Egoistische Bewußtseinsgrenzen und soziale Bewußtseinserweiterung

Im Handeln aus Egoismus wird das Heil der Gesamtheit dem Eigenwohl untergeordnet. Der Einzugsbereich des Egoismus wird damit zur dauerhaften und zu übersteigen nicht erlaubten Bewußtseinsgrenze des einzelnen gegenüber der Gesamtheit. Der Egoismus führt so zu einer Sozialstruktur, die wiederum nur den Egoismus zuläßt.

Wie aber kann es in einer Gemeinschaft von unter der Diktatur des Egoismus stehenden Menschen dazu kommen, daß gemäß der verfaßten Mündigkeit aller Menschen doch jeder sein Recht auf wirtschaftliche Existenz erhält? Die bei uns dominierende marktwirtschaftliche Lösung basiert auf einer verblüffend einfachen Überlegung: Daß es nämlich gegenüber dem Egoismus des einzelnen einen starken natürlichen Feind gibt, - den Egoismus der anderen. Die Bedürfnisnot des einen ist zwar jeweils die Chance zum Vorteil des anderen, die dieser auch kräftig auszunutzen versucht. Werden nun die sozialen Zusammenhänge aber so eingerichtet, daß solche Vorteilschancen möglichst vielen egoistisch Strebenden bekannt gemacht werden, ohne daß sie von den Bemühungen untereinander wissen, dann ergibt sich die eigenartige Situation, daß es für jeden Vorteil mehr Anwärter und damit höhere Vorteilserwartungen gibt, als der tatsächlich mögliche Vorteil ausmacht. Die Folge ist ein Wettbewerb derjenigen, die sich einfinden, den Vorteil für sich in Anspruch zu nehmen. Der Ausgang dieser gnadenlosen Konkurrenz ist ein Pyrrhus-Sieg; ihn erringt, wer das größte Stück des ursprünglich erhofften Vorteils aufgibt, da ja der Bedürfnisträger beliebig unter den Wettbewerbern wählen kann und natürlich den billigsten bevorzugt. Der Nutznießer der Konkurrenz der Verkäufer ist der Käufer und umgekehrt. Zusammengefaßt kann man sagen: Je mehr sich jeder Egoist anstrengt und damit leistet, umso größer wird das Wohl der Gesamtheit, vorausgesetzt, diese schafft und hütet die Bedingungen des Wettbewerbes, durch den die Gesamtheit erbeutet, was der Einzelne begehrte. Diese Bedingungen der Konkurrenz bilden in ihrer Gesamtheit das System der Freien Marktwirtschaft: Transparenz der Märkte (d. h. Erkennbarkeit der Gewinnchancen), freie Zugänglichkeit der Märkte (d. h. jeder darf versuchen, sich den in Aussicht stehenden Vorteil zu verschaffen), Atomisierung der Interessen (d. h. es sollte möglichst viele verschiedene Verkäufer und Käufer geben, damit es ausreichend Wettbewerb gibt), bewußtseinsmäßige Isolation aller Teilnehmer (d. h. keiner sollte von den Absichten des anderen wissen - nur die Aussicht auf Gewinn ist allen gemeinsam), keine Bevorzugungen durch Macht, Absprachen usw.

Bei der Auflistung solcher Bedingungen wird deutlich, daß der Marktwirtschaftsgedanke aus der Bewußtseinsverengung des Egoismus eine soziale Pflicht macht. Der soziale Ausgleich findet als Vorteilsverkehrung durch den Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage außerhalb eines individuellen Bewußtseins statt, wie von «unsichtbarer Hand» bewirkt, vorausgesetzt, alle halten sich an die Pflicht zum Egoismus. In solcher Gedankenrichtung liegt es, wenn deshalb Marktwirtschafter immer wieder vor Eingriffen in diesen komplizierten Preismechanismus aufgrund sozialer Vorstellungen und Wünsche warnen, da der Mechanismus selbst die soziale Balance bewirke. [5]

Die Lösung der Marktwirtschaft scheint tatsächlich unüberbietbar genial: Niemand muß sein egoistisches Verhalten ändern oder sich gar Vorwürfe darüber machen; keiner muß dem anderen mit dem sozialmoralischen Zeigefinger drohen; und vor allem braucht man sich über die Komplexität der sozialen Fragen keine Gedanken zu machen. Die einzige Bedingung ist die Unterwerfung unter die Pflicht zum marktwirtschaftlichen Verhalten! Dann wird durch den Wettbewerb die Gemeinschaft schon zu ihrem Recht kommen. Ist nicht der gegenwärtige allgemeine Wohlstand das beste Zeugnis für die Richtigkeit dieser Theorie?

Die Höhe des Wohlstands macht eine Argumentation dagegen recht schwer. Denn der Beweis der Marktwirtschaft wird rein quantitativ geführt. Für den mündigen Menschen aber tritt das Ergebnis hinter die Art und Weise, wie es erreicht wurde, zurück. Auf dem Weg dorthin zeigt sich, wie weit das Ergebnis Ausdruck eines bewußten Wollens ist; denn ohne ein engagiertes Bewußtsein der Hervorbringer kann von Verantwortung und damit von Mündigkeit keine Rede sein. Hat die Menschheit sich wirklich nur deshalb von der Führung übermenschlicher Mächte losgemacht, um sich einem reinen Mechanismus unbewußt zu unterwerfen? Das soziale Modell der Marktwirtschaft ist von daher betrachtet ein Anachronismus! Denn in ihm besteht das Soziale darin, die wirtschaftliche Existenz aller als Grundlage ihrer Mündigkeit durch die Entmündigung des Einzelnen zu sichern.

Soll das Heil der Gesamtheit zusammenarbeitender Menschen den Egoismus als Motiv wirtschaftlichen Handelns ablösen, so muß sich das Bewußtsein des Einzelnen auch auf diese Gesamtheit erweitern können. In einem arbeitsteiligen Zusammenhang, in dem jeder nur einen kleinen Teil des Ganzen tätig ausfüllt, müssen, im Gegensatz zur marktwirtschaftlichen Isolierung, die sozialen Verbindungslinien durchschaubar und erlebbar werden. Indem sich die verschiedenen Interessen, vom Produzenten bis zum Konsumenten, assoziativ zusammenfinden, ergibt sich im Zusammenklingen der Erfahrungen erst ein Gesamturteil über soziale Vorgänge. Assoziative Menschengemeinschaften werden zu ganzheitlichen Wahrnehmungsorganen als Grundlage sozialer Urteilsbildungen, an denen sich wiederum das bewußte Wollen des einzelnen entzünden kann. Arbeiten auf diese Weise die Repräsentanten sozial unterschiedlicher Wirkensfelder zusammen, dann stellt sich nicht mehr die Frage nach einem Steuerungsmechanismus, sondern in ihrer Tätigkeit liegt bereits Steuerung, nicht aus dem Unbewußten, sondern aus dem Bewußtsein der Gesamtheit. Kurz nachdem im Jahre 1918 Silvio Gesell - in Verkennung der Stellung und Entwicklungsmöglichkeit menschlichen Bewußtseins - dieses als soziale Instanz ablehnt und zum unbewußten Marktmechanismus Zuflucht nimmt, setzt Rudolf Steiner den mündigen Menschen in seine sozialen Rechte ein: «Eine Universalarznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt es so wenig wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeiten sättigt. Aber die Menschen können in solche Gemeinschaften eintreten, daß durch ihr lebendiges Zusammenwirken dem Dasein immer wieder die Richtung zum Sozialen gegeben wird.» [6] Assoziationen sind solche Menschengemeinschaften der in den wirtschaftlichen Vorgängen Tätigen. In ihnen kann der einzelne sein Bewußtsein über den ganzen sozialen Prozeß hin erweitern.

Dennoch reicht diese Bewußtseinserweiterung auf die wirtschaftlichen Vorgänge einer Gesamtheit zusammenarbeitender Menschen nicht aus. Denn Bedürfnisbefriedigung allein kann ja kein Selbstzweck sein. «Wenn ein Mensch für einen anderen arbeitet, dann muß er in diesem anderen den Grund zu seiner Arbeit finden; und wenn jemand für die Gesamtheit arbeiten soll, dann muß er den Wert, die Wesenheit und Bedeutung dieser Gesamtheit empfinden und fühlen.» Die Gesamtheit «muß von einem wirklichen Geiste erfüllt sein, an dem jeder Anteil nimmt. Sie muß so sein, daß ein jeder sich sagt: sie ist richtig, und ich will, daß sie so ist. Die Gesamtheit muß eine geistige Mission haben; und jeder einzelne muß beitragen wollen, daß diese Mission erfüllt werde.» [7] Eine geistige Mission kann im Zeitalter der Freiheit nicht mehr aus den unterbewußten Strömungen unserer Leiblichkeit kommen, wie z.B. im Aufleben der Nationalismen, sondern allein aus einem geistig Erkannten. Erkenntnis läßt sich nicht durch Interessen oder organisatorische Besonderheiten einfangen, sondern sie ist menschheitlich verbindend. Indem sie sich den Besonderheiten zuwendet und sie als solche erkennt, weist sie ihnen ihren Platz innerhalb der Menschheitsbestrebungen zu und gibt ihnen damit ihre Existenzberechtigung zurück. Geistige Missionen haben im Gegensatz zu «leiblichem» Missionen immer die Verträglichkeit mit dem Menschheitsfortschritt in sich. Erkenntnis darf dann aber nicht an der Oberfläche eines Wirtschaftslebens «an sich» haften bleiben, sondern muß auch das Wissen um die Realität der Geistwelt, um Entwicklung und Schicksal von Menschen und Gemeinschaften einschließen. Das Anteilnehmen am Menschheitsstreben gibt die geistige Grundlage für das Erleben der Menschheit als Bruderschaft, deren bürgerliche Existenzbedingungen in den allgemeinen Menschenrechten aufleben.

Der wirtschaftlich-sozialen Bewußtseinserweiterung muß eine entsprechende in Richtung der geistigen Untergründe der Menschheitsentwicklung folgen: Einen festen Standort aber wird erst erhalten, wer seine Individualität selbst in ihrer Geistwirklichkeit begreifen und erfahren lernt. Auf dem Wege der seelischen Beobachtung findet der Mensch im Denken eine Seelentätigkeit, die zwar durch und durch eigene innerste Aktivität ist, inhaltlich aber gar nichts Persönliches hat, sondern den den Sinneseindrücken fehlenden Geistanteil der Erscheinungen selbstlos-unverfälscht in uns zum Vorschein bringt und sich damit als individuelle Anteilnahme an der Weltengeistigkeit erweist. Da denkendes Bewußtsein durch die Art seines Auftretens als unser eigenes Tun immer zugleich Selbstbewußtsein ist, kann eine dem Erkenntnisgegenstand zugewandte Handlung aus Erkenntnis zugleich als aus unserem innersten Zentrum entsprungen und gewollt erlebt werden. Es zeigt sich sogar, daß nur in diesem Fall einer Handlung aus Erkenntnis mit Recht von menschlicher Freiheit gesprochen werden kann. Freiheitsliebe setzt Liebe zur Erkenntnis voraus. In dem Maße, wie wir die Erkenntnis zum ausschlaggebenden Faktor unserer Handlungen machen, übernimmt das Denken die Führerschaft in unserer Seele, der es bis anhin als treuer Verstandesknecht zur Erfüllung ihrer Begierden dienen mußte. Damit ist ein neuer Quellort menschlicher Handlungsmotive erschlossen, vor dem der Egoismus seine drängende Kraft verliert und das ihm jeweils zugrunde liegende Begehren sich in die Reihe der für das Verstehen einer Situation notwendigen Wahrnehmungen einordnet. (Ein häufiger Einwand ist die Ansicht, daß nur ein Trieb wie der Egoismus den Menschen zur Arbeit bringt; fehle er, so müsse Arbeitszwang herrschen und damit der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden. Wer so die Alternative zwischen innerem und äußerem Zwang stellt, übersieht, daß der Mensch seinen Willen auch an seiner Einsicht entzünden kann und damit nicht nur das Tor zur Freiheit weit aufstößt, sondern auch dem Egoismus eine höhere, ihn überwindenkönnende Kraft entgegenstellt. Unser ganzes Sozialgefüge ruht praktisch auf dem Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit unserer Mitmenschen, die es im Wirtschaftsleben angeblich nicht geben soll.)

Die Erweiterung des Bewußtseins über den ganzen sozialen Organismus durch das Organ der Assoziationen bildet die Grundlage eines Wirtschaftens aus Interesse am Heil einer Gesamtheit von Menschen. Die Erweiterung des Bewußtseins auf die geistige Mission einer Gemeinschaft gliedert diese der Menschheit ein. Dieses Bruderschaftsbewußtsein ist der Wurzelgrund der Gleichheit. Die Erweiterung des Bewußtseins auf die Art der individuellen Anteilnahme am geistigen Weltgeschehen eröffnet dem Einzelnen die Freiheit als Lebenswirklichkeit der Individualität. Von hier aus erschließt sich die Lebenspraxisnähe des Sozialen Hauptgesetzes.

Das Soziale Hauptgesetz - die Verwandlung des Egoismus

Durch unsere wertebildenden Fähigkeiten und werteauflösenden Bedürfnisse sind wir zweifach mit der Gesamtheit unserer Mitarbeiter verbunden. Die Arbeitsteilung lenkt diese beiden Verbindungsströme so, daß in der letzten Konsequenz alle meine Fähigkeiten im Dienste von Leistungen für andere stehen und meine Bedürfnisse durch die Leistungen anderer befriedigt werden. Auf diese Lenkungseigenschaft der Arbeitsteilung stützt sich zunächst das Soziale Hauptgesetz.

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß in einer arbeitsteiligen Wirtschaft selbst der krasseste Egoist gezwungen ist, seinen Vorteil über den Umweg der Erzeugung von Leistungen zu suchen, die möglichst genau den Bedürfnissen anderer Menschen entsprechen. Die Arbeitsteilung führt aber auch zur größtmöglichen Verbilligung aller auszutauschenden Leistungen. Mit dem Eintritt in die Menschheits-Institution «Arbeitsteilung» endet die Macht des egoistisch-persönlichen Motivs auf der Leistungsseite und wird verwandelt in die altruistische Wirkung der Förderung des Wohles der Gesamtheit. Noch befreit vom eigenen Bedürfnisanspruch offenbart unser Fähigkeitswesen seinen selbstlosen Charakter.

Anders verhält es sich mit unseren Bedürfnissen, die ja schon ihrer Natur nach begehrend-egoistisch auftreten. Wo sie auf den von den Fähigkeiten ausgehenden Leistungsstrom treffen, da findet der Egoismus den Stoff zu seiner Bereicherung. Dreimal treffen Leistungen und Bedürfnisse aufeinander: Im Verkauf, wo meine Leistungen auf die Bedürfnisse anderer treffen; im Kauf, wo meine Bedürfnisse auf die Leistungen anderer treffen. In Verkauf und Kauf handelt es sich darum, das Austauschverhältnis von Leistungen, den Preis, zu bestimmen. Das aber betrifft ja nicht nur den Einzelnen. Die Richtigkeit der Preise, ihre «Gerechtigkeit», kann daher nur assoziativ behandelt werden. (Der Preis ist damit weder Ergebnis eines Marktmechanismus wie in der freien Marktwirtschaft, noch ein politisches Postulat wie in den Planwirtschaften, sondern ,wird zum als Zielgröße dienenden sozialen Urteil. Auf eine weitergehende Erörterung der Preisfrage muß hier verzichtet werden. Ohne neue Lösung des Preisproblems läßt sich die Lohnfrage letztlich nicht lösen.)

Die dritte Begegnung findet dagegen innerhalb beider Preisgrenzen im Einflußbereich jedes einzelnen statt. Hier wandelt sich die Preisfrage zur Lohnfrage: Wieviel soll oder darf ich aus den Erträgnissen meiner Leistungen für mich beanspruchen? Der Egoist fordert so viel als möglich. Der sich für die Gesamtheit seiner Mitarbeiter mitverantwortlich wissende und fühlende, mündige Mensch steht vor einer schwierigen Entscheidung. Soll er bedürfnislos werden, Askese üben? Und wo endet dieser Weg, wenn nicht in der Selbstzerstörung? Oder soll er die Zuteilung den Mitarbeitern überlassen? Und wonach sollen sich diese richten, wenn nicht nach seinen Wünschen? «Was einer wirklich braucht, kann nur er wissen und empfinden; was er leisten soll, will er aus seiner Einsicht in die Lebensverhältnisse des Ganzen beurteilen.» [8] Die damit angesprochene Freiheit und die Selbstlosigkeit gleichzeitig wahrnehmen zu wollen, scheint in eine moralische Sackgasse zu führen.

Das Problem löst sich erst, wenn die Begegnung von Fähigkeiten und Bedürfnissen auf eine neue Grundlage gestellt wird. Bisher wurde die Beziehung zwischen beiden üblicherweise so angesehen, daß der Grund meiner Arbeit und des damit verbundenen Bemühens, Erträgnisse für meine Leistungen zu erzielen, in der Notwendigkeit liegt, meine Bedürfnisse befriedigen zu können. Diese Anschauung ist noch ganz von der Sicht des Egoismus geprägt. Kann ich dagegen das Motiv meines wirtschaftlichen Wollens an den Bedürfnissen anderer Menschen entzünden, wie dies im vorigen Abschnitt anzudeuten versucht wurde, dann kehrt sich das Verhältnis von Fähigkeit und Bedürfnis um: Ich benötige die Mittel zu meiner Bedürfnisbefriedigung, um die den anderen zugedachte und von ihnen gewünschte Leistung erbringen zu können. Der Lohn wird zum Produktionskredit, die Konsumgüter bekommen den Charakter der Produktionsmittel, das Aufgeben des Anspruchs an die Erträgnisse meiner Leistungen wird zur Rückzahlung des «Lohnkredites». Es ist wie beim Kreditantrag: Nicht wieviel einer beansprucht, ist das Entscheidende, sondern was das erhoffte Ergebnis der Gemeinschaft bedeutet. Der «Kreditlohn» ist das Tor, durch das unser Fähigkeitswesen in die soziale Gemeinschaft hereintritt und hereingebeten wird, denn seine Wirksamkeit liegt im Interesse dieser Gesamtheit. Das Bedürfnis und damit der ihm notwendigerweise zugrunde liegende Egoismus sind damit nicht verschwunden, sondern dem Wohl der Gesamtheit nutzbar gemacht. Das Bedürfnis erhält eine neue Bedeutung, wird zum Träger unserer Produktivitätsentfaltung und nimmt damit an der unegoistischen Wesenheit unseres Fähigkeitsquells teil. Der Altruismus ist soziale Bildekraft geworden.

Damit aber hat sich nicht nur das Wohl der Gesamtheit zusammenarbeitender Menschen verbessert. Das Zusammenwirken hat eine neue menschliche und soziale Qualität erhalten, in dem der Egoismus und damit das Wirtschaftsleben in eine den geistigen Fortschritt der Menschheit fördernde Kraft verwandelt wurde. Das Wohl hat sich zum Heil gesteigert.

Die Wirklichkeit der Brüderlichkeit

Es wurde bereits gezeigt, welche zerstörerische Wirkung das wirtschaftliche Prinzip - mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag erreichen - für die Gemeinschaft hat, wenn es aus seinem angestammten Platz im Leistungsbereich in die soziale Ebene versetzt wird. Es zeigt sich dort als unverhüllter Ausdruck des Egoismus, dessen Zwangscharakter sich durch die Form des Prinzips als Handlungsmaxime der reinen Marktwirtschaft zeigt. Deshalb ist es mit freiem Menschentum unvereinbar. Ganz anders das Soziale Hauptgesetz. Es hat nur beschreibenden Charakter. Nicht wie man sich verhalten soll, wird ausgesagt, sondern auf die Konsequenzen unseres Verhaltens wird aufmerksam gemacht. Es handelt sich also um ein soziales Schicksalsgesetz: Wie sich der Einzelne entschließt, ist ganz in seine Freiheit gestellt, - die Folgen seines Verhaltens dagegen sind es nicht. Darin zeigt sich die neue Verantwortung des Menschen für das Gemeinschaftsleben.

«Je mehr der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen an seine Mitarbeiter abgibt, umso größer ist das Heil der Gesamtheit zusammenarbeitender Menschen» - wer sich so verhält, wendet das wirtschaftliche Prinzip um, vom Gesichtspunkt des Einzelwohls zu dem des Heils der Gesamtheit. Diese Gesamtheit im Spiegel seiner Seele zu erleben, daraus die Impulse seines wirtschaftlichen Handelns zu schöpfen und sie in die Gemeinschaft hineinzutragen, ist praktizierter Altruismus. Das Soziale Hauptgesetz fordert nicht die Pflicht zum Altruismus - dies wäre ein Widerspruch in sich -, aber es zeigt die Selbstlosigkeit als den wirkungsvollsten Förderer des Heiles der Gesamtheit. Der Altruismus als innere Entsprechung der äußerlichen Arbeitsteilung, die als Schule der Selbstlosigkeit bezeichnet wurde, tritt an die Stelle des Egoismus, diesen an Entbindung von Produktivitätskräften der einzelnen überbietend. Die Selbstlosigkeit, d. h. das Motiv meines Handelns in den Bedürfnissen anderer zu suchen, führt im sozialen Leben zur Ausbildung der Brüderlichkeit, die damit neben die Freiheit und die Gleichheit tritt.

Wir können die Auswirkungen brüderlichen Verhaltens, wie sie das Soziale Hauptgesetz umfassend mit dem Wort «Heil» andeutet, für das soziale wie folgt zusammenfassen:

  1. Der einzelne verzichtet auf seinen Anspruch auf die Erträgnisse seiner Leistungen.
  2. Durch den Kreditcharakter des wird das Fähigkeitspotential des einzelnen zu zukünftiger Wirksamkeit aufgerufen.
  3. Die Erträgnisse der Leistungen stehen rückhaltlos den Mitarbeitern zur Verfügung.
  4. Preise können entstehen. Gerecht werden sie nur, wenn jeder seine Leistungsmöglichkeiten für die anderen voll entfaltet, ohne etwas zum eigenen Vorteil vorzuenthalten.
  5. Dadurch vergrößert sich das Heil der Ges.amtheit zusammenarbeitender Menschen.
  6. Im Tätigsein für andere und durch die Befreiung vom Ballast des Bedürfnisanspruchs kann der einzelne aus dem Quell seiner geistigen Freiheit handeln und bildet so gleichzeitig am geistigen Teil seiner Individualität.
  7. Es entsteht ein neues Bruderschaftsverhalten zwischen den zusammenarbeitenden Menschen, das im Zeichen einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft auch die ganze Menschheit umschließen will.

Seitdem unser Ich mündig geworden ist, lebt es nicht mehr aus der Kraft der Gemeinschaft, sondern die Gemeinschaft wird gebildet aus der Wirksamkeit der Iche. Die Brüderlichkeit, die sich bisher am schwersten tat, sozial in Erscheinung zu treten, hat ihre Wurzeln in der gelebten Freiheit jedes einzelnen und in der im Bewußtsein dieser Freiheit für alle Menschen sich gründenden Gleichheit. In dieser Dreiheit erfaßt sich der ganze Mensch in seiner ihm Würde verleihenden Mündigkeit.

Anmerkungen

[1] Ernst Winkler: Theorie der natürlichen Wirtschaftsordnung. Vita-Verlag Heidelberg, 1952, S. 11.

[2] Silvio Gesell: Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, R.-Zitzmann Verlag, Lauf, 1949, S. 20.

[3] A.a.O., S. 20, zitiert von ehr. Secretan.

[4] Rudolf Steiner: Nationaläkonomischer Kurs. GA340. Dornach 1979, S.47.

[5] Prof. Hayek: Gespräch mit Ludwig Erhard. Baseler Zeitung.

[6] Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage. GA23, Dornach 1961, S.14.

[7] Rudolf Steiner: Geisteswissenschaft und Soziale Frage. Einzelausgabe, Dornach 1968, S.36/37.

[8] Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage. A.a.O., S. 15.


Quelle: Das Soziale Hauptgesetz - Beiträge zum Verhältnis von Arbeit und Einkommen; Stuttgart 1986, Verlag Freies Geistesleben - auch enthalten in Schein-Marktwirtschaft. Die Unverkäuflichkeit von Arbeit, Boden und Kapital; Stuttgart 1997, Verlag Freies Geistesleben. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autoren und des Verlages.